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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Das Dunkel der Zukunft

ohne daß in einem günstigeren Zeitpunkte deutscher Geschichte ein Mann wie
Luther so viel Raum sand, den Samen edler Unabhängigkeit, persönlicher Ver¬
antwortlichkeit in die Menschheit zu streuen. Wie war er selbst noch von dem
mittelalterlichen Wesen befangen! Aber in seiner Losreißung von dem all¬
mächtigen Institut der Kirche, in seinem Rückgang auf die ersten klassischen
Denkmäler christlicher Litteratur, die natürlich erklärt und durchgearbeitet
werden mußten, und in dem damit gegebenen persönlichen Zusammenhang mit
dem Erlöser gab er den Antrieb Zu einem neuen Geistesleben. In dem Kaul-
bachschen Bilde sehen wir von Luthers offner Bibel alles ausgehen, was wir
in Deutschland seit dem sechzehnten Jahrhundert an großen Denkern, Dichtern,
Staatsmännern besessen haben; wie weit manchmal entfernt von Luthers
Eigentümlichkeit, aber nur durch ihn möglich! Wir hören gern von katholischen
Schriftstellern unsrer Zeit, daß sie auch ihrerseits der eben gezeichneten Be¬
wegung ihre Anerkennung zu teil werden lassen. Sie weise" auf innere
Besserungen in ihrer eignen Kirche und auf das Geistesleben der Völker hin,
die am meisten an dein reformatorischen Umschwunge beteiligt sind, der ger¬
manisch-angelsächsischen Völker. Und will man gerecht sein, so ist eben diese
Vorwärtsbewegung der Gesellschaft und ihrer Kultur auch weit über die
Grenzen der germanisch-angelsächsischen Völker hinaus vorgedrungen. Der
Begriff der geistigen Freiheit und des unabhängigen weltliche" Staates ist auch
in katholischen Bevölkerungen den herrschenden Klassen lieb geworden.
Napoleon III. verteidigte den selbständigen Kirchenstaat nur aus äußern Rück¬
sichten, denn er hatte mit erfahrenem Blick gesehen, wie er mehr und mehr
von den Völkern gehaßt wurde. Er schrieb 1802: "Der heilige Stuhl hat
alles gegen sich, was in Europa liberal heißt; er gilt in der Politik als Ver¬
treter des alten Regime und in den Augen Italiens als der Feind seiner Un¬
abhängigkeit, als der ergebenste Anhänger der Reaktiv"," und schon der
Minister Guizot sagte: "Der römische Hof ist zu lange der Bundesgenosse der
absoluten Gewalt gewesen, als daß seine Sache nicht den Freunden politischer
und religiöser Freiheit verdächtig sein sollte." So ist denn auch der Kirchen¬
staat durch den Haß der Römer selbst zu Grunde gegangen. Man kann sagen,
daß in Spanien und Portugal der alte Zustand noch am meisten fortdaure,
trotz der echt romanischen politischen Experimente und Pronunciamentos; aber
in Italien und Frankreich ist die Hierarchie nicht imstande, mehr als die
untersten Klassen in den kirchlichen Formen festzuhalten. Beide Nationen
haben gefühlt, daß sie sich vor allem des Unterrichts bemächtigen mußten, um
der Hierarchie entgegenzutreten. Leider haben sie im Eiser mit dem krank¬
haften Druck des Papsttums auch die gesunden religiösen Elemente aus der
Erziehung entfernt, ohne die auch das Staatsleben nicht gedeihen kann. Aber
auch dieser Mißgriff stammt aus dem alten System. Denn es ist eine echt
katholische Ansicht, daß der Staat kein "Gewissen" haben dürfe. Mejer zitirt


