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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart

Heuchler und Dummköpfe, die von Recht, Eigentum, Familie, Gesellschaft,
Sittlichkeit und dergleichen Dingen den Mund voll nehmen.

Es wäre thöricht, Richepin in seinen ungeheuerlichen Gedankcugüngeu
widerlegen zu Wollen, denn seine "Blasphemien" sind weiter nichts, als ver¬
zweifelte Ringkampfe eines tollgewordenen Menschen mit den Sternbildern am
Himmel. Mau sieht den Athleten, wie er alle Sehnen, Nerven und Muskeln
zu gewaltiger Kraftleistung anspannt, wie er ungestüm vordringt, mit den
Armen in die Luft greift, keucht und schwitzt, wie er alle Stellungen einnimmt,
die ein Ringkämpfer bei seiner Arbeit einzunehmen Pflegt; man erstaunt viel¬
leicht über seine Gewandtheit und Fertigkeit, aber man wird dabei den Ein¬
druck eines sehr komischen Schauspiels doch uicht los. Seine "Blasphemien"
müßten in der That auch langweilig wirken, wenn sie nicht dnrch ihre gro¬
teske, kaum wiederzugebende Ausdrucksweise die Heiterkeit des Lesers heraus¬
forderten; ein einigermaßen zahmes Beispiel mag hier stehen:


Niüs CVS tÄux ÄMvtits, ostts soll tömvriurs
D'intim, ü'iügg,!, ,jg Iss Isur or",vllo aux iuzü
2t val" leur soukltsr an ont pour imo äistrairs!

Allerdings eine sehr poetische Zerstreuung für einen materialistischen Dichter.

Er flucht den Frühlingssängern, die den April fortwährend angröhlen;
anch seine Bienen seien ausgeflogen, um das Ideal, das Gebet, das Schöne,
das Wahre, das Gute, die Liebe und andre Illusionen zu suchen, aber sie
seien mit bittern Säften zurückgekehrt. Fast alle seine Lonnsts -ümm's sind
auf eine verblüffende Pointe aufgebaut; er hat sich auch in dieser Kunst Cyrano
Bergerne zum Muster genommen, der in seiner Lobrede auf die Pointe sagt:
"Wenn es nötig ist, daß man um einer Pointe willen aus einem schönen
Dinge ein häßliches macht, so kaun eine solche seltsame und schnelle Ver¬
wandlung ohne Gewissensbisse ausgeführt werden, und immer hat mans gut
gemacht, wenn mans nur gut gesagt hat. Man wägt die Dinge nicht ab;
wenn sie nur glänzend in die Augen springen, so ist alles vortrefflich!"

Nach diesem Rezept scheint Nichepin die fünfundzwanzig "bittern Sonette"
gedichtet zu haben, die den zweiten Teil seiner "Blasphemien" bilden. Unter
ihnen ist eines der besten das Sonett ^lui/Sö; der darin behandelte Gedanke
von der Nichtigkeit der Thränen ist allerdings nicht neu, aber gerade die Art
der Ausführung ist für Nichepiu sehr charakteristisch:


O Thränen, die wir oft Erlöser nannten
Vom Gram, der wolkengleich herniedersinkt
Und mit Gewittersturm auch Regen bringt, --
O schönster Trank, den je Verliebte kannten,
Wenn durst'ge Lippen, die vor Wollust brannten,
Dich schlürften, wie die Sonne, glutumringt,
Den Regenbogen mit der Wolke trinkt --
O Thränen! meines Herzens Diamanten,

Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart

Heuchler und Dummköpfe, die von Recht, Eigentum, Familie, Gesellschaft,
Sittlichkeit und dergleichen Dingen den Mund voll nehmen.

Es wäre thöricht, Richepin in seinen ungeheuerlichen Gedankcugüngeu
widerlegen zu Wollen, denn seine „Blasphemien" sind weiter nichts, als ver¬
zweifelte Ringkampfe eines tollgewordenen Menschen mit den Sternbildern am
Himmel. Mau sieht den Athleten, wie er alle Sehnen, Nerven und Muskeln
zu gewaltiger Kraftleistung anspannt, wie er ungestüm vordringt, mit den
Armen in die Luft greift, keucht und schwitzt, wie er alle Stellungen einnimmt,
die ein Ringkämpfer bei seiner Arbeit einzunehmen Pflegt; man erstaunt viel¬
leicht über seine Gewandtheit und Fertigkeit, aber man wird dabei den Ein¬
druck eines sehr komischen Schauspiels doch uicht los. Seine „Blasphemien"
müßten in der That auch langweilig wirken, wenn sie nicht dnrch ihre gro¬
teske, kaum wiederzugebende Ausdrucksweise die Heiterkeit des Lesers heraus¬
forderten; ein einigermaßen zahmes Beispiel mag hier stehen:


Niüs CVS tÄux ÄMvtits, ostts soll tömvriurs
D'intim, ü'iügg,!, ,jg Iss Isur or«,vllo aux iuzü
2t val» leur soukltsr an ont pour imo äistrairs!

Allerdings eine sehr poetische Zerstreuung für einen materialistischen Dichter.

