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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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ganzen Landschaften geübt wurde, und wie sie jetzt zum Teil erloschen, zum
Teil im Aussterben begriffen ist? Man sucht heute allenthalben den Hansfleiß
künstlich zu beleben, errichtet Kuabenhandarbeitsschulen, und was dergleichen
Dinge mehr sind; warum richtet nicht die Lehrerschaft ihr Augenmerk auf
diese dem Volke seit Jahrhunderten ureigcutümliche Hausindustrie und sucht
sie zu erhalten, zu vervollkommnen und den heutigen Bedürfnissen anzupassen?
Ich will ja nicht sagen, daß die Lehrerschaft darauf dringen solle, daß die
Strümpfe im Weizacker auch fernerhin so schön bunt gestrickt werden, daß die
Bäuerinnen auch ferner die selbstgewebteu Röcke nnr bis zum Knie herabfallen
lassen; aber das müßte doch zu erreichen sein, daß wenigstens der Kunstsinn
und die Kunstfertigkeit dem Volke erhalten bleibt. Bei dem Besuch des
Museums haben Sie ja all die schönen Arbeiten gesehen, und der Augenschein
wird mehr wirken, als alle Reden. Denn hoffentlich gehts mir hier nicht,
wie in Mvnkgut, wo ein Lehrer, statt sich zu freuen an dem, was seine Jungen
und Mädchen von Hause aus konnten, mit großem Stolz erzählte, daß er es
in der kurzen Zeit seines Aufenthaltes auf der Insel dahin gebracht habe, daß
kein einziges Kind mehr in der, wie er sagte, unanständigen Landestracht die
Schule besuche, und daß die Leute endlich anfingen, von ihren Narrheiten zu
lassen. Freilich, was dieser geehrte Herr vor zwei Jahren gethan, hatte der
Lotsenkommandenr in Thiessow Jahrzehnte vorher fertig gebracht. Er zwang
die Leute, von ihren Eigentümlichkeiten zu lassen, und erreichte wirklich, daß
die ganze Südspitze der Halbinsel Jahrzehnte früher als die andern Mönkguter
Dörfer denselben nüchternen Eindruck machte, wie sonst Fischerdörfer am Strande
der Ostsee."

So Dr. Ulrich Jahr. Ehe wir uns zu einem höhern Standpunkte der
Betrachtung erheben, wollen wir zu den letzten Sätzen des Vortrages einige
Bemerkungen machen. Man würde sehr irren, wenn man mit dem Kampfe
gegen "unanständige" Volkstrachten der Sittlichkeit einen Dienst zu erweisen
glaubte. In diesem Glauben haben die bairischen Herzoge in der Zeit der
Gegenreformation die Kniehosen und daneben auch die Volksverguügungen
-- glücklicherweise vergebens -- auszurotten versucht. Wir lassen uns hier
nicht auf eine Untersuchung der Frage ein, ob die Sittlichkeit wirklich mit der
Dichtigkeit der Verhüllung des Körpers steige und falle, und wollen auch nicht
die verschiednen Frauenmoden der letzten zwanzig Jahre auf ihre Decenz hin
Prüfen. Nur den einen Punkt möchten wir hervorheben, daß das Schamgefühl
in Kleidersachen mit der Sittlichkeit sehr wenig zu schaffen hat. Mancher
Mann in hoher Stellung würde sich zu Tode schämen, wenn er einmal in
Hemdsärmeln und Buchbiuderschürze die Straße Unter den Linden in Berlin
am hellen Tage durchwandeln müßte. Und doch ist die Schürze uicht allem
ein höchst anständiges, sondern geradezu das alleranstnudigstc von Gott Vater
selbst verordnete Kleidungsstück, der Frack dagegen, in dem anständige Herren


ganzen Landschaften geübt wurde, und wie sie jetzt zum Teil erloschen, zum
Teil im Aussterben begriffen ist? Man sucht heute allenthalben den Hansfleiß
künstlich zu beleben, errichtet Kuabenhandarbeitsschulen, und was dergleichen
Dinge mehr sind; warum richtet nicht die Lehrerschaft ihr Augenmerk auf
diese dem Volke seit Jahrhunderten ureigcutümliche Hausindustrie und sucht
sie zu erhalten, zu vervollkommnen und den heutigen Bedürfnissen anzupassen?
Ich will ja nicht sagen, daß die Lehrerschaft darauf dringen solle, daß die
Strümpfe im Weizacker auch fernerhin so schön bunt gestrickt werden, daß die
Bäuerinnen auch ferner die selbstgewebteu Röcke nnr bis zum Knie herabfallen
lassen; aber das müßte doch zu erreichen sein, daß wenigstens der Kunstsinn
und die Kunstfertigkeit dem Volke erhalten bleibt. Bei dem Besuch des
Museums haben Sie ja all die schönen Arbeiten gesehen, und der Augenschein
wird mehr wirken, als alle Reden. Denn hoffentlich gehts mir hier nicht,
wie in Mvnkgut, wo ein Lehrer, statt sich zu freuen an dem, was seine Jungen
und Mädchen von Hause aus konnten, mit großem Stolz erzählte, daß er es
in der kurzen Zeit seines Aufenthaltes auf der Insel dahin gebracht habe, daß
kein einziges Kind mehr in der, wie er sagte, unanständigen Landestracht die
Schule besuche, und daß die Leute endlich anfingen, von ihren Narrheiten zu
lassen. Freilich, was dieser geehrte Herr vor zwei Jahren gethan, hatte der
Lotsenkommandenr in Thiessow Jahrzehnte vorher fertig gebracht. Er zwang
die Leute, von ihren Eigentümlichkeiten zu lassen, und erreichte wirklich, daß
die ganze Südspitze der Halbinsel Jahrzehnte früher als die andern Mönkguter
Dörfer denselben nüchternen Eindruck machte, wie sonst Fischerdörfer am Strande
der Ostsee."

