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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Volksschule und Volksleben

gelegt, daß sie dadurch die Wissenschaft bereichern, die Kunstfertigkeit fördern,
die Neste schöner Mannichfaltigkeit im Volksleben erhalten und für ihr eignes
Gemüts- und Geistesleben einen wertvollen Inhalt gewinnen. Das Beste und
Wichtigste aber hat er, vielleicht absichtlich, Übergängen: das Volkstümliche ist
die stärkste und sicherste Schutzwehr gegen die drohende Verwirklichung des
kommunistisch - sozialistischen Staatsideals.

Denken wir uns die Erde als eine berglose, von rechtwinklig sich schnei¬
denden Kanälen in lauter gleich große Rechtecke geteilte Ebene, die überall
dasselbe Klima und dieselbe Vegetation hätte, so wäre unser Begriff "Vater¬
land" gar uicht vorhanden. Die Wurzel der Vaterlandsliebe, das Heimats¬
gefühl, kann nur in Landschaften von eigentümlichem Charakter entstehen, die
nicht übermäßig groß sind, sodaß ihr Bewohner beim Überschreiten der Grenze
fremde Bilder zu sehen bekommt und eine andre Lebensart anzunehmen ge¬
nötigt ist, die ihn das Gewohnte schmerzlich vermissen lassen. Vodeugestalt
und Vodenbeschasfenheit, Bewaldung oder Kahlheit, Bewässerung und Klima
wirken zusammen, dem Häuserbau, der Kleidung, den Gerätschaften und Lebens-
gewohnheiten ein bestimmtes Gepräge zu geben, zumal da auch die Haupt¬
beschäftigung der Einwohner von jenen natürlichen Bedingungen abhängt. Ist
solchergestalt der eigentümliche Vvlkscharcckter einmal entstanden, so entwickelt
er mit der Zeit in Sprache, Sitten, Gebräuchen, Festen, Volksvergnügungen
noch weitere Eigentümlichkeiten, die nicht notwendigerweise aus der Natur des
Ortes hervorgehen, sondern nur darum so und nicht anders ausfallen, weil
der Stamm oder die Gemeinde von andern abgesondert lebt. Dazu kommen
dann noch geschichtliche und religiöse oder konfessionelle Zusätze. Ein Mensch,
der bis zum zwanzigsten Jahre in einen: solchen milieu, wie der heutige Mode¬
ausdruck heißt, von scharf ausgeprägtem Charakter gelebt hat, wird sich nur
schwer in eine andre Umgebung einrichten und falls er seine Heimat zu ver¬
lassen gezwungen ist, sich zeitlebens nach ihr zurücksehnen.

Der Landmann verwächst natürlich mehr mit seiner Landschaft als der
Städter, namentlich der Großstädter, der vor Häusern gar keine Landschaft
zu sehen bekommt und eine seiner heimatlichen sehr ähnliche Umgebung in
allen europäischen und amerikanischen Großstädten wiederfindet. Jener aber
hängt mit umso leidenschaftlicherer Liebe an seiner Heimat, je mehr Eigen¬
tümliches sie an Landschaftsbildern und Volksgewohnheiteu darbietet. Auch
seine Beschäftigung, bestehe sie in Ackerbau oder Viehzucht oder in beidem, hat
er lieb, weil sie gesund, angenehm, reich an gemütlichein Inhalt ist und ein
höheres Maß persönlicher Freiheit gewährt als irgend eine andre. Selbst der
Tagelöhner und der Knecht fühlen sich wohl, wenn sie nur satt zu essen haben
und uicht geradezu schlecht behandelt werden, und sie beneiden den Vornehmen,
namentlich den vornehmen Städter schon darum nicht, weil sie sich in ihrem
Benehmen keinen Zwang auflegen, ihren Empfindungen unbefangen Ausdruck


Volksschule und Volksleben

gelegt, daß sie dadurch die Wissenschaft bereichern, die Kunstfertigkeit fördern,
die Neste schöner Mannichfaltigkeit im Volksleben erhalten und für ihr eignes
Gemüts- und Geistesleben einen wertvollen Inhalt gewinnen. Das Beste und
Wichtigste aber hat er, vielleicht absichtlich, Übergängen: das Volkstümliche ist
die stärkste und sicherste Schutzwehr gegen die drohende Verwirklichung des
kommunistisch - sozialistischen Staatsideals.

Denken wir uns die Erde als eine berglose, von rechtwinklig sich schnei¬
denden Kanälen in lauter gleich große Rechtecke geteilte Ebene, die überall
dasselbe Klima und dieselbe Vegetation hätte, so wäre unser Begriff „Vater¬
land" gar uicht vorhanden. Die Wurzel der Vaterlandsliebe, das Heimats¬
gefühl, kann nur in Landschaften von eigentümlichem Charakter entstehen, die
nicht übermäßig groß sind, sodaß ihr Bewohner beim Überschreiten der Grenze
fremde Bilder zu sehen bekommt und eine andre Lebensart anzunehmen ge¬
nötigt ist, die ihn das Gewohnte schmerzlich vermissen lassen. Vodeugestalt
und Vodenbeschasfenheit, Bewaldung oder Kahlheit, Bewässerung und Klima
wirken zusammen, dem Häuserbau, der Kleidung, den Gerätschaften und Lebens-
gewohnheiten ein bestimmtes Gepräge zu geben, zumal da auch die Haupt¬
beschäftigung der Einwohner von jenen natürlichen Bedingungen abhängt. Ist
solchergestalt der eigentümliche Vvlkscharcckter einmal entstanden, so entwickelt
er mit der Zeit in Sprache, Sitten, Gebräuchen, Festen, Volksvergnügungen
noch weitere Eigentümlichkeiten, die nicht notwendigerweise aus der Natur des
Ortes hervorgehen, sondern nur darum so und nicht anders ausfallen, weil
der Stamm oder die Gemeinde von andern abgesondert lebt. Dazu kommen
dann noch geschichtliche und religiöse oder konfessionelle Zusätze. Ein Mensch,
der bis zum zwanzigsten Jahre in einen: solchen milieu, wie der heutige Mode¬
ausdruck heißt, von scharf ausgeprägtem Charakter gelebt hat, wird sich nur
schwer in eine andre Umgebung einrichten und falls er seine Heimat zu ver¬
lassen gezwungen ist, sich zeitlebens nach ihr zurücksehnen.

