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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Der gegenwärtige Stand der Arbeiterbewegung

keit entwickelt. Ob nun in der politischen Organisation wirkliche Fortschritte
zu verzeichnen sind, läßt sich aus jenen Berichten nicht erkennen. In Baiern
und Sachsen wird sie durch die dort geltenden Vereinsgesetze, wie auf dem
Sozialistenkongreß in Halle hervorgehoben worden ist, ungemein erschwert;
dort wird es also auch ferner im ganzen bei einern loseren Organisation sein
Bewenden haben müssen. Am energischsten scheinen die Textilarbeiter der
Provinz Brandenburg die Organisation zu betreiben. Sie haben schon auf
der erwähnten Versammlung in Kottbus, wo 13 Orte durch 35 Abgeordnete
vertreten waren, einen Vertrauensmann für jeden Ort und einen für die ge¬
samte Provinz gewählt.

Im übrigen scheint die örtliche Agitation jetzt aus den Versammlungen,
von denen es heißt, daß sie schlecht besucht seien, mehr in die Wcrkstnben
verlegt zu werden, wodurch man größere Erfolge zu erreichen hofft.

Aber nicht alle Berichte für die sozialdemokratische Bewegung lauten
günstig. Zum Beispiel steht es in Leipzig innerhalb des Tischlerverbandes
mit der Organisation angeblich "dürftig." In Berlin haben sich von
20 009 Kellnern nur 250 dem Vereine der Gastwirtsgehilfen angeschlossen.
Die Arbeitslosigkeit nimmt in den großen Städten zu, in Berlin sollen
50000 Personen ohne Beschäftigung sein. Es soll den Vertrauensmännern
bereits schwer werden, die üblichen Bons zum besten der Parteikasse regel¬
mäßig abzunehmen und zu bezahlen. Selbst in den großen Mittelpunkten,
wo die Parteidisziplin tiefer wurzelt als anderswo, bedarf es der ganzen
Energie der mit diesem Geschäfte betrauten Genossen, um die stetig Annehmende
Lauheit nicht in offenen Widerstand ausarten zu lassen. Hierzu kommt der
noch uicht ganz beendete Streit zwischen den "Alten" und den "Jungen."
Die Bewegung hat also selbst in den Kreisen der zu ihr hinneigenden Arbeiter
noch Schwierigkeiten und Gegensätze mancherlei Art zu überwinden.

Trotzdem hat die Parteileitung den Beschluß gefaßt, die Agitation weiter
und zwar noch auf das flache Land auszudehnen. Zunächst ist man bemüht
gewesen, die hierfür geeignete" Personen auszusuchen und in den Berliner
,,Diskntirklnbs" auszubilden. Große Erfolge find jedoch, das lassen die
Berichte durchblicken, noch nicht zu verzeichnen.

Bemerkenswert ist, daß gegenüber der Sozialdemokratie mit ihren religiösen
und politischen Irrlehren auch eine Bewegung uuter den Arbeitern an Boden
gewinnt, die Religion und Politik von der Erörterung ausschließt und nur
die Hebung nützlicher Erwerbsverhältnisfe bezweckt. In diesem Sinne wird
eine Organisation der gewerblichen Arbeiter in Mainz versucht. Einen ähnlichen
Standpunkt nimmt namentlich die Mehrzahl der Bergarbeiter ein, wie dies
auf ihrer Versammlung in Halle zum Ausdruck gekommen ist. Dasselbe gilt
von den Zieglern im Lippischen. Auch der allgemeine Verband der Bmner-
gehilfen hat ans einer in Hamburg abgehaltenen Versammlung gegen die sozial-


Der gegenwärtige Stand der Arbeiterbewegung

keit entwickelt. Ob nun in der politischen Organisation wirkliche Fortschritte
zu verzeichnen sind, läßt sich aus jenen Berichten nicht erkennen. In Baiern
und Sachsen wird sie durch die dort geltenden Vereinsgesetze, wie auf dem
Sozialistenkongreß in Halle hervorgehoben worden ist, ungemein erschwert;
dort wird es also auch ferner im ganzen bei einern loseren Organisation sein
Bewenden haben müssen. Am energischsten scheinen die Textilarbeiter der
Provinz Brandenburg die Organisation zu betreiben. Sie haben schon auf
der erwähnten Versammlung in Kottbus, wo 13 Orte durch 35 Abgeordnete
vertreten waren, einen Vertrauensmann für jeden Ort und einen für die ge¬
samte Provinz gewählt.

Im übrigen scheint die örtliche Agitation jetzt aus den Versammlungen,
von denen es heißt, daß sie schlecht besucht seien, mehr in die Wcrkstnben
verlegt zu werden, wodurch man größere Erfolge zu erreichen hofft.

Aber nicht alle Berichte für die sozialdemokratische Bewegung lauten
günstig. Zum Beispiel steht es in Leipzig innerhalb des Tischlerverbandes
mit der Organisation angeblich „dürftig." In Berlin haben sich von
20 009 Kellnern nur 250 dem Vereine der Gastwirtsgehilfen angeschlossen.
Die Arbeitslosigkeit nimmt in den großen Städten zu, in Berlin sollen
50000 Personen ohne Beschäftigung sein. Es soll den Vertrauensmännern
bereits schwer werden, die üblichen Bons zum besten der Parteikasse regel¬
mäßig abzunehmen und zu bezahlen. Selbst in den großen Mittelpunkten,
wo die Parteidisziplin tiefer wurzelt als anderswo, bedarf es der ganzen
Energie der mit diesem Geschäfte betrauten Genossen, um die stetig Annehmende
Lauheit nicht in offenen Widerstand ausarten zu lassen. Hierzu kommt der
noch uicht ganz beendete Streit zwischen den „Alten" und den „Jungen."
Die Bewegung hat also selbst in den Kreisen der zu ihr hinneigenden Arbeiter
noch Schwierigkeiten und Gegensätze mancherlei Art zu überwinden.