Er flucht den Frühlingssängern, die den April fortwährend angröhlen;
anch seine Bienen seien ausgeflogen, um das Ideal, das Gebet, das Schöne,
das Wahre, das Gute, die Liebe und andre Illusionen zu suchen, aber sie
seien mit bittern Säften zurückgekehrt. Fast alle seine Lonnsts -ümm's sind
auf eine verblüffende Pointe aufgebaut; er hat sich auch in dieser Kunst Cyrano
Bergerne zum Muster genommen, der in seiner Lobrede auf die Pointe sagt:
„Wenn es nötig ist, daß man um einer Pointe willen aus einem schönen
Dinge ein häßliches macht, so kaun eine solche seltsame und schnelle Ver¬
wandlung ohne Gewissensbisse ausgeführt werden, und immer hat mans gut
gemacht, wenn mans nur gut gesagt hat. Man wägt die Dinge nicht ab;
wenn sie nur glänzend in die Augen springen, so ist alles vortrefflich!"

Nach diesem Rezept scheint Nichepin die fünfundzwanzig „bittern Sonette"
gedichtet zu haben, die den zweiten Teil seiner „Blasphemien" bilden. Unter
ihnen ist eines der besten das Sonett ^lui/Sö; der darin behandelte Gedanke
von der Nichtigkeit der Thränen ist allerdings nicht neu, aber gerade die Art
der Ausführung ist für Nichepiu sehr charakteristisch:


O Thränen, die wir oft Erlöser nannten
Vom Gram, der wolkengleich herniedersinkt
Und mit Gewittersturm auch Regen bringt, —
O schönster Trank, den je Verliebte kannten,
Wenn durst'ge Lippen, die vor Wollust brannten,
Dich schlürften, wie die Sonne, glutumringt,
Den Regenbogen mit der Wolke trinkt —
O Thränen! meines Herzens Diamanten,

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[0282] Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart Heuchler und Dummköpfe, die von Recht, Eigentum, Familie, Gesellschaft, Sittlichkeit und dergleichen Dingen den Mund voll nehmen. Es wäre thöricht, Richepin in seinen ungeheuerlichen Gedankcugüngeu widerlegen zu Wollen, denn seine „Blasphemien" sind weiter nichts, als ver¬ zweifelte Ringkampfe eines tollgewordenen Menschen mit den Sternbildern am Himmel. Mau sieht den Athleten, wie er alle Sehnen, Nerven und Muskeln zu gewaltiger Kraftleistung anspannt, wie er ungestüm vordringt, mit den Armen in die Luft greift, keucht und schwitzt, wie er alle Stellungen einnimmt, die ein Ringkämpfer bei seiner Arbeit einzunehmen Pflegt; man erstaunt viel¬ leicht über seine Gewandtheit und Fertigkeit, aber man wird dabei den Ein¬ druck eines sehr komischen Schauspiels doch uicht los. Seine „Blasphemien" müßten in der That auch langweilig wirken, wenn sie nicht dnrch ihre gro¬ teske, kaum wiederzugebende Ausdrucksweise die Heiterkeit des Lesers heraus¬ forderten; ein einigermaßen zahmes Beispiel mag hier stehen: Niüs CVS tÄux ÄMvtits, ostts soll tömvriurs D'intim, ü'iügg,!, ,jg Iss Isur or«,vllo aux iuzü 2t val» leur soukltsr an ont pour imo äistrairs! Allerdings eine sehr poetische Zerstreuung für einen materialistischen Dichter. Er flucht den Frühlingssängern, die den April fortwährend angröhlen; anch seine Bienen seien ausgeflogen, um das Ideal, das Gebet, das Schöne, das Wahre, das Gute, die Liebe und andre Illusionen zu suchen, aber sie seien mit bittern Säften zurückgekehrt. Fast alle seine Lonnsts -ümm's sind auf eine verblüffende Pointe aufgebaut; er hat sich auch in dieser Kunst Cyrano Bergerne zum Muster genommen, der in seiner Lobrede auf die Pointe sagt: „Wenn es nötig ist, daß man um einer Pointe willen aus einem schönen Dinge ein häßliches macht, so kaun eine solche seltsame und schnelle Ver¬ wandlung ohne Gewissensbisse ausgeführt werden, und immer hat mans gut gemacht, wenn mans nur gut gesagt hat. Man wägt die Dinge nicht ab; wenn sie nur glänzend in die Augen springen, so ist alles vortrefflich!" Nach diesem Rezept scheint Nichepin die fünfundzwanzig „bittern Sonette" gedichtet zu haben, die den zweiten Teil seiner „Blasphemien" bilden. Unter ihnen ist eines der besten das Sonett ^lui/Sö; der darin behandelte Gedanke von der Nichtigkeit der Thränen ist allerdings nicht neu, aber gerade die Art der Ausführung ist für Nichepiu sehr charakteristisch: O Thränen, die wir oft Erlöser nannten Vom Gram, der wolkengleich herniedersinkt Und mit Gewittersturm auch Regen bringt, — O schönster Trank, den je Verliebte kannten, Wenn durst'ge Lippen, die vor Wollust brannten, Dich schlürften, wie die Sonne, glutumringt, Den Regenbogen mit der Wolke trinkt — O Thränen! meines Herzens Diamanten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/282>, abgerufen am 23.07.2024.