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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Amerikanische Philosophie

Bessere Männer als Talbot sind zähneknirschend mit dein Ausrufe oder
wenigstens dein Gedanken gestorben: "Unsinn, dn siegst, und ich muß unter-
gehn!" Wahr ist an der Verbindung, die von den Evolutionisten zwischen
Natur und Moral angenommen zu werden Pflegt, nur so viel, daß in dem
Wettstreit ums Dasein nicht bloß die schlechten, sondern auch die guten An¬
lagen gekräftigt werde,?, und daß die Macht der schlechten Triebe ein gewisses
Maß nicht überschreiten darf, wenn sie nicht das Gemeinwesen zerstören soll,
in dein sie herrschen. Wie zu erwarten war, sieht auch Carus im Polypen-
staat und im Zellenstnate das Musterbild einer moralischen Gesellschaft (ob¬
wohl auf das alte Rom und das moderne England, deren Moralität ihm
ganz besonders behagt, weit eher das Bild vom Hecht im Karpfenteiche paßt).
Aber das Wesen der menschlichen Gesellschaft liegt eben darin, daß sie kein
Bienen-, Polypen- oder Zellenstaat, sondern aus Einzelwesen zusammengesetzt
ist, von denen jedes seine Charaktereigentümlichkcit dem Ganzen gegenüber
geltend macht und geltend machen soll. Wird irgendwo einmal durch Despo¬
tismus von oben oder durch demokratische Gleichmacherei von unten jene vor¬
treffliche Ordnung vorübergehend hergestellt, die alle Individualität vernichtet
und die Einzelnen nur noch als belebte Maschinenteile thätig sein läßt, so ist
damit anch allemal der Untergang dieses Gemeinwesens besiegelt. Nicht ein¬
mal dort, wo die strengste Ordnung und Unterordnung am unentbehrlichsten
ist, im Kriegsheere, kann auf den frei waltenden Geist, auf die unberechenbare
Mitwirkung glücklicher Einfülle, auf die Opposition reformatorischer Geister
gegen Gewohnheit und Herkommen verzichtet werden.

Gleich den meisten Philosophen - - unter den Ausnahmen ragen besonders
Kant und Herbart hervor versucht auch Carus sich und seine Leser zu
überreden, daß die Moral, die praktische Philosophie, auf der theoretischen
beruhe, daß demnach die Annahme der allein richtigen, d. h. seiner eignen
Philosophie von der höchsten praktischen Wichtigkeit sei. Die alte Erfahrung,
daß alle Philosophen zu derselben Moral gelangen, und daß die Sittensprüche,
die sie ihrem Weltgedicht anzuhängen pflegen, eine verzweifelte Ähnlichkeit mit
den zehn Geboten haben, ist also immer noch nicht kräftig genug, den Nach¬
wuchs vor der Einbildung zu behüten, er habe die Aufgabe überkommen und
gelöst, der Welt auf spekulativem Wege zur echten Sittlichkeit zu verhelfen.
Die Sittlichkeit ruht unerschütterlich fest auf den sittlichen Ideen, die ebenso
an- und eingeboren sind wie die ästhetischen Ideen und die Denkgesetze, und
die sich bei allen gesellig lebenden Menschen im großen und ganzen überein¬
stimmend entwickeln. Religionen und philosophische Systeme, sofern letztere
einigen Einfluß aufs Volk erlangen, bewirken eine strengere oder schlaffere
Auffassung des Sittengesetzes, begünstigen mehr die eine oder die andre der
sittlichen Ideen, aber diese selbst lassen sie unangetastet und vermehren ihre
Zahl so wenig, als sie sie vermindern. Selbst wenn eine Religion zu den


Grenzboten I 1891 3
Amerikanische Philosophie

Bessere Männer als Talbot sind zähneknirschend mit dein Ausrufe oder
wenigstens dein Gedanken gestorben: „Unsinn, dn siegst, und ich muß unter-
gehn!" Wahr ist an der Verbindung, die von den Evolutionisten zwischen
Natur und Moral angenommen zu werden Pflegt, nur so viel, daß in dem
Wettstreit ums Dasein nicht bloß die schlechten, sondern auch die guten An¬
lagen gekräftigt werde,?, und daß die Macht der schlechten Triebe ein gewisses
Maß nicht überschreiten darf, wenn sie nicht das Gemeinwesen zerstören soll,
in dein sie herrschen. Wie zu erwarten war, sieht auch Carus im Polypen-
staat und im Zellenstnate das Musterbild einer moralischen Gesellschaft (ob¬
wohl auf das alte Rom und das moderne England, deren Moralität ihm
ganz besonders behagt, weit eher das Bild vom Hecht im Karpfenteiche paßt).
Aber das Wesen der menschlichen Gesellschaft liegt eben darin, daß sie kein
Bienen-, Polypen- oder Zellenstaat, sondern aus Einzelwesen zusammengesetzt
ist, von denen jedes seine Charaktereigentümlichkcit dem Ganzen gegenüber
geltend macht und geltend machen soll. Wird irgendwo einmal durch Despo¬
tismus von oben oder durch demokratische Gleichmacherei von unten jene vor¬
treffliche Ordnung vorübergehend hergestellt, die alle Individualität vernichtet
und die Einzelnen nur noch als belebte Maschinenteile thätig sein läßt, so ist
damit anch allemal der Untergang dieses Gemeinwesens besiegelt. Nicht ein¬
mal dort, wo die strengste Ordnung und Unterordnung am unentbehrlichsten
ist, im Kriegsheere, kann auf den frei waltenden Geist, auf die unberechenbare
Mitwirkung glücklicher Einfülle, auf die Opposition reformatorischer Geister
gegen Gewohnheit und Herkommen verzichtet werden.

