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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Weise predigt und, wenn es Nachfolge findet, dankbar begrüßt werden wird.
Es ist das Werk des Magdeburger Professors Bornemann: Unterricht
im Christentum. (Göttingen, Vandenhoeck, 1891.) Da finden wir ganze
Listen von dem, was wir nicht wissen, meist solches, was wir in unsrer
Jugend genau wissen mußte", oder wenigstens bekennen mußten, wenn wir
nicht als ungläubig erscheinen wollten. Der Verfasser sagt zu Anfang, es
müsse "endlich mit dem Wahne gebrochen werden, als könnten wir auf Grund
der christlichen Offenbarung auf alle möglichen und unmöglichen Fragen der
Wißbegierde und der Neugier sichere Auskunft erteilen." Und dann folgt
"einiges Wenige" über unser Nichtwissen. Wir wissen z. V. nichts Sicheres
über den Zustand der Verstorbenen, über die Frage der ewigen Vorher-
bestimmung Gottes und der Wiederbringnng aller Dinge, über die Form und
Art des ewigen Lebens und des Nuferstehnugslebens, die Entstehung und das
Wesen unsrer Seele; Nur wisse" als Christen so wenig als andre Menschen,
was Leben, Kraft, Geist, Sein, Wirken, Raum und Zeit u. s. w. ist; wir wissen
auch nicht, wie Gott die Welt geschaffen hat, welche Entwicklungsstufen sie seit¬
dem durchgemacht hat, wie Gott wirkt innerhalb der natürlichen Ursachen in
der Welt; und wem dies Register noch nicht genügt, der kann das Buch selbst
nachlesen und wird mit Befriedigung erfahren, daß noch recht viel Großes
und Schönes übrig bleibt, trotz aller Abzüge von dem angeblichen Wissen.
Wenn nnn das, wie gesagt, einmal Allgemeingut der Theologen wird, woran
noch mancher Zweifel gestattet ist, so kann man in dein Dunkel der Zukunft
schon eine vielversprechende "Lichtung" ahnen.

Aber mittlerweile drängt uns doch jeder bedeutende Abschnitt in dem
Ablauf der Zeiten zu der alten, grübelnden Frage hin: Was will es werden
in der Zukunft mit den Dingen und Verhältnissen, die weit über dem Dasei"
des kurzlebigen Menschen stehen, mit den Gütern der Kultur, mit der Freiheit
des Denkens und Glaubens, mit Staat und Kirche, oder vielmehr mit den
verschiednen Kirchen, in denen sich das Christentum seit Jahrhunderten liebt
und haßt? Wird die Völkerfamilie in Europa und darüber hinaus, in der
sich ebenso lebhafte Regungen von Liebe und Haß, wie in den Bekenntnissen,
offen und heimlich kreuzen, sich ausmachen, um die Kräfte in gewaltigem
Ringen zu versuchen und mit Blut und Eisen eine neue Machtstellung ihrer
Glieder zu begründen? Wer wüßte das nicht gern? Jeder weiß freilich, daß
sein Streben, hierin etwas zu sehen, am meisten von den staatskuudigeu
Forschern belächelt wird; aber es ist damit ähnlich, wie es die modernen
Theologen von der dogmatischen Gedankenarbeit sagen. Denn es weiß da auch
'der nachdenkende Mensch, daß er dabei nichts erreichen kann, als im glücklichen
Fall einen geschickten Ausdruck eiuer religiösen Stimmung, aber es ist eben
so sicher, daß es ganz thöricht wäre, dein Menschen diese dogmatifirende
Thätigkeit zu verbieten. Die Folge würde "ur sein, daß an die Stelle einer


Weise predigt und, wenn es Nachfolge findet, dankbar begrüßt werden wird.
Es ist das Werk des Magdeburger Professors Bornemann: Unterricht
im Christentum. (Göttingen, Vandenhoeck, 1891.) Da finden wir ganze
Listen von dem, was wir nicht wissen, meist solches, was wir in unsrer
Jugend genau wissen mußte», oder wenigstens bekennen mußten, wenn wir
nicht als ungläubig erscheinen wollten. Der Verfasser sagt zu Anfang, es
müsse „endlich mit dem Wahne gebrochen werden, als könnten wir auf Grund
der christlichen Offenbarung auf alle möglichen und unmöglichen Fragen der
Wißbegierde und der Neugier sichere Auskunft erteilen." Und dann folgt
„einiges Wenige" über unser Nichtwissen. Wir wissen z. V. nichts Sicheres
über den Zustand der Verstorbenen, über die Frage der ewigen Vorher-
bestimmung Gottes und der Wiederbringnng aller Dinge, über die Form und
Art des ewigen Lebens und des Nuferstehnugslebens, die Entstehung und das
Wesen unsrer Seele; Nur wisse» als Christen so wenig als andre Menschen,
was Leben, Kraft, Geist, Sein, Wirken, Raum und Zeit u. s. w. ist; wir wissen
auch nicht, wie Gott die Welt geschaffen hat, welche Entwicklungsstufen sie seit¬
dem durchgemacht hat, wie Gott wirkt innerhalb der natürlichen Ursachen in
der Welt; und wem dies Register noch nicht genügt, der kann das Buch selbst
nachlesen und wird mit Befriedigung erfahren, daß noch recht viel Großes
und Schönes übrig bleibt, trotz aller Abzüge von dem angeblichen Wissen.
Wenn nnn das, wie gesagt, einmal Allgemeingut der Theologen wird, woran
noch mancher Zweifel gestattet ist, so kann man in dein Dunkel der Zukunft
schon eine vielversprechende „Lichtung" ahnen.

Aber mittlerweile drängt uns doch jeder bedeutende Abschnitt in dem
Ablauf der Zeiten zu der alten, grübelnden Frage hin: Was will es werden
in der Zukunft mit den Dingen und Verhältnissen, die weit über dem Dasei»
des kurzlebigen Menschen stehen, mit den Gütern der Kultur, mit der Freiheit
des Denkens und Glaubens, mit Staat und Kirche, oder vielmehr mit den
verschiednen Kirchen, in denen sich das Christentum seit Jahrhunderten liebt
und haßt? Wird die Völkerfamilie in Europa und darüber hinaus, in der
sich ebenso lebhafte Regungen von Liebe und Haß, wie in den Bekenntnissen,
offen und heimlich kreuzen, sich ausmachen, um die Kräfte in gewaltigem
Ringen zu versuchen und mit Blut und Eisen eine neue Machtstellung ihrer
Glieder zu begründen? Wer wüßte das nicht gern? Jeder weiß freilich, daß
sein Streben, hierin etwas zu sehen, am meisten von den staatskuudigeu
Forschern belächelt wird; aber es ist damit ähnlich, wie es die modernen
Theologen von der dogmatischen Gedankenarbeit sagen. Denn es weiß da auch
'der nachdenkende Mensch, daß er dabei nichts erreichen kann, als im glücklichen
Fall einen geschickten Ausdruck eiuer religiösen Stimmung, aber es ist eben
so sicher, daß es ganz thöricht wäre, dein Menschen diese dogmatifirende
Thätigkeit zu verbieten. Die Folge würde »ur sein, daß an die Stelle einer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/256>, abgerufen am 23.07.2024.