Trotzdem hat die Parteileitung den Beschluß gefaßt, die Agitation weiter
und zwar noch auf das flache Land auszudehnen. Zunächst ist man bemüht
gewesen, die hierfür geeignete» Personen auszusuchen und in den Berliner
,,Diskntirklnbs" auszubilden. Große Erfolge find jedoch, das lassen die
Berichte durchblicken, noch nicht zu verzeichnen.

Bemerkenswert ist, daß gegenüber der Sozialdemokratie mit ihren religiösen
und politischen Irrlehren auch eine Bewegung uuter den Arbeitern an Boden
gewinnt, die Religion und Politik von der Erörterung ausschließt und nur
die Hebung nützlicher Erwerbsverhältnisfe bezweckt. In diesem Sinne wird
eine Organisation der gewerblichen Arbeiter in Mainz versucht. Einen ähnlichen
Standpunkt nimmt namentlich die Mehrzahl der Bergarbeiter ein, wie dies
auf ihrer Versammlung in Halle zum Ausdruck gekommen ist. Dasselbe gilt
von den Zieglern im Lippischen. Auch der allgemeine Verband der Bmner-
gehilfen hat ans einer in Hamburg abgehaltenen Versammlung gegen die sozial-


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[0205] Der gegenwärtige Stand der Arbeiterbewegung keit entwickelt. Ob nun in der politischen Organisation wirkliche Fortschritte zu verzeichnen sind, läßt sich aus jenen Berichten nicht erkennen. In Baiern und Sachsen wird sie durch die dort geltenden Vereinsgesetze, wie auf dem Sozialistenkongreß in Halle hervorgehoben worden ist, ungemein erschwert; dort wird es also auch ferner im ganzen bei einern loseren Organisation sein Bewenden haben müssen. Am energischsten scheinen die Textilarbeiter der Provinz Brandenburg die Organisation zu betreiben. Sie haben schon auf der erwähnten Versammlung in Kottbus, wo 13 Orte durch 35 Abgeordnete vertreten waren, einen Vertrauensmann für jeden Ort und einen für die ge¬ samte Provinz gewählt. Im übrigen scheint die örtliche Agitation jetzt aus den Versammlungen, von denen es heißt, daß sie schlecht besucht seien, mehr in die Wcrkstnben verlegt zu werden, wodurch man größere Erfolge zu erreichen hofft. Aber nicht alle Berichte für die sozialdemokratische Bewegung lauten günstig. Zum Beispiel steht es in Leipzig innerhalb des Tischlerverbandes mit der Organisation angeblich „dürftig." In Berlin haben sich von 20 009 Kellnern nur 250 dem Vereine der Gastwirtsgehilfen angeschlossen. Die Arbeitslosigkeit nimmt in den großen Städten zu, in Berlin sollen 50000 Personen ohne Beschäftigung sein. Es soll den Vertrauensmännern bereits schwer werden, die üblichen Bons zum besten der Parteikasse regel¬ mäßig abzunehmen und zu bezahlen. Selbst in den großen Mittelpunkten, wo die Parteidisziplin tiefer wurzelt als anderswo, bedarf es der ganzen Energie der mit diesem Geschäfte betrauten Genossen, um die stetig Annehmende Lauheit nicht in offenen Widerstand ausarten zu lassen. Hierzu kommt der noch uicht ganz beendete Streit zwischen den „Alten" und den „Jungen." Die Bewegung hat also selbst in den Kreisen der zu ihr hinneigenden Arbeiter noch Schwierigkeiten und Gegensätze mancherlei Art zu überwinden. Trotzdem hat die Parteileitung den Beschluß gefaßt, die Agitation weiter und zwar noch auf das flache Land auszudehnen. Zunächst ist man bemüht gewesen, die hierfür geeignete» Personen auszusuchen und in den Berliner ,,Diskntirklnbs" auszubilden. Große Erfolge find jedoch, das lassen die Berichte durchblicken, noch nicht zu verzeichnen. Bemerkenswert ist, daß gegenüber der Sozialdemokratie mit ihren religiösen und politischen Irrlehren auch eine Bewegung uuter den Arbeitern an Boden gewinnt, die Religion und Politik von der Erörterung ausschließt und nur die Hebung nützlicher Erwerbsverhältnisfe bezweckt. In diesem Sinne wird eine Organisation der gewerblichen Arbeiter in Mainz versucht. Einen ähnlichen Standpunkt nimmt namentlich die Mehrzahl der Bergarbeiter ein, wie dies auf ihrer Versammlung in Halle zum Ausdruck gekommen ist. Dasselbe gilt von den Zieglern im Lippischen. Auch der allgemeine Verband der Bmner- gehilfen hat ans einer in Hamburg abgehaltenen Versammlung gegen die sozial-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/205>, abgerufen am 23.07.2024.