Gleich den meisten Philosophen - - unter den Ausnahmen ragen besonders
Kant und Herbart hervor versucht auch Carus sich und seine Leser zu
überreden, daß die Moral, die praktische Philosophie, auf der theoretischen
beruhe, daß demnach die Annahme der allein richtigen, d. h. seiner eignen
Philosophie von der höchsten praktischen Wichtigkeit sei. Die alte Erfahrung,
daß alle Philosophen zu derselben Moral gelangen, und daß die Sittensprüche,
die sie ihrem Weltgedicht anzuhängen pflegen, eine verzweifelte Ähnlichkeit mit
den zehn Geboten haben, ist also immer noch nicht kräftig genug, den Nach¬
wuchs vor der Einbildung zu behüten, er habe die Aufgabe überkommen und
gelöst, der Welt auf spekulativem Wege zur echten Sittlichkeit zu verhelfen.
Die Sittlichkeit ruht unerschütterlich fest auf den sittlichen Ideen, die ebenso
an- und eingeboren sind wie die ästhetischen Ideen und die Denkgesetze, und
die sich bei allen gesellig lebenden Menschen im großen und ganzen überein¬
stimmend entwickeln. Religionen und philosophische Systeme, sofern letztere
einigen Einfluß aufs Volk erlangen, bewirken eine strengere oder schlaffere
Auffassung des Sittengesetzes, begünstigen mehr die eine oder die andre der
sittlichen Ideen, aber diese selbst lassen sie unangetastet und vermehren ihre
Zahl so wenig, als sie sie vermindern. Selbst wenn eine Religion zu den


Grenzboten I 1891 3
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[0025] Amerikanische Philosophie Bessere Männer als Talbot sind zähneknirschend mit dein Ausrufe oder wenigstens dein Gedanken gestorben: „Unsinn, dn siegst, und ich muß unter- gehn!" Wahr ist an der Verbindung, die von den Evolutionisten zwischen Natur und Moral angenommen zu werden Pflegt, nur so viel, daß in dem Wettstreit ums Dasein nicht bloß die schlechten, sondern auch die guten An¬ lagen gekräftigt werde,?, und daß die Macht der schlechten Triebe ein gewisses Maß nicht überschreiten darf, wenn sie nicht das Gemeinwesen zerstören soll, in dein sie herrschen. Wie zu erwarten war, sieht auch Carus im Polypen- staat und im Zellenstnate das Musterbild einer moralischen Gesellschaft (ob¬ wohl auf das alte Rom und das moderne England, deren Moralität ihm ganz besonders behagt, weit eher das Bild vom Hecht im Karpfenteiche paßt). Aber das Wesen der menschlichen Gesellschaft liegt eben darin, daß sie kein Bienen-, Polypen- oder Zellenstaat, sondern aus Einzelwesen zusammengesetzt ist, von denen jedes seine Charaktereigentümlichkcit dem Ganzen gegenüber geltend macht und geltend machen soll. Wird irgendwo einmal durch Despo¬ tismus von oben oder durch demokratische Gleichmacherei von unten jene vor¬ treffliche Ordnung vorübergehend hergestellt, die alle Individualität vernichtet und die Einzelnen nur noch als belebte Maschinenteile thätig sein läßt, so ist damit anch allemal der Untergang dieses Gemeinwesens besiegelt. Nicht ein¬ mal dort, wo die strengste Ordnung und Unterordnung am unentbehrlichsten ist, im Kriegsheere, kann auf den frei waltenden Geist, auf die unberechenbare Mitwirkung glücklicher Einfülle, auf die Opposition reformatorischer Geister gegen Gewohnheit und Herkommen verzichtet werden. Gleich den meisten Philosophen - - unter den Ausnahmen ragen besonders Kant und Herbart hervor versucht auch Carus sich und seine Leser zu überreden, daß die Moral, die praktische Philosophie, auf der theoretischen beruhe, daß demnach die Annahme der allein richtigen, d. h. seiner eignen Philosophie von der höchsten praktischen Wichtigkeit sei. Die alte Erfahrung, daß alle Philosophen zu derselben Moral gelangen, und daß die Sittensprüche, die sie ihrem Weltgedicht anzuhängen pflegen, eine verzweifelte Ähnlichkeit mit den zehn Geboten haben, ist also immer noch nicht kräftig genug, den Nach¬ wuchs vor der Einbildung zu behüten, er habe die Aufgabe überkommen und gelöst, der Welt auf spekulativem Wege zur echten Sittlichkeit zu verhelfen. Die Sittlichkeit ruht unerschütterlich fest auf den sittlichen Ideen, die ebenso an- und eingeboren sind wie die ästhetischen Ideen und die Denkgesetze, und die sich bei allen gesellig lebenden Menschen im großen und ganzen überein¬ stimmend entwickeln. Religionen und philosophische Systeme, sofern letztere einigen Einfluß aufs Volk erlangen, bewirken eine strengere oder schlaffere Auffassung des Sittengesetzes, begünstigen mehr die eine oder die andre der sittlichen Ideen, aber diese selbst lassen sie unangetastet und vermehren ihre Zahl so wenig, als sie sie vermindern. Selbst wenn eine Religion zu den Grenzboten I 1891 3

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/25>, abgerufen am 25.08.2024.