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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Die ihr wie Tau geknickte Blüten ziert;
Gelehrte haben euch analysirt
In Kesseln und Retorten, o Verrat!
Da fanden sie gar wunderbare Sachen:
Salz, Wasser, Drnjenschleim und Kalkphosphat.
O Thränen -- Diamanten? -- Laßt mich lachen!

Mit diesem kaustischer Spott übergießt und zersetzt Nichepin alle Freuden
des Lebens und alle heiligen Empfindungen der Seele: Elternliebe und Jugend-
glück, Lachen und Lieben, Wissen und Streben, und doch kommt er schließlich
zu dein Ergebnis, daß man nur auf Erden das Paradies zu suchen habe.
Die ewigen Wiederholungen derselben Gedanken wirken zuletzt auf den Leser
wie das einförmige Summen eines Brummkreisels. Von echter dichterischer
Kruft zeugt in dieser Sammlung nur der Teil: I.ii olnmMn du sg.nZ, die er
auch, Victor Hugo nachahmend, als eine Legende der Jahrhunderte bezeichnet.
Er lauscht dem Rollen und Singen der Blutkörperchen in seinen Adern, und
aus jedem Kügelchen hört er einen Teil seiner Abstammungsgeschichte und
erkennt darin den Geist und das Leben eines seiner Vorfahren wieder. Er
hört darin die kreischende Stimme eines Hallenwcibes, die frivole Sprache
eines Marquis, die Philosophie eines Schülers von Descartes, das Brüllen
eines Seeräubers, die Lieder eines verbummelten Poeten. Sie raunen ihm
zu die Geständnisse eines Florentiner Malers, eines Zigeunermädchens, eines
Banditen, eines abenteuerlichen Eroberers; er hört aus seinem Blute die
Stimme eines Türken, eines Vampyrs, eines Gefolterten, eines Folterers,
eiues Scholaren, eines Mordbrenners; er fühlt in sich die Reste eines
Nomaden, eines Hunnen. Man sieht, es liegt dieser LiKlmson an sg.nA eine
tolle Träumerei zu Grunde, die sast an die Hallucinationen eines Wahn¬
sinnigen erinnern; und doch offenbart er gerade in diesen Liedern einen mäch¬
tigen Schwung der Phantasie und eine feurige, oft dithyrambische Sprache,
in der er bald die poetische Kraft eines Musset, Victor Hugo oder Lamartine
erreicht, bald den volkstümlichen Balladenton anzuschlagen weiß, und selbst
sein ausgesprochner Gegner, der Kritiker Brunetivre, kann nicht umhin, hier
seine Anerkennung, besonders über das Gedicht I^hö Uoin^ass, auszusprechen.
Dort, wo Nichepin die letzten Idole der Menschheit, Vernunft, Natur und
Fortschritt, angreift und zu zertrümmern sucht, führt er den ganzen Wirrwarr
seiner naturphilosophischen Ansichten ins Feld, die von unzähligen Erinnerungen
an Lucrez, Plinius, Juvenal, Darwin und Schopenhauer durchsetzt sind. So
kommt er denn auch in deu LlasxlivmLs zu dem pessimistischen Schluß: 0n
ki6 xsut trox Zvrair an nig,1nsur ä'tztre us.

Hatte Richepiu in seinen "Bettlerliedern" eine ganze Galerie von reali¬
stischen Studien, übermütigen Skizzen und fein durchgeführten Genrebildchen



Die ihr wie Tau geknickte Blüten ziert;
Gelehrte haben euch analysirt
In Kesseln und Retorten, o Verrat!
Da fanden sie gar wunderbare Sachen:
Salz, Wasser, Drnjenschleim und Kalkphosphat.
O Thränen — Diamanten? — Laßt mich lachen!