So Dr. Ulrich Jahr. Ehe wir uns zu einem höhern Standpunkte der
Betrachtung erheben, wollen wir zu den letzten Sätzen des Vortrages einige
Bemerkungen machen. Man würde sehr irren, wenn man mit dem Kampfe
gegen „unanständige" Volkstrachten der Sittlichkeit einen Dienst zu erweisen
glaubte. In diesem Glauben haben die bairischen Herzoge in der Zeit der
Gegenreformation die Kniehosen und daneben auch die Volksverguügungen
— glücklicherweise vergebens — auszurotten versucht. Wir lassen uns hier
nicht auf eine Untersuchung der Frage ein, ob die Sittlichkeit wirklich mit der
Dichtigkeit der Verhüllung des Körpers steige und falle, und wollen auch nicht
die verschiednen Frauenmoden der letzten zwanzig Jahre auf ihre Decenz hin
Prüfen. Nur den einen Punkt möchten wir hervorheben, daß das Schamgefühl
in Kleidersachen mit der Sittlichkeit sehr wenig zu schaffen hat. Mancher
Mann in hoher Stellung würde sich zu Tode schämen, wenn er einmal in
Hemdsärmeln und Buchbiuderschürze die Straße Unter den Linden in Berlin
am hellen Tage durchwandeln müßte. Und doch ist die Schürze uicht allem
ein höchst anständiges, sondern geradezu das alleranstnudigstc von Gott Vater
selbst verordnete Kleidungsstück, der Frack dagegen, in dem anständige Herren


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[0267] ganzen Landschaften geübt wurde, und wie sie jetzt zum Teil erloschen, zum Teil im Aussterben begriffen ist? Man sucht heute allenthalben den Hansfleiß künstlich zu beleben, errichtet Kuabenhandarbeitsschulen, und was dergleichen Dinge mehr sind; warum richtet nicht die Lehrerschaft ihr Augenmerk auf diese dem Volke seit Jahrhunderten ureigcutümliche Hausindustrie und sucht sie zu erhalten, zu vervollkommnen und den heutigen Bedürfnissen anzupassen? Ich will ja nicht sagen, daß die Lehrerschaft darauf dringen solle, daß die Strümpfe im Weizacker auch fernerhin so schön bunt gestrickt werden, daß die Bäuerinnen auch ferner die selbstgewebteu Röcke nnr bis zum Knie herabfallen lassen; aber das müßte doch zu erreichen sein, daß wenigstens der Kunstsinn und die Kunstfertigkeit dem Volke erhalten bleibt. Bei dem Besuch des Museums haben Sie ja all die schönen Arbeiten gesehen, und der Augenschein wird mehr wirken, als alle Reden. Denn hoffentlich gehts mir hier nicht, wie in Mvnkgut, wo ein Lehrer, statt sich zu freuen an dem, was seine Jungen und Mädchen von Hause aus konnten, mit großem Stolz erzählte, daß er es in der kurzen Zeit seines Aufenthaltes auf der Insel dahin gebracht habe, daß kein einziges Kind mehr in der, wie er sagte, unanständigen Landestracht die Schule besuche, und daß die Leute endlich anfingen, von ihren Narrheiten zu lassen. Freilich, was dieser geehrte Herr vor zwei Jahren gethan, hatte der Lotsenkommandenr in Thiessow Jahrzehnte vorher fertig gebracht. Er zwang die Leute, von ihren Eigentümlichkeiten zu lassen, und erreichte wirklich, daß die ganze Südspitze der Halbinsel Jahrzehnte früher als die andern Mönkguter Dörfer denselben nüchternen Eindruck machte, wie sonst Fischerdörfer am Strande der Ostsee." So Dr. Ulrich Jahr. Ehe wir uns zu einem höhern Standpunkte der Betrachtung erheben, wollen wir zu den letzten Sätzen des Vortrages einige Bemerkungen machen. Man würde sehr irren, wenn man mit dem Kampfe gegen „unanständige" Volkstrachten der Sittlichkeit einen Dienst zu erweisen glaubte. In diesem Glauben haben die bairischen Herzoge in der Zeit der Gegenreformation die Kniehosen und daneben auch die Volksverguügungen — glücklicherweise vergebens — auszurotten versucht. Wir lassen uns hier nicht auf eine Untersuchung der Frage ein, ob die Sittlichkeit wirklich mit der Dichtigkeit der Verhüllung des Körpers steige und falle, und wollen auch nicht die verschiednen Frauenmoden der letzten zwanzig Jahre auf ihre Decenz hin Prüfen. Nur den einen Punkt möchten wir hervorheben, daß das Schamgefühl in Kleidersachen mit der Sittlichkeit sehr wenig zu schaffen hat. Mancher Mann in hoher Stellung würde sich zu Tode schämen, wenn er einmal in Hemdsärmeln und Buchbiuderschürze die Straße Unter den Linden in Berlin am hellen Tage durchwandeln müßte. Und doch ist die Schürze uicht allem ein höchst anständiges, sondern geradezu das alleranstnudigstc von Gott Vater selbst verordnete Kleidungsstück, der Frack dagegen, in dem anständige Herren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/267>, abgerufen am 23.07.2024.