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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Volksschule und Volksleben

paar Mark mehr verdienen können, sei es auch im Auslande. Höchstens die
fremde Sprache könnte den nnr mit Volksschukbildung ausgerüsteten noch ab¬
schrecken. Aber erstens findet er überall in der Welt Deutsche, zweitens ist
das Hochdeutsch nicht in dem Sinne Muttersprache, wie der Dialekt es war,
an dem, wer darin aufgewachsen ist, mit ganzer Seele hängt, und drittens
sällt die Erlernung eines verdorbnen Französisch, Englisch oder Portugiesisch
im Umgange nicht schwerer und beschwerlicher, als der schulgerechte Unterricht
im Hochdeutschen dem in der Mundart aufgewachsenen Kinde gefallen ist.

Sodann fordert der gemeine Mann, wenn er auf seine lieben Gewohn¬
heiten, seine volkstümlichen Vergnügungen, seine Ungebundenheit und Bequem¬
lichkeit verzichten und sich den Anforderungen der Zivilisation, dem Mode¬
zwange und einer bureaukratisch geregelten Lebensweise unterwerfen soll, zur
Entschädigung auch seinen Anteil an den Genüssen und Annehmlichkeiten dieser
Zivilisation, ihrem Wohnungskomfort z. B., was ihm früher gar nicht einfiel.
Für die ihn: nnn verwehrten Annehmlichkeiten, die umsonst zu haben waren
oder Ersparnisse bedeuteten, tauscht er notgedrungen andre ein, die Geld kosten,
und anch schon jene weniger angenehmen Dinge, zu denen er geradezu ge¬
zwungen wird, kosten Geld oder verursachen Geldverlust, wie das Schulegchen
der Kinder in anständiger Kleidung, der Ausfall des Ertrages der Kinderarbeit
(die gerade auf dem Lande am wenigsten inhuman ist, ist doch das Kühehüten
geradezu ein Vergnügen), die unzähligen polizeilichen und sonstigen Meldungen
und der damit verbundene Zeitverlust, Bescheinigungen, Beibringung von Ur¬
kunden u. dergl. Alles das fesselt noch dazu die freie Erwerbsthätigkeit, und
so kommt der gemeine Mann ganz natürlicherweise auch ohne sozialdemokratische
Agitation auf den Gedanken, daß der Staat oder die herrschenden Klassen,
die ihn teils in der freien Erwerbsthätigkeit hindern, teils ihm geradezu Geld
entziehen für Zwecke, deren Notwendigkeit er nicht einzusehen vermag, damit
die Verpflichtung übernehmen, ihn zu versorgen, ihm jederzeit lohnende Be¬
schäftigung zu verschaffen und ihm, wenn er nicht arbeiten kann, den Unterhalt
zu gewähren. Nachdem der Staat diese Verpflichtung den Arbeitsunfähigen
gegenüber durch die Zwangsversicheruug feierlich anerkannt hat, nachdem er
sie durch Bekleidung und Speisung der Schulkinder anch dem unmündigen
Nachwüchse der Arbeiterbevölkerung gegenüber anerkannt haben wird (in diesem
Winter sind zahlreiche Stimmen laut geworden, die das verlangen; die frei¬
willigen Spenden reichten in Hamburg, Berlin, Breslau und andern großen
Städten nicht mehr hin, die mit leerem Magen zur Schule kommenden Kinder
in belehrungssähigein Zustande zu erhalten), wird nichts übrig bleiben, als
auch den Unterhalt der arbeitsfähigen Erwachsenen vollends zu verstaatlichen.

Vor allem ist jener Zwang zum schließlichen Allsgleich der Einkommen
nicht zu vergessen, der in der Gleichheit der Bildung liegt. Da jeder Arbeiter
seine Zeitung liest und aus ihr eine oberflächliche Kenntnis aller Wissensgebiete


Volksschule und Volksleben

paar Mark mehr verdienen können, sei es auch im Auslande. Höchstens die
fremde Sprache könnte den nnr mit Volksschukbildung ausgerüsteten noch ab¬
schrecken. Aber erstens findet er überall in der Welt Deutsche, zweitens ist
das Hochdeutsch nicht in dem Sinne Muttersprache, wie der Dialekt es war,
an dem, wer darin aufgewachsen ist, mit ganzer Seele hängt, und drittens
sällt die Erlernung eines verdorbnen Französisch, Englisch oder Portugiesisch
im Umgange nicht schwerer und beschwerlicher, als der schulgerechte Unterricht
im Hochdeutschen dem in der Mundart aufgewachsenen Kinde gefallen ist.

