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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Daudet als Humorist und Satiriker

Hausgeschichte im "Oliver Toise" -- angesehen werden können, oder ob nicht
vielmehr das von Daudet über Nvcheforts Stil gefällte Urteil gilt, daß "es
unbewußte Nachahmungen giebt, denen sich niemand entziehen kann." Jeden¬
falls haben derartige Anklänge an berühmte und ältere Werke eines unzweifel¬
haft größern Schriftstellers immer etwas Bedenkliches, und allen Erklärungs¬
versuchen zum Trotze bleibt die Neigung, Vergleiche anzustellen, berechtigt.

Im "Kleinen Dingsda" beschränkt sich die Ähnlichkeit auf die äußere An¬
lage; die Ausführung ist grundverschieden und reicht in dem französischen
Roman nicht im entferntesten an die des englischen heran.

Man vergleiche beispielsweise die Ereignisse in Snrlande, die Daudet
eingehend behandelt, mit dem entsprechenden Abschnitt im "Copperfield," dem
Leben in Salemhouse, und ziehe zur Erweiterung der Parallele etwa noch die
Schilderung von Blimbers Anstalt (in Dombey) und von Squecrs Institut
(in Nicolaus Nicklebh) heran. Welch ein Unterschied! Wie anschaulich und
lebensvoll weiß Dickens zu schildern! Wie versteht er in dem gleichförmigen,
reizlosen und zum Teil so qualvollen Dasein auch die heitern und gemütlichern
Seiten, die sich die Jugend auch hinter Schloß und Riegel zu schaffen weiß,
ins rechte Licht zu setzen! Von diesem Reichtum der Erfindung und der
Mannigfaltigkeit der Schilderung zeigt Daudet im "Kleinen Dingsda" nur
wenig Spuren. Es fehlt ihm nicht an charakteristischen Zügen, nicht an
Humor; aber dieser läßt kalt, und jene vereinigen sich nicht zu einem deut¬
lichen Bilde. Wenn man Dickens Schilderungen gelesen hat, so glaubt man
Jahre in jenen Instituten selbst zugebracht zu haben; von Sarlande hat
man einmal erzählen hören und aus dem Bericht die Erinnerung an einige
besonders eindrucksvolle Ereignisse bewahrt. Daß Dickens jene Zeiten viel
eingehender und breiter behandelt, als Daudet, erklärt den Unterschied nicht,
wenn auch die Wirkung der abwechsluugsvvlleu, farbenreichen Kleinmalerei
nicht unterschätzt werden darf. Der Grund liegt tiefer.

In dem bereits erwähnten Buche "Dreißig Jahre Paris" erzählt Daudet
die Entstehungsgeschichte seines Romans und macht das auffallende Bekenntnis,
er wünschte, daß die ersten Seiten seines Romans etwas mehr von dem Duft
der Kinderjahre enthielten. Ich glaube nicht, daß der Unterschied zwischen diesen
Erinnerungen und Dickens Schilderungen kürzer und treffender hätte ausge¬
drückt werden können. Jener Schimmer von Zufriedenheit und Glück, mit
dem Dickens anch eine armselige Kindheit verklärt, fehlt dem Daudetschen
Buche. Es scheint, als ob der französische Dichter jene Quellen, aus denen
ein verlassenes und gequältes Kind seine unscheinbaren Freuden, ein mit Not
und Demütigungen rümpfender Jüngling Mut zum Leben schöpft, nicht genug
gewürdigt hätte. Den Grund dieses Mangels leitet er an einer andern Stelle
des erwähnten Buches aus dem Umstände her, daß er bei Abfnssuug des
Romans noch zu jung gewesen sei und jenen Lebensabschnitt nicht aus der


Daudet als Humorist und Satiriker

Hausgeschichte im „Oliver Toise" — angesehen werden können, oder ob nicht
vielmehr das von Daudet über Nvcheforts Stil gefällte Urteil gilt, daß „es
unbewußte Nachahmungen giebt, denen sich niemand entziehen kann." Jeden¬
falls haben derartige Anklänge an berühmte und ältere Werke eines unzweifel¬
haft größern Schriftstellers immer etwas Bedenkliches, und allen Erklärungs¬
versuchen zum Trotze bleibt die Neigung, Vergleiche anzustellen, berechtigt.

Im „Kleinen Dingsda" beschränkt sich die Ähnlichkeit auf die äußere An¬
lage; die Ausführung ist grundverschieden und reicht in dem französischen
Roman nicht im entferntesten an die des englischen heran.

Man vergleiche beispielsweise die Ereignisse in Snrlande, die Daudet
eingehend behandelt, mit dem entsprechenden Abschnitt im „Copperfield," dem
Leben in Salemhouse, und ziehe zur Erweiterung der Parallele etwa noch die
Schilderung von Blimbers Anstalt (in Dombey) und von Squecrs Institut
(in Nicolaus Nicklebh) heran. Welch ein Unterschied! Wie anschaulich und
lebensvoll weiß Dickens zu schildern! Wie versteht er in dem gleichförmigen,
reizlosen und zum Teil so qualvollen Dasein auch die heitern und gemütlichern
Seiten, die sich die Jugend auch hinter Schloß und Riegel zu schaffen weiß,
ins rechte Licht zu setzen! Von diesem Reichtum der Erfindung und der
Mannigfaltigkeit der Schilderung zeigt Daudet im „Kleinen Dingsda" nur
wenig Spuren. Es fehlt ihm nicht an charakteristischen Zügen, nicht an
Humor; aber dieser läßt kalt, und jene vereinigen sich nicht zu einem deut¬
lichen Bilde. Wenn man Dickens Schilderungen gelesen hat, so glaubt man
Jahre in jenen Instituten selbst zugebracht zu haben; von Sarlande hat
man einmal erzählen hören und aus dem Bericht die Erinnerung an einige
besonders eindrucksvolle Ereignisse bewahrt. Daß Dickens jene Zeiten viel
eingehender und breiter behandelt, als Daudet, erklärt den Unterschied nicht,
wenn auch die Wirkung der abwechsluugsvvlleu, farbenreichen Kleinmalerei
nicht unterschätzt werden darf. Der Grund liegt tiefer.