Mit diesem kaustischer Spott übergießt und zersetzt Nichepin alle Freuden
des Lebens und alle heiligen Empfindungen der Seele: Elternliebe und Jugend-
glück, Lachen und Lieben, Wissen und Streben, und doch kommt er schließlich
zu dein Ergebnis, daß man nur auf Erden das Paradies zu suchen habe.
Die ewigen Wiederholungen derselben Gedanken wirken zuletzt auf den Leser
wie das einförmige Summen eines Brummkreisels. Von echter dichterischer
Kruft zeugt in dieser Sammlung nur der Teil: I.ii olnmMn du sg.nZ, die er
auch, Victor Hugo nachahmend, als eine Legende der Jahrhunderte bezeichnet.
Er lauscht dem Rollen und Singen der Blutkörperchen in seinen Adern, und
aus jedem Kügelchen hört er einen Teil seiner Abstammungsgeschichte und
erkennt darin den Geist und das Leben eines seiner Vorfahren wieder. Er
hört darin die kreischende Stimme eines Hallenwcibes, die frivole Sprache
eines Marquis, die Philosophie eines Schülers von Descartes, das Brüllen
eines Seeräubers, die Lieder eines verbummelten Poeten. Sie raunen ihm
zu die Geständnisse eines Florentiner Malers, eines Zigeunermädchens, eines
Banditen, eines abenteuerlichen Eroberers; er hört aus seinem Blute die
Stimme eines Türken, eines Vampyrs, eines Gefolterten, eines Folterers,
eiues Scholaren, eines Mordbrenners; er fühlt in sich die Reste eines
Nomaden, eines Hunnen. Man sieht, es liegt dieser LiKlmson an sg.nA eine
tolle Träumerei zu Grunde, die sast an die Hallucinationen eines Wahn¬
sinnigen erinnern; und doch offenbart er gerade in diesen Liedern einen mäch¬
tigen Schwung der Phantasie und eine feurige, oft dithyrambische Sprache,
in der er bald die poetische Kraft eines Musset, Victor Hugo oder Lamartine
erreicht, bald den volkstümlichen Balladenton anzuschlagen weiß, und selbst
sein ausgesprochner Gegner, der Kritiker Brunetivre, kann nicht umhin, hier
seine Anerkennung, besonders über das Gedicht I^hö Uoin^ass, auszusprechen.
Dort, wo Nichepin die letzten Idole der Menschheit, Vernunft, Natur und
Fortschritt, angreift und zu zertrümmern sucht, führt er den ganzen Wirrwarr
seiner naturphilosophischen Ansichten ins Feld, die von unzähligen Erinnerungen
an Lucrez, Plinius, Juvenal, Darwin und Schopenhauer durchsetzt sind. So
kommt er denn auch in deu LlasxlivmLs zu dem pessimistischen Schluß: 0n
ki6 xsut trox Zvrair an nig,1nsur ä'tztre us.

Hatte Richepiu in seinen „Bettlerliedern" eine ganze Galerie von reali¬
stischen Studien, übermütigen Skizzen und fein durchgeführten Genrebildchen


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[0283] Die ihr wie Tau geknickte Blüten ziert; Gelehrte haben euch analysirt In Kesseln und Retorten, o Verrat! Da fanden sie gar wunderbare Sachen: Salz, Wasser, Drnjenschleim und Kalkphosphat. O Thränen — Diamanten? — Laßt mich lachen! Mit diesem kaustischer Spott übergießt und zersetzt Nichepin alle Freuden des Lebens und alle heiligen Empfindungen der Seele: Elternliebe und Jugend- glück, Lachen und Lieben, Wissen und Streben, und doch kommt er schließlich zu dein Ergebnis, daß man nur auf Erden das Paradies zu suchen habe. Die ewigen Wiederholungen derselben Gedanken wirken zuletzt auf den Leser wie das einförmige Summen eines Brummkreisels. Von echter dichterischer Kruft zeugt in dieser Sammlung nur der Teil: I.ii olnmMn du sg.nZ, die er auch, Victor Hugo nachahmend, als eine Legende der Jahrhunderte bezeichnet. Er lauscht dem Rollen und Singen der Blutkörperchen in seinen Adern, und aus jedem Kügelchen hört er einen Teil seiner Abstammungsgeschichte und erkennt darin den Geist und das Leben eines seiner Vorfahren wieder. Er hört darin die kreischende Stimme eines Hallenwcibes, die frivole Sprache eines Marquis, die Philosophie eines Schülers von Descartes, das Brüllen eines Seeräubers, die Lieder eines verbummelten Poeten. Sie raunen ihm zu die Geständnisse eines Florentiner Malers, eines Zigeunermädchens, eines Banditen, eines abenteuerlichen Eroberers; er hört aus seinem Blute die Stimme eines Türken, eines Vampyrs, eines Gefolterten, eines Folterers, eiues Scholaren, eines Mordbrenners; er fühlt in sich die Reste eines Nomaden, eines Hunnen. Man sieht, es liegt dieser LiKlmson an sg.nA eine tolle Träumerei zu Grunde, die sast an die Hallucinationen eines Wahn¬ sinnigen erinnern; und doch offenbart er gerade in diesen Liedern einen mäch¬ tigen Schwung der Phantasie und eine feurige, oft dithyrambische Sprache, in der er bald die poetische Kraft eines Musset, Victor Hugo oder Lamartine erreicht, bald den volkstümlichen Balladenton anzuschlagen weiß, und selbst sein ausgesprochner Gegner, der Kritiker Brunetivre, kann nicht umhin, hier seine Anerkennung, besonders über das Gedicht I^hö Uoin^ass, auszusprechen. Dort, wo Nichepin die letzten Idole der Menschheit, Vernunft, Natur und Fortschritt, angreift und zu zertrümmern sucht, führt er den ganzen Wirrwarr seiner naturphilosophischen Ansichten ins Feld, die von unzähligen Erinnerungen an Lucrez, Plinius, Juvenal, Darwin und Schopenhauer durchsetzt sind. So kommt er denn auch in deu LlasxlivmLs zu dem pessimistischen Schluß: 0n ki6 xsut trox Zvrair an nig,1nsur ä'tztre us. Hatte Richepiu in seinen „Bettlerliedern" eine ganze Galerie von reali¬ stischen Studien, übermütigen Skizzen und fein durchgeführten Genrebildchen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/283>, abgerufen am 23.07.2024.