Sodann fordert der gemeine Mann, wenn er auf seine lieben Gewohn¬
heiten, seine volkstümlichen Vergnügungen, seine Ungebundenheit und Bequem¬
lichkeit verzichten und sich den Anforderungen der Zivilisation, dem Mode¬
zwange und einer bureaukratisch geregelten Lebensweise unterwerfen soll, zur
Entschädigung auch seinen Anteil an den Genüssen und Annehmlichkeiten dieser
Zivilisation, ihrem Wohnungskomfort z. B., was ihm früher gar nicht einfiel.
Für die ihn: nnn verwehrten Annehmlichkeiten, die umsonst zu haben waren
oder Ersparnisse bedeuteten, tauscht er notgedrungen andre ein, die Geld kosten,
und anch schon jene weniger angenehmen Dinge, zu denen er geradezu ge¬
zwungen wird, kosten Geld oder verursachen Geldverlust, wie das Schulegchen
der Kinder in anständiger Kleidung, der Ausfall des Ertrages der Kinderarbeit
(die gerade auf dem Lande am wenigsten inhuman ist, ist doch das Kühehüten
geradezu ein Vergnügen), die unzähligen polizeilichen und sonstigen Meldungen
und der damit verbundene Zeitverlust, Bescheinigungen, Beibringung von Ur¬
kunden u. dergl. Alles das fesselt noch dazu die freie Erwerbsthätigkeit, und
so kommt der gemeine Mann ganz natürlicherweise auch ohne sozialdemokratische
Agitation auf den Gedanken, daß der Staat oder die herrschenden Klassen,
die ihn teils in der freien Erwerbsthätigkeit hindern, teils ihm geradezu Geld
entziehen für Zwecke, deren Notwendigkeit er nicht einzusehen vermag, damit
die Verpflichtung übernehmen, ihn zu versorgen, ihm jederzeit lohnende Be¬
schäftigung zu verschaffen und ihm, wenn er nicht arbeiten kann, den Unterhalt
zu gewähren. Nachdem der Staat diese Verpflichtung den Arbeitsunfähigen
gegenüber durch die Zwangsversicheruug feierlich anerkannt hat, nachdem er
sie durch Bekleidung und Speisung der Schulkinder anch dem unmündigen
Nachwüchse der Arbeiterbevölkerung gegenüber anerkannt haben wird (in diesem
Winter sind zahlreiche Stimmen laut geworden, die das verlangen; die frei¬
willigen Spenden reichten in Hamburg, Berlin, Breslau und andern großen
Städten nicht mehr hin, die mit leerem Magen zur Schule kommenden Kinder
in belehrungssähigein Zustande zu erhalten), wird nichts übrig bleiben, als
auch den Unterhalt der arbeitsfähigen Erwachsenen vollends zu verstaatlichen.

Vor allem ist jener Zwang zum schließlichen Allsgleich der Einkommen
nicht zu vergessen, der in der Gleichheit der Bildung liegt. Da jeder Arbeiter
seine Zeitung liest und aus ihr eine oberflächliche Kenntnis aller Wissensgebiete


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[0271] Volksschule und Volksleben paar Mark mehr verdienen können, sei es auch im Auslande. Höchstens die fremde Sprache könnte den nnr mit Volksschukbildung ausgerüsteten noch ab¬ schrecken. Aber erstens findet er überall in der Welt Deutsche, zweitens ist das Hochdeutsch nicht in dem Sinne Muttersprache, wie der Dialekt es war, an dem, wer darin aufgewachsen ist, mit ganzer Seele hängt, und drittens sällt die Erlernung eines verdorbnen Französisch, Englisch oder Portugiesisch im Umgange nicht schwerer und beschwerlicher, als der schulgerechte Unterricht im Hochdeutschen dem in der Mundart aufgewachsenen Kinde gefallen ist. Sodann fordert der gemeine Mann, wenn er auf seine lieben Gewohn¬ heiten, seine volkstümlichen Vergnügungen, seine Ungebundenheit und Bequem¬ lichkeit verzichten und sich den Anforderungen der Zivilisation, dem Mode¬ zwange und einer bureaukratisch geregelten Lebensweise unterwerfen soll, zur Entschädigung auch seinen Anteil an den Genüssen und Annehmlichkeiten dieser Zivilisation, ihrem Wohnungskomfort z. B., was ihm früher gar nicht einfiel. Für die ihn: nnn verwehrten Annehmlichkeiten, die umsonst zu haben waren oder Ersparnisse bedeuteten, tauscht er notgedrungen andre ein, die Geld kosten, und anch schon jene weniger angenehmen Dinge, zu denen er geradezu ge¬ zwungen wird, kosten Geld oder verursachen Geldverlust, wie das Schulegchen der Kinder in anständiger Kleidung, der Ausfall des Ertrages der Kinderarbeit (die gerade auf dem Lande am wenigsten inhuman ist, ist doch das Kühehüten geradezu ein Vergnügen), die unzähligen polizeilichen und sonstigen Meldungen und der damit verbundene Zeitverlust, Bescheinigungen, Beibringung von Ur¬ kunden u. dergl. Alles das fesselt noch dazu die freie Erwerbsthätigkeit, und so kommt der gemeine Mann ganz natürlicherweise auch ohne sozialdemokratische Agitation auf den Gedanken, daß der Staat oder die herrschenden Klassen, die ihn teils in der freien Erwerbsthätigkeit hindern, teils ihm geradezu Geld entziehen für Zwecke, deren Notwendigkeit er nicht einzusehen vermag, damit die Verpflichtung übernehmen, ihn zu versorgen, ihm jederzeit lohnende Be¬ schäftigung zu verschaffen und ihm, wenn er nicht arbeiten kann, den Unterhalt zu gewähren. Nachdem der Staat diese Verpflichtung den Arbeitsunfähigen gegenüber durch die Zwangsversicheruug feierlich anerkannt hat, nachdem er sie durch Bekleidung und Speisung der Schulkinder anch dem unmündigen Nachwüchse der Arbeiterbevölkerung gegenüber anerkannt haben wird (in diesem Winter sind zahlreiche Stimmen laut geworden, die das verlangen; die frei¬ willigen Spenden reichten in Hamburg, Berlin, Breslau und andern großen Städten nicht mehr hin, die mit leerem Magen zur Schule kommenden Kinder in belehrungssähigein Zustande zu erhalten), wird nichts übrig bleiben, als auch den Unterhalt der arbeitsfähigen Erwachsenen vollends zu verstaatlichen. Vor allem ist jener Zwang zum schließlichen Allsgleich der Einkommen nicht zu vergessen, der in der Gleichheit der Bildung liegt. Da jeder Arbeiter seine Zeitung liest und aus ihr eine oberflächliche Kenntnis aller Wissensgebiete

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/271>, abgerufen am 23.07.2024.