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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Der gegenwärtige Stand der Arbeiterbewegung

demokratischen Bestrebungen Front gemacht. Hie und da, wie in Hnlberstadt,
sind auch "Königstrene Arbeitervereine" gegründet worden. Auch die "Evan¬
gelischen Arbeitervereine" zeigen eine erfreuliche Zunahme. Ihre Zahl beläuft
sich jetzt auf 183 mit 40 bis 5)0000 Mitgliedern. Auch die katholischen
Arbeitervereine gewinnen anscheinend an Ausdehnung. Doch darüber ist nach
den Berichten kein Zweifel: von einem wesentlichen Abbruche der sozial-
demokratischen Bewegung im allgemeinen kann noch nicht die Rede sein. Das;
sich demgegenüber auch die Arbeitgeber zusammenzuschließen fortfahren, ist
selbstverständlich. Insbesondre wird dies von dein Baugewerbe zu Magdeburg
berichtet.

Es ist nun doch fraglich, ob der Staat ruhig zusehen darf, wie die
Spaltung zwischen den Arbeitgebern und den Arbeitern infolge jener Organisation
täglich zunimmt und in dem wirtschaftlichen Kampfe alles in Machtfrage um¬
gesetzt werden soll. Freilich wird der Arbeiter selbst bei der besten Organisation
schließlich unterliegen, wenn er den Bogen zu straff spannt. Aber durch
eine solche Katastrophe würden auch die Lebensbedingungen weitester Kreise
gefährdet werden. Niemand wird sie wünschen. Glücklicherweise fehlt es in
dem verflossenen Bierteljahre nicht an Anzeichen, daß nicht allen Arbeiterkreisen
die Besonnenheit abhanden gekommen ist. So haben die Korbmacher Leipzigs
der von ihr kürzlich gebildeten Lohnkvmmission ausdrücklich zur Pflicht gemacht,
bei ihren Berhandlnngen mit den Arbeitgeber" die Forderungen nicht zu hoch
zu stellen, sondern auf eine gütliche Auseinandersetzung bedacht zu sein. Doch
ist bis jetzt ein solches Verfahren nur als eine Ausnahme anzusehen. Meist
behalten die radikalen Elemente die Oberhand. Es erscheint daher wohl ge¬
fährlich, wenn sich einmal eine gewisse Organisation der Arbeiter nicht unter¬
drücken läßt, sie ausschließlich den Agitatoren zu überlassen, die lediglich das
einseitige Interesse haben, sie als Kampfmittel, statt zur Versöhnung der
Gegensätze, zu gebrauchen. Wo wie in Solingen der Streik mit besondrer
Heftigkeit geführt worden ist, haben daher die Verhältnisse von selbst zur
Bildung von Vergleichskammern geführt. Auch die Arbeiter und die Arbeit¬
geber der Berliner Stvckfabrikation haben zur Verhütung von Aufständen ein
Einigungsamt zu bilden beschlossen. Mehr noch als von Arbeiterversicherung
und Arbeiterschutzgesetzgebung hängt die Vermeidung jeder Katastrophe davon
ab, ob es gelingen wird, die nach Aufhebung des Sozialistengcsetzes uicht mehr
zu verhindernde Organisation der Arbeiter den sozialdemokratischen Agitatoren
abzunehmen. So lange dies nicht geschieht, wird die Arbeiterbewegung eine
stete Gefahr für die Nation bleiben.




Der gegenwärtige Stand der Arbeiterbewegung

demokratischen Bestrebungen Front gemacht. Hie und da, wie in Hnlberstadt,
sind auch „Königstrene Arbeitervereine" gegründet worden. Auch die „Evan¬
gelischen Arbeitervereine" zeigen eine erfreuliche Zunahme. Ihre Zahl beläuft
sich jetzt auf 183 mit 40 bis 5)0000 Mitgliedern. Auch die katholischen
Arbeitervereine gewinnen anscheinend an Ausdehnung. Doch darüber ist nach
den Berichten kein Zweifel: von einem wesentlichen Abbruche der sozial-
demokratischen Bewegung im allgemeinen kann noch nicht die Rede sein. Das;
sich demgegenüber auch die Arbeitgeber zusammenzuschließen fortfahren, ist
selbstverständlich. Insbesondre wird dies von dein Baugewerbe zu Magdeburg
berichtet.