In dem bereits erwähnten Buche „Dreißig Jahre Paris" erzählt Daudet
die Entstehungsgeschichte seines Romans und macht das auffallende Bekenntnis,
er wünschte, daß die ersten Seiten seines Romans etwas mehr von dem Duft
der Kinderjahre enthielten. Ich glaube nicht, daß der Unterschied zwischen diesen
Erinnerungen und Dickens Schilderungen kürzer und treffender hätte ausge¬
drückt werden können. Jener Schimmer von Zufriedenheit und Glück, mit
dem Dickens anch eine armselige Kindheit verklärt, fehlt dem Daudetschen
Buche. Es scheint, als ob der französische Dichter jene Quellen, aus denen
ein verlassenes und gequältes Kind seine unscheinbaren Freuden, ein mit Not
und Demütigungen rümpfender Jüngling Mut zum Leben schöpft, nicht genug
gewürdigt hätte. Den Grund dieses Mangels leitet er an einer andern Stelle
des erwähnten Buches aus dem Umstände her, daß er bei Abfnssuug des
Romans noch zu jung gewesen sei und jenen Lebensabschnitt nicht aus der


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[0189] Daudet als Humorist und Satiriker Hausgeschichte im „Oliver Toise" — angesehen werden können, oder ob nicht vielmehr das von Daudet über Nvcheforts Stil gefällte Urteil gilt, daß „es unbewußte Nachahmungen giebt, denen sich niemand entziehen kann." Jeden¬ falls haben derartige Anklänge an berühmte und ältere Werke eines unzweifel¬ haft größern Schriftstellers immer etwas Bedenkliches, und allen Erklärungs¬ versuchen zum Trotze bleibt die Neigung, Vergleiche anzustellen, berechtigt. Im „Kleinen Dingsda" beschränkt sich die Ähnlichkeit auf die äußere An¬ lage; die Ausführung ist grundverschieden und reicht in dem französischen Roman nicht im entferntesten an die des englischen heran. Man vergleiche beispielsweise die Ereignisse in Snrlande, die Daudet eingehend behandelt, mit dem entsprechenden Abschnitt im „Copperfield," dem Leben in Salemhouse, und ziehe zur Erweiterung der Parallele etwa noch die Schilderung von Blimbers Anstalt (in Dombey) und von Squecrs Institut (in Nicolaus Nicklebh) heran. Welch ein Unterschied! Wie anschaulich und lebensvoll weiß Dickens zu schildern! Wie versteht er in dem gleichförmigen, reizlosen und zum Teil so qualvollen Dasein auch die heitern und gemütlichern Seiten, die sich die Jugend auch hinter Schloß und Riegel zu schaffen weiß, ins rechte Licht zu setzen! Von diesem Reichtum der Erfindung und der Mannigfaltigkeit der Schilderung zeigt Daudet im „Kleinen Dingsda" nur wenig Spuren. Es fehlt ihm nicht an charakteristischen Zügen, nicht an Humor; aber dieser läßt kalt, und jene vereinigen sich nicht zu einem deut¬ lichen Bilde. Wenn man Dickens Schilderungen gelesen hat, so glaubt man Jahre in jenen Instituten selbst zugebracht zu haben; von Sarlande hat man einmal erzählen hören und aus dem Bericht die Erinnerung an einige besonders eindrucksvolle Ereignisse bewahrt. Daß Dickens jene Zeiten viel eingehender und breiter behandelt, als Daudet, erklärt den Unterschied nicht, wenn auch die Wirkung der abwechsluugsvvlleu, farbenreichen Kleinmalerei nicht unterschätzt werden darf. Der Grund liegt tiefer. In dem bereits erwähnten Buche „Dreißig Jahre Paris" erzählt Daudet die Entstehungsgeschichte seines Romans und macht das auffallende Bekenntnis, er wünschte, daß die ersten Seiten seines Romans etwas mehr von dem Duft der Kinderjahre enthielten. Ich glaube nicht, daß der Unterschied zwischen diesen Erinnerungen und Dickens Schilderungen kürzer und treffender hätte ausge¬ drückt werden können. Jener Schimmer von Zufriedenheit und Glück, mit dem Dickens anch eine armselige Kindheit verklärt, fehlt dem Daudetschen Buche. Es scheint, als ob der französische Dichter jene Quellen, aus denen ein verlassenes und gequältes Kind seine unscheinbaren Freuden, ein mit Not und Demütigungen rümpfender Jüngling Mut zum Leben schöpft, nicht genug gewürdigt hätte. Den Grund dieses Mangels leitet er an einer andern Stelle des erwähnten Buches aus dem Umstände her, daß er bei Abfnssuug des Romans noch zu jung gewesen sei und jenen Lebensabschnitt nicht aus der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/189>, abgerufen am 25.08.2024.