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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Unerfüllter Pflicht
Mir versagt und verbittert hat,
Zu genießen,
Nach gethaner Arbeit,
Mes erlebtem Glück
Zu entschlafe".

Wenn wir in der Poesie die reine, unbefangene Menschennatur zu sehen
fordern, so ist es wohl der äußerste Gegensatz von Naivität, sich das Recht
zu leben und zu genießen erst durch ein gutes Buch erwerben zu wollen. Aber
der litterarische Mensch in Berger hat hier sein Innerstes bloßgelegt, wie er
in dem Gedichte "Klage" seinen Zwiespalt beschreibt, der ihn am künstlerischen
Schaffen hindert:


Wie lang ists her, daß nur kein Lied
Zu voller duftiger Schönheit geriet I --
Das macht: ich bin -- kaum weiß ich wie --
Erkrankt an chronischer Psychologie.
Die Dämmrung lieben Geister und Dichter,
Doch in mir brennen zu hell die Lichter,
Sie stören das traulich schaurige Walten
Der zarten poetischen Duftgestalte".
Zu feine", seelenkundigen Reden
Verspinn' ich die Gebankenfaden,
Gewonnen dnrch herzlos kaltes Zergliedern
Von warm gefühlte" lebendigen Liedern.
Wer wiißt' es nicht: der Horcher im Haus
scheucht Heimlichkeit und Leben hinaus;
Ein Horcher im Herzen belauert mich
Mit siechender Blicken: der Horcher bin ich!
Und fängt es dennoch an zu keimen,
Sich im Geheimen leise zu reimen --
Sein kaltes Ang (!) sieht starr mir zu --
Jahes Verstummen, Grabesruh.

Besser, als eiir andrer es sagen könnte, übt Berger hier an sich Selbst¬
kritik, er giebt uns selbst den Schlüssel zu all seinem Dichten und Philoso¬
phiren in die Hand. Der "Horcher" hat die Muse vertrieben, so wie es dem
größer" Landsmanne Bergers, Grillparzer, auch zeitweise ergangen ist.

Aber es liegt doch auch wieder ein Segen auf jeder wahren Erkenntnis.
Wäre Berger, wie so viele andere gleich ihm angelegte Reflexionsdichter in dem
philosophirenden Dichten stecken geblieben, so wäre weder der große Kritiker noch
ein besserer Dichter aus ihm geworden. Die Erkenntnis der Wahrheit jedoch
hat ihm die Bahn zu anderer schöpferischer Arbeit geöffnet: zur schöpferischen
Kritik, die ihm so als innerster Beruf vorgezeichnet ist. Der "Horcher" in



Unerfüllter Pflicht
Mir versagt und verbittert hat,
Zu genießen,
Nach gethaner Arbeit,
Mes erlebtem Glück
Zu entschlafe».

Wenn wir in der Poesie die reine, unbefangene Menschennatur zu sehen
fordern, so ist es wohl der äußerste Gegensatz von Naivität, sich das Recht
zu leben und zu genießen erst durch ein gutes Buch erwerben zu wollen. Aber
der litterarische Mensch in Berger hat hier sein Innerstes bloßgelegt, wie er
in dem Gedichte „Klage" seinen Zwiespalt beschreibt, der ihn am künstlerischen
Schaffen hindert:


Wie lang ists her, daß nur kein Lied
Zu voller duftiger Schönheit geriet I —
Das macht: ich bin — kaum weiß ich wie —
Erkrankt an chronischer Psychologie.
Die Dämmrung lieben Geister und Dichter,
Doch in mir brennen zu hell die Lichter,
Sie stören das traulich schaurige Walten
Der zarten poetischen Duftgestalte».
Zu feine», seelenkundigen Reden
Verspinn' ich die Gebankenfaden,
Gewonnen dnrch herzlos kaltes Zergliedern
Von warm gefühlte» lebendigen Liedern.
Wer wiißt' es nicht: der Horcher im Haus
scheucht Heimlichkeit und Leben hinaus;
Ein Horcher im Herzen belauert mich
Mit siechender Blicken: der Horcher bin ich!
Und fängt es dennoch an zu keimen,
Sich im Geheimen leise zu reimen —
Sein kaltes Ang (!) sieht starr mir zu —
Jahes Verstummen, Grabesruh.

Besser, als eiir andrer es sagen könnte, übt Berger hier an sich Selbst¬
kritik, er giebt uns selbst den Schlüssel zu all seinem Dichten und Philoso¬
phiren in die Hand. Der „Horcher" hat die Muse vertrieben, so wie es dem
größer» Landsmanne Bergers, Grillparzer, auch zeitweise ergangen ist.

Aber es liegt doch auch wieder ein Segen auf jeder wahren Erkenntnis.
Wäre Berger, wie so viele andere gleich ihm angelegte Reflexionsdichter in dem
philosophirenden Dichten stecken geblieben, so wäre weder der große Kritiker noch
ein besserer Dichter aus ihm geworden. Die Erkenntnis der Wahrheit jedoch
hat ihm die Bahn zu anderer schöpferischer Arbeit geöffnet: zur schöpferischen
Kritik, die ihm so als innerster Beruf vorgezeichnet ist. Der „Horcher" in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/239>, abgerufen am 23.07.2024.