Es ist nun doch fraglich, ob der Staat ruhig zusehen darf, wie die
Spaltung zwischen den Arbeitgebern und den Arbeitern infolge jener Organisation
täglich zunimmt und in dem wirtschaftlichen Kampfe alles in Machtfrage um¬
gesetzt werden soll. Freilich wird der Arbeiter selbst bei der besten Organisation
schließlich unterliegen, wenn er den Bogen zu straff spannt. Aber durch
eine solche Katastrophe würden auch die Lebensbedingungen weitester Kreise
gefährdet werden. Niemand wird sie wünschen. Glücklicherweise fehlt es in
dem verflossenen Bierteljahre nicht an Anzeichen, daß nicht allen Arbeiterkreisen
die Besonnenheit abhanden gekommen ist. So haben die Korbmacher Leipzigs
der von ihr kürzlich gebildeten Lohnkvmmission ausdrücklich zur Pflicht gemacht,
bei ihren Berhandlnngen mit den Arbeitgeber» die Forderungen nicht zu hoch
zu stellen, sondern auf eine gütliche Auseinandersetzung bedacht zu sein. Doch
ist bis jetzt ein solches Verfahren nur als eine Ausnahme anzusehen. Meist
behalten die radikalen Elemente die Oberhand. Es erscheint daher wohl ge¬
fährlich, wenn sich einmal eine gewisse Organisation der Arbeiter nicht unter¬
drücken läßt, sie ausschließlich den Agitatoren zu überlassen, die lediglich das
einseitige Interesse haben, sie als Kampfmittel, statt zur Versöhnung der
Gegensätze, zu gebrauchen. Wo wie in Solingen der Streik mit besondrer
Heftigkeit geführt worden ist, haben daher die Verhältnisse von selbst zur
Bildung von Vergleichskammern geführt. Auch die Arbeiter und die Arbeit¬
geber der Berliner Stvckfabrikation haben zur Verhütung von Aufständen ein
Einigungsamt zu bilden beschlossen. Mehr noch als von Arbeiterversicherung
und Arbeiterschutzgesetzgebung hängt die Vermeidung jeder Katastrophe davon
ab, ob es gelingen wird, die nach Aufhebung des Sozialistengcsetzes uicht mehr
zu verhindernde Organisation der Arbeiter den sozialdemokratischen Agitatoren
abzunehmen. So lange dies nicht geschieht, wird die Arbeiterbewegung eine
stete Gefahr für die Nation bleiben.




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[0206] Der gegenwärtige Stand der Arbeiterbewegung demokratischen Bestrebungen Front gemacht. Hie und da, wie in Hnlberstadt, sind auch „Königstrene Arbeitervereine" gegründet worden. Auch die „Evan¬ gelischen Arbeitervereine" zeigen eine erfreuliche Zunahme. Ihre Zahl beläuft sich jetzt auf 183 mit 40 bis 5)0000 Mitgliedern. Auch die katholischen Arbeitervereine gewinnen anscheinend an Ausdehnung. Doch darüber ist nach den Berichten kein Zweifel: von einem wesentlichen Abbruche der sozial- demokratischen Bewegung im allgemeinen kann noch nicht die Rede sein. Das; sich demgegenüber auch die Arbeitgeber zusammenzuschließen fortfahren, ist selbstverständlich. Insbesondre wird dies von dein Baugewerbe zu Magdeburg berichtet. Es ist nun doch fraglich, ob der Staat ruhig zusehen darf, wie die Spaltung zwischen den Arbeitgebern und den Arbeitern infolge jener Organisation täglich zunimmt und in dem wirtschaftlichen Kampfe alles in Machtfrage um¬ gesetzt werden soll. Freilich wird der Arbeiter selbst bei der besten Organisation schließlich unterliegen, wenn er den Bogen zu straff spannt. Aber durch eine solche Katastrophe würden auch die Lebensbedingungen weitester Kreise gefährdet werden. Niemand wird sie wünschen. Glücklicherweise fehlt es in dem verflossenen Bierteljahre nicht an Anzeichen, daß nicht allen Arbeiterkreisen die Besonnenheit abhanden gekommen ist. So haben die Korbmacher Leipzigs der von ihr kürzlich gebildeten Lohnkvmmission ausdrücklich zur Pflicht gemacht, bei ihren Berhandlnngen mit den Arbeitgeber» die Forderungen nicht zu hoch zu stellen, sondern auf eine gütliche Auseinandersetzung bedacht zu sein. Doch ist bis jetzt ein solches Verfahren nur als eine Ausnahme anzusehen. Meist behalten die radikalen Elemente die Oberhand. Es erscheint daher wohl ge¬ fährlich, wenn sich einmal eine gewisse Organisation der Arbeiter nicht unter¬ drücken läßt, sie ausschließlich den Agitatoren zu überlassen, die lediglich das einseitige Interesse haben, sie als Kampfmittel, statt zur Versöhnung der Gegensätze, zu gebrauchen. Wo wie in Solingen der Streik mit besondrer Heftigkeit geführt worden ist, haben daher die Verhältnisse von selbst zur Bildung von Vergleichskammern geführt. Auch die Arbeiter und die Arbeit¬ geber der Berliner Stvckfabrikation haben zur Verhütung von Aufständen ein Einigungsamt zu bilden beschlossen. Mehr noch als von Arbeiterversicherung und Arbeiterschutzgesetzgebung hängt die Vermeidung jeder Katastrophe davon ab, ob es gelingen wird, die nach Aufhebung des Sozialistengcsetzes uicht mehr zu verhindernde Organisation der Arbeiter den sozialdemokratischen Agitatoren abzunehmen. So lange dies nicht geschieht, wird die Arbeiterbewegung eine stete Gefahr für die Nation bleiben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/206>, abgerufen am 25.08.2024.