Der Landmann verwächst natürlich mehr mit seiner Landschaft als der
Städter, namentlich der Großstädter, der vor Häusern gar keine Landschaft
zu sehen bekommt und eine seiner heimatlichen sehr ähnliche Umgebung in
allen europäischen und amerikanischen Großstädten wiederfindet. Jener aber
hängt mit umso leidenschaftlicherer Liebe an seiner Heimat, je mehr Eigen¬
tümliches sie an Landschaftsbildern und Volksgewohnheiteu darbietet. Auch
seine Beschäftigung, bestehe sie in Ackerbau oder Viehzucht oder in beidem, hat
er lieb, weil sie gesund, angenehm, reich an gemütlichein Inhalt ist und ein
höheres Maß persönlicher Freiheit gewährt als irgend eine andre. Selbst der
Tagelöhner und der Knecht fühlen sich wohl, wenn sie nur satt zu essen haben
und uicht geradezu schlecht behandelt werden, und sie beneiden den Vornehmen,
namentlich den vornehmen Städter schon darum nicht, weil sie sich in ihrem
Benehmen keinen Zwang auflegen, ihren Empfindungen unbefangen Ausdruck


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[0269] Volksschule und Volksleben gelegt, daß sie dadurch die Wissenschaft bereichern, die Kunstfertigkeit fördern, die Neste schöner Mannichfaltigkeit im Volksleben erhalten und für ihr eignes Gemüts- und Geistesleben einen wertvollen Inhalt gewinnen. Das Beste und Wichtigste aber hat er, vielleicht absichtlich, Übergängen: das Volkstümliche ist die stärkste und sicherste Schutzwehr gegen die drohende Verwirklichung des kommunistisch - sozialistischen Staatsideals. Denken wir uns die Erde als eine berglose, von rechtwinklig sich schnei¬ denden Kanälen in lauter gleich große Rechtecke geteilte Ebene, die überall dasselbe Klima und dieselbe Vegetation hätte, so wäre unser Begriff „Vater¬ land" gar uicht vorhanden. Die Wurzel der Vaterlandsliebe, das Heimats¬ gefühl, kann nur in Landschaften von eigentümlichem Charakter entstehen, die nicht übermäßig groß sind, sodaß ihr Bewohner beim Überschreiten der Grenze fremde Bilder zu sehen bekommt und eine andre Lebensart anzunehmen ge¬ nötigt ist, die ihn das Gewohnte schmerzlich vermissen lassen. Vodeugestalt und Vodenbeschasfenheit, Bewaldung oder Kahlheit, Bewässerung und Klima wirken zusammen, dem Häuserbau, der Kleidung, den Gerätschaften und Lebens- gewohnheiten ein bestimmtes Gepräge zu geben, zumal da auch die Haupt¬ beschäftigung der Einwohner von jenen natürlichen Bedingungen abhängt. Ist solchergestalt der eigentümliche Vvlkscharcckter einmal entstanden, so entwickelt er mit der Zeit in Sprache, Sitten, Gebräuchen, Festen, Volksvergnügungen noch weitere Eigentümlichkeiten, die nicht notwendigerweise aus der Natur des Ortes hervorgehen, sondern nur darum so und nicht anders ausfallen, weil der Stamm oder die Gemeinde von andern abgesondert lebt. Dazu kommen dann noch geschichtliche und religiöse oder konfessionelle Zusätze. Ein Mensch, der bis zum zwanzigsten Jahre in einen: solchen milieu, wie der heutige Mode¬ ausdruck heißt, von scharf ausgeprägtem Charakter gelebt hat, wird sich nur schwer in eine andre Umgebung einrichten und falls er seine Heimat zu ver¬ lassen gezwungen ist, sich zeitlebens nach ihr zurücksehnen. Der Landmann verwächst natürlich mehr mit seiner Landschaft als der Städter, namentlich der Großstädter, der vor Häusern gar keine Landschaft zu sehen bekommt und eine seiner heimatlichen sehr ähnliche Umgebung in allen europäischen und amerikanischen Großstädten wiederfindet. Jener aber hängt mit umso leidenschaftlicherer Liebe an seiner Heimat, je mehr Eigen¬ tümliches sie an Landschaftsbildern und Volksgewohnheiteu darbietet. Auch seine Beschäftigung, bestehe sie in Ackerbau oder Viehzucht oder in beidem, hat er lieb, weil sie gesund, angenehm, reich an gemütlichein Inhalt ist und ein höheres Maß persönlicher Freiheit gewährt als irgend eine andre. Selbst der Tagelöhner und der Knecht fühlen sich wohl, wenn sie nur satt zu essen haben und uicht geradezu schlecht behandelt werden, und sie beneiden den Vornehmen, namentlich den vornehmen Städter schon darum nicht, weil sie sich in ihrem Benehmen keinen Zwang auflegen, ihren Empfindungen unbefangen Ausdruck

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/269>, abgerufen am 23.07.2024.