Das Dunkel der Zukunft

ohne daß in einem günstigeren Zeitpunkte deutscher Geschichte ein Mann wie
Luther so viel Raum sand, den Samen edler Unabhängigkeit, persönlicher Ver¬
antwortlichkeit in die Menschheit zu streuen. Wie war er selbst noch von dem
mittelalterlichen Wesen befangen! Aber in seiner Losreißung von dem all¬
mächtigen Institut der Kirche, in seinem Rückgang auf die ersten klassischen
Denkmäler christlicher Litteratur, die natürlich erklärt und durchgearbeitet
werden mußten, und in dem damit gegebenen persönlichen Zusammenhang mit
dem Erlöser gab er den Antrieb Zu einem neuen Geistesleben. In dem Kaul-
bachschen Bilde sehen wir von Luthers offner Bibel alles ausgehen, was wir
in Deutschland seit dem sechzehnten Jahrhundert an großen Denkern, Dichtern,
Staatsmännern besessen haben; wie weit manchmal entfernt von Luthers
Eigentümlichkeit, aber nur durch ihn möglich! Wir hören gern von katholischen
Schriftstellern unsrer Zeit, daß sie auch ihrerseits der eben gezeichneten Be¬
wegung ihre Anerkennung zu teil werden lassen. Sie weise» auf innere
Besserungen in ihrer eignen Kirche und auf das Geistesleben der Völker hin,
die am meisten an dein reformatorischen Umschwunge beteiligt sind, der ger¬
manisch-angelsächsischen Völker. Und will man gerecht sein, so ist eben diese
Vorwärtsbewegung der Gesellschaft und ihrer Kultur auch weit über die
Grenzen der germanisch-angelsächsischen Völker hinaus vorgedrungen. Der
Begriff der geistigen Freiheit und des unabhängigen weltliche» Staates ist auch
in katholischen Bevölkerungen den herrschenden Klassen lieb geworden.
Napoleon III. verteidigte den selbständigen Kirchenstaat nur aus äußern Rück¬
sichten, denn er hatte mit erfahrenem Blick gesehen, wie er mehr und mehr
von den Völkern gehaßt wurde. Er schrieb 1802: „Der heilige Stuhl hat
alles gegen sich, was in Europa liberal heißt; er gilt in der Politik als Ver¬
treter des alten Regime und in den Augen Italiens als der Feind seiner Un¬
abhängigkeit, als der ergebenste Anhänger der Reaktiv»," und schon der
Minister Guizot sagte: „Der römische Hof ist zu lange der Bundesgenosse der
absoluten Gewalt gewesen, als daß seine Sache nicht den Freunden politischer
und religiöser Freiheit verdächtig sein sollte." So ist denn auch der Kirchen¬
staat durch den Haß der Römer selbst zu Grunde gegangen. Man kann sagen,
daß in Spanien und Portugal der alte Zustand noch am meisten fortdaure,
trotz der echt romanischen politischen Experimente und Pronunciamentos; aber
in Italien und Frankreich ist die Hierarchie nicht imstande, mehr als die
untersten Klassen in den kirchlichen Formen festzuhalten. Beide Nationen
haben gefühlt, daß sie sich vor allem des Unterrichts bemächtigen mußten, um
der Hierarchie entgegenzutreten. Leider haben sie im Eiser mit dem krank¬
haften Druck des Papsttums auch die gesunden religiösen Elemente aus der
Erziehung entfernt, ohne die auch das Staatsleben nicht gedeihen kann. Aber
auch dieser Mißgriff stammt aus dem alten System. Denn es ist eine echt
katholische Ansicht, daß der Staat kein „Gewissen" haben dürfe. Mejer zitirt


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[0263] Das Dunkel der Zukunft ohne daß in einem günstigeren Zeitpunkte deutscher Geschichte ein Mann wie Luther so viel Raum sand, den Samen edler Unabhängigkeit, persönlicher Ver¬ antwortlichkeit in die Menschheit zu streuen. Wie war er selbst noch von dem mittelalterlichen Wesen befangen! Aber in seiner Losreißung von dem all¬ mächtigen Institut der Kirche, in seinem Rückgang auf die ersten klassischen Denkmäler christlicher Litteratur, die natürlich erklärt und durchgearbeitet werden mußten, und in dem damit gegebenen persönlichen Zusammenhang mit dem Erlöser gab er den Antrieb Zu einem neuen Geistesleben. In dem Kaul- bachschen Bilde sehen wir von Luthers offner Bibel alles ausgehen, was wir in Deutschland seit dem sechzehnten Jahrhundert an großen Denkern, Dichtern, Staatsmännern besessen haben; wie weit manchmal entfernt von Luthers Eigentümlichkeit, aber nur durch ihn möglich! Wir hören gern von katholischen Schriftstellern unsrer Zeit, daß sie auch ihrerseits der eben gezeichneten Be¬ wegung ihre Anerkennung zu teil werden lassen. Sie weise» auf innere Besserungen in ihrer eignen Kirche und auf das Geistesleben der Völker hin, die am meisten an dein reformatorischen Umschwunge beteiligt sind, der ger¬ manisch-angelsächsischen Völker. Und will man gerecht sein, so ist eben diese Vorwärtsbewegung der Gesellschaft und ihrer Kultur auch weit über die Grenzen der germanisch-angelsächsischen Völker hinaus vorgedrungen. Der Begriff der geistigen Freiheit und des unabhängigen weltliche» Staates ist auch in katholischen Bevölkerungen den herrschenden Klassen lieb geworden. Napoleon III. verteidigte den selbständigen Kirchenstaat nur aus äußern Rück¬ sichten, denn er hatte mit erfahrenem Blick gesehen, wie er mehr und mehr von den Völkern gehaßt wurde. Er schrieb 1802: „Der heilige Stuhl hat alles gegen sich, was in Europa liberal heißt; er gilt in der Politik als Ver¬ treter des alten Regime und in den Augen Italiens als der Feind seiner Un¬ abhängigkeit, als der ergebenste Anhänger der Reaktiv»," und schon der Minister Guizot sagte: „Der römische Hof ist zu lange der Bundesgenosse der absoluten Gewalt gewesen, als daß seine Sache nicht den Freunden politischer und religiöser Freiheit verdächtig sein sollte." So ist denn auch der Kirchen¬ staat durch den Haß der Römer selbst zu Grunde gegangen. Man kann sagen, daß in Spanien und Portugal der alte Zustand noch am meisten fortdaure, trotz der echt romanischen politischen Experimente und Pronunciamentos; aber in Italien und Frankreich ist die Hierarchie nicht imstande, mehr als die untersten Klassen in den kirchlichen Formen festzuhalten. Beide Nationen haben gefühlt, daß sie sich vor allem des Unterrichts bemächtigen mußten, um der Hierarchie entgegenzutreten. Leider haben sie im Eiser mit dem krank¬ haften Druck des Papsttums auch die gesunden religiösen Elemente aus der Erziehung entfernt, ohne die auch das Staatsleben nicht gedeihen kann. Aber auch dieser Mißgriff stammt aus dem alten System. Denn es ist eine echt katholische Ansicht, daß der Staat kein „Gewissen" haben dürfe. Mejer zitirt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/263>, abgerufen am 25.08.2024.