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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Sollen wir das Beste vergessen?

hätte, seine Schöpfungen mit ähnlichen Erscheinungen der modernen Zeit auf
eine Stufe zu stellen und zu vergleichen. Der römische Dichter Plautus, der
es unternahm, die feinen Erzeugnisse der spätern griechischen Komödie für
das Verständnis und den gröberen Geschmack seines Publikums zurechtzustutzen,
tritt uns meist als lustiger Possenreißer entgegen und hat manchen klassischen
Philologen durch seinen Witz und Scherz eingenommen; käme aber heutigestags
ein den plautinischen an Charakter ähnliches Scherz- oder Singspiel auf die Bühne,
so würde der Philolog die Nase rümpfen über das Ansinnen, sich "solches Zeug" an¬
zusehen. Also die inhaltliche Bedeutung der klassischen Studien für die Zwecke des
Gymnasiums wird vielfach in einem zu günstigen Lichte dargestellt, und es ist
ganz in der Ordnung, dem gegenüber auch auf ihren formalen Vildungswert
hinzuweisen. Aber der formale Gesichtspunkt darf nun und nimmermehr der
einzige sein, unter dem sie als Lehrstoff betrachtet werden, am wenigsten aber
darf in den grammatisch-kritischen Experimenten fast das alleinige Heil gesucht
werden. Es ist eine berechtigte Forderung, daß man auch verstehe, was mau
liest, uicht nur die einzelnen Wörter und Sätze für sich, sondern alles im Zu¬
sammenhange mit dem Ganzen, daß, wenn man die alten Litteraturdenkmäler
behandelt, man auch ihren Gedankeninhalt und damit ihren innern Wert zu
erfassen versuche, sie würdige als das, was sie ihrer Zeit sein sollten, die
Geistes- und Empfindungswelt ihrer Urheber in sich aufnehme; dann wird
man auch nach Abzug der hinzukommenden besondern Verhältnisse des
klassischen Altertums die wertvolle Lehre davontragen, wie im Geistes¬
leben der Völker nur die äußern Bedingungen gewechselt haben, die mensch¬
liche Natur aber sich stets gleich geblieben ist. Besonders die herrlichen Werke
der hellenischen Dichtkunst, in erster Linie die der tragischen Poesie, erfordern
eine ästhetische Behandlung, sie müssen in ihrer Bedeutung als Kunstwerke
gewürdigt werden, aus ihre Schönheiten im ganzen wie im einzelnen hinzu-
weisen, gehört zu den Hauptaufgaben des Lehrers. Wer mit seinen Schülern
den Äschhlus liest, der muß im Verlaufe der Erklärung einzugehen wissen auf
die Weltanschauung des Dichters und auf das Wesen seiner Tragik, er muß,
soweit es möglich ist, die Gestaltung des überkommenen Stoffes durch den
Dichter berühren und zum Nachdenken anregen über seine Beweggründe dazu,
damit die dichterische Absicht recht erkennbar werde, er muß hinweisen auf die
Großartigkeit seiner Probleme. Er soll aber auch die äußere Komposition
erörtern, wie sich Szene auf Szene folgt, wie jeder Einzelheit ihr Platz im
Drama bestimmt ist, und er soll die Aufmerksamkeit auf die Kunst lenken, mit
der dies geschieht. Seine Aufgabe ist es, den Gang der Handlung in der
Vorstellung der Schüler so lebendig zu erhalten, als spielte sich diese vor ihren
Augen ab. Die Zeichnung der Charaktere ist zum Gegenstände der Besprechung
zu machen, wie sie sich ergeben aus Worten und Thaten der handelnden Per¬
sonen. Nicht zu vergessen die Einzelheiten in der poetischen Durchführung:


Sollen wir das Beste vergessen?

hätte, seine Schöpfungen mit ähnlichen Erscheinungen der modernen Zeit auf
eine Stufe zu stellen und zu vergleichen. Der römische Dichter Plautus, der
es unternahm, die feinen Erzeugnisse der spätern griechischen Komödie für
das Verständnis und den gröberen Geschmack seines Publikums zurechtzustutzen,
tritt uns meist als lustiger Possenreißer entgegen und hat manchen klassischen
Philologen durch seinen Witz und Scherz eingenommen; käme aber heutigestags
ein den plautinischen an Charakter ähnliches Scherz- oder Singspiel auf die Bühne,
so würde der Philolog die Nase rümpfen über das Ansinnen, sich „solches Zeug" an¬
zusehen. Also die inhaltliche Bedeutung der klassischen Studien für die Zwecke des
Gymnasiums wird vielfach in einem zu günstigen Lichte dargestellt, und es ist
ganz in der Ordnung, dem gegenüber auch auf ihren formalen Vildungswert
hinzuweisen. Aber der formale Gesichtspunkt darf nun und nimmermehr der
einzige sein, unter dem sie als Lehrstoff betrachtet werden, am wenigsten aber
darf in den grammatisch-kritischen Experimenten fast das alleinige Heil gesucht
werden. Es ist eine berechtigte Forderung, daß man auch verstehe, was mau
liest, uicht nur die einzelnen Wörter und Sätze für sich, sondern alles im Zu¬
sammenhange mit dem Ganzen, daß, wenn man die alten Litteraturdenkmäler
behandelt, man auch ihren Gedankeninhalt und damit ihren innern Wert zu
erfassen versuche, sie würdige als das, was sie ihrer Zeit sein sollten, die
Geistes- und Empfindungswelt ihrer Urheber in sich aufnehme; dann wird
man auch nach Abzug der hinzukommenden besondern Verhältnisse des
klassischen Altertums die wertvolle Lehre davontragen, wie im Geistes¬
leben der Völker nur die äußern Bedingungen gewechselt haben, die mensch¬
liche Natur aber sich stets gleich geblieben ist. Besonders die herrlichen Werke
der hellenischen Dichtkunst, in erster Linie die der tragischen Poesie, erfordern
eine ästhetische Behandlung, sie müssen in ihrer Bedeutung als Kunstwerke
gewürdigt werden, aus ihre Schönheiten im ganzen wie im einzelnen hinzu-
weisen, gehört zu den Hauptaufgaben des Lehrers. Wer mit seinen Schülern
den Äschhlus liest, der muß im Verlaufe der Erklärung einzugehen wissen auf
die Weltanschauung des Dichters und auf das Wesen seiner Tragik, er muß,
soweit es möglich ist, die Gestaltung des überkommenen Stoffes durch den
Dichter berühren und zum Nachdenken anregen über seine Beweggründe dazu,
damit die dichterische Absicht recht erkennbar werde, er muß hinweisen auf die
Großartigkeit seiner Probleme. Er soll aber auch die äußere Komposition
erörtern, wie sich Szene auf Szene folgt, wie jeder Einzelheit ihr Platz im
Drama bestimmt ist, und er soll die Aufmerksamkeit auf die Kunst lenken, mit
der dies geschieht. Seine Aufgabe ist es, den Gang der Handlung in der
Vorstellung der Schüler so lebendig zu erhalten, als spielte sich diese vor ihren
Augen ab. Die Zeichnung der Charaktere ist zum Gegenstände der Besprechung
zu machen, wie sie sich ergeben aus Worten und Thaten der handelnden Per¬
sonen. Nicht zu vergessen die Einzelheiten in der poetischen Durchführung:


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[0184] Sollen wir das Beste vergessen? hätte, seine Schöpfungen mit ähnlichen Erscheinungen der modernen Zeit auf eine Stufe zu stellen und zu vergleichen. Der römische Dichter Plautus, der es unternