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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart

Dichters wie Sully Prudhvmme hingewiesen hat? Aber Geister, die sich nicht
in irgend eine Schule einschachteln lassen, aus deren Verherrlichung die mo¬
dernen Litteraturträger in Deutschland kein Kapital schlagen können, haben
immer um ihre Anerkennung kämpfen müssen. Zeigt sich überdies auch noch
die Kritik über den Wert des Dichters nicht einig, so hat er trotz aller Vor¬
trefflichkeit ein schweres Ringen auszuhalten.

Noch auffallender ist es, daß selbst französische Schriftsteller wie Jean
Richepin, der den jungdeutschen Chorführern in vielen Zügen als ein Gleich¬
gesinnter erscheinen müßte, nur von sehr wenigen wirklich gekannt wird. Jean
Richepin gehört zu jenen verneinenden Geistern, die sich den Grundsatz:
LoWä^lissr 1e donrgsois zur Losung gemacht haben; aber bei aller Lust am
Zerstören besitzt er wenigstens schöpferische Kraft genug, um seinen Platz unter
den ersten Schriftstellern der Gegenwart zu behaupten. Richepin läßt sich
keiner litterarischen Gruppe einreihen, denn bald zählt ihn die Kritik zu den
Parnassiens, bald zu den Symbolisten, bald schiebt sie ihn als verspäteten
Nachzügler zu den Romantikern oder sogar zu den Klcissizisten und Schülern
eines Boileau.

Auch über seine Fähigkeiten und seine Leistungen sind die Kunstrichter
nicht einig; so sagt der Führer der impressionistischen Kritik, Jules Lemaitre,
von ihm: "Jean Richepin besitzt vor allein in seinen Versen Wohlklang, Fülle,
lebendige Farbe, einen festen Plan und eine ausgezeichnete Sprache, die man
wahrhaft klassisch nennen kann. Er ist der letzte unter unsern Dichtern, der,
wenn er will, in der Lyrik über einen mächtigen Lebensodem und über einen
breiten, gewaltigen Strom seiner Gedanken verfügt. Er ist der einzige, der
seit Lamartine und Victor Hugo Oden geschrieben hat, die diesen Namen
wirklich verdienen, der einzige, dem der Atem nicht vor dem Schlüsse aus¬
geht; und zu gleicher Zeit hat dieser begeisterte Rhetoriker Lieder vou so
wunderbarer Klangschönheit gedichtet, daß man sie geradezu den Volksliedern
an die Seite stellen könnte -- mit einem Worte, er ist ein großer Dichter!"

Gerade das Gegenteil von dieser Lobpreisung giebt uns der Kritiker der
Kvvus clss clsux Noneles, Ferdinand Vrunetiüre, wenn er von Richepin be¬
hauptet, er besitze von einem Dichter weiter nichts als das Temperament; er
habe weder Geschmeidigkeit des Ausdrucks, noch Tiefe der Empfindung, weder
Schwung der Phantasie, noch Sympathie, d. h. jene unschätzbare Gabe, den
Dingen nachzufühlen und das innere Erbeben in seine Verse hinüberzuleiten.
Richepin sei nur ein halber Dichter.

Man muß in der That an diesen Schriftsteller einen andern Maßstab
legen, als den dieser beiden Kritiker. Es wäre auch falsch, Richepin als einen
Vertreter der sogenannten Dscadenee zu bezeichnen, denn die Eigentümlich¬
keiten seines dichterischen Wesens, die krankhaft sinnliche Richtung seiner Em¬
pfindungen, die alles zersetzende Schürfe seiner Gedanken, die sich zuweilen


Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart

Dichters wie Sully Prudhvmme hingewiesen hat? Aber Geister, die sich nicht
in irgend eine Schule einschachteln lassen, aus deren Verherrlichung die mo¬
dernen Litteraturträger in Deutschland kein Kapital schlagen können, haben
immer um ihre Anerkennung kämpfen müssen. Zeigt sich überdies auch noch
die Kritik über den Wert des Dichters nicht einig, so hat er trotz aller Vor¬
trefflichkeit ein schweres Ringen auszuhalten.

Noch auffallender ist es, daß selbst französische Schriftsteller wie Jean
Richepin, der den jungdeutschen Chorführern in vielen Zügen als ein Gleich¬
gesinnter erscheinen müßte, nur von sehr wenigen wirklich gekannt wird. Jean
Richepin gehört zu jenen verneinenden Geistern, die sich den Grundsatz:
LoWä^lissr 1e donrgsois zur Losung gemacht haben; aber bei aller Lust am
Zerstören besitzt er wenigstens schöpferische Kraft genug, um seinen Platz unter
den ersten Schriftstellern der Gegenwart zu behaupten. Richepin läßt sich
keiner litterarischen Gruppe einreihen, denn bald zählt ihn die Kritik zu den
Parnassiens, bald zu den Symbolisten, bald schiebt sie ihn als verspäteten
Nachzügler zu den Romantikern oder sogar zu den Klcissizisten und Schülern
eines Boileau.

Auch über seine Fähigkeiten und seine Leistungen sind die Kunstrichter
nicht einig; so sagt der Führer der impressionistischen Kritik, Jules Lemaitre,
von ihm: „Jean Richepin besitzt vor allein in seinen Versen Wohlklang, Fülle,
lebendige Farbe, einen festen Plan und eine ausgezeichnete Sprache, die man
wahrhaft klassisch nennen kann. Er ist der letzte unter unsern Dichtern, der,
wenn er will, in der Lyrik über einen mächtigen Lebensodem und über einen
breiten, gewaltigen Strom seiner Gedanken verfügt. Er ist der einzige, der
seit Lamartine und Victor Hugo Oden geschrieben hat, die diesen Namen
wirklich verdienen, der einzige, dem der Atem nicht vor dem Schlüsse aus¬
geht; und zu gleicher Zeit hat dieser begeisterte Rhetoriker Lieder vou so
wunderbarer Klangschönheit gedichtet, daß man sie geradezu den Volksliedern
an die Seite stellen könnte — mit einem Worte, er ist ein großer Dichter!"

Gerade das Gegenteil von dieser Lobpreisung giebt uns der Kritiker der
Kvvus clss clsux Noneles, Ferdinand Vrunetiüre, wenn er von Richepin be¬
hauptet, er besitze von einem Dichter weiter nichts als das Temperament; er
habe weder Geschmeidigkeit des Ausdrucks, noch Tiefe der Empfindung, weder
Schwung der Phantasie, noch Sympathie, d. h. jene unschätzbare Gabe, den
Dingen nachzufühlen und das innere Erbeben in seine Verse hinüberzuleiten.
Richepin sei nur ein halber Dichter.

Man muß in der That an diesen Schriftsteller einen andern Maßstab
legen, als den dieser beiden Kritiker. Es wäre auch falsch, Richepin als einen
Vertreter der sogenannten Dscadenee zu bezeichnen, denn die Eigentümlich¬
keiten seines dichterischen Wesens, die krankhaft sinnliche Richtung seiner Em¬
pfindungen, die alles zersetzende Schürfe seiner Gedanken, die sich zuweilen


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[0277] Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart Dichters wie Sully Prudhvmme hingewiesen hat? Aber Geister, die sich nicht in irgend eine Schule einschachteln lassen, aus deren Verherrlichung die mo¬ dernen Litteraturträger in Deutschland kein Kapital schlagen können, haben immer um ihre Anerkennung kämpfen müssen. Zeigt sich überdies auch noch die Kritik über den Wert des Dichters nicht einig, so hat er trotz aller Vor¬ trefflichkeit ein schweres Ringen auszuhalten. Noch auffallender ist es, daß selbst französische Schriftsteller wie Jean Richepin, der den jungdeutschen Chorführern in vielen Zügen als ein Gleich¬ gesinnter erscheinen müßte, nur von sehr wenigen wirklich gekannt wird. Jean Richepin gehört zu jenen verneinenden Geistern, die sich den Grundsatz: LoWä^lissr 1e donrgsois zur Losung gemacht haben; aber bei aller Lust am Zerstören besitzt er wenigstens schöpferische Kraft genug, um seinen Platz unter den ersten Schriftstellern der Gegenwart zu behaupten. Richepin läßt sich keiner litterarischen Gruppe einreihen, denn bald zählt ihn die Kritik zu den Parnassiens, bald zu den Symbolisten, bald schiebt sie ihn als verspäteten Nachzügler zu den Romantikern oder sogar zu den Klcissizisten und Schülern eines Boileau. Auch über seine Fähigkeiten und seine Leistungen sind die Kunstrichter nicht einig; so sagt der Führer der impressionistischen Kritik, Jules Lemaitre, von ihm: „Jean Richepin besitzt vor allein in seinen Versen Wohlklang, Fülle, lebendige Farbe, einen festen Plan und eine ausgezeichnete Sprache, die man wahrhaft klassisch nennen kann. Er ist der letzte unter unsern Dichtern, der, wenn er will, in der Lyrik über einen mächtigen Lebensodem und über einen breiten, gewaltigen Strom seiner Gedanken verfügt. Er ist der einzige, der seit Lamartine und Victor Hugo Oden geschrieben hat, die diesen Namen wirklich verdienen, der einzige, dem der Atem nicht vor dem Schlüsse aus¬ geht; und zu gleicher Zeit hat dieser begeisterte Rhetoriker Lieder vou so wunderbarer Klangschönheit gedichtet, daß man sie geradezu den Volksliedern an die Seite stellen könnte — mit einem Worte, er ist ein großer Dichter!" Gerade das Gegenteil von dieser Lobpreisung giebt uns der Kritiker der Kvvus clss clsux Noneles, Ferdinand Vrunetiüre, wenn er von Richepin be¬ hauptet, er besitze von einem Dichter weiter nichts als das Temperament; er habe weder Geschmeidigkeit des Ausdrucks, noch Tiefe der Empfindung, weder Schwung der Phantasie, noch Sympathie, d. h. jene unschätzbare Gabe, den Dingen nachzufühlen und das innere Erbeben in seine Verse hinüberzuleiten. Richepin sei nur ein halber Dichter. Man muß in der That an diesen Schriftsteller einen andern Maßstab legen, als den dieser beiden Kritiker. Es wäre auch falsch, Richepin als einen Vertreter der sogenannten Dscadenee zu bezeichnen, denn die Eigentümlich¬ keiten seines dichterischen Wesens, die krankhaft sinnliche Richtung seiner Em¬ pfindungen, die alles zersetzende Schürfe seiner Gedanken, die sich zuweilen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/277>, abgerufen am 23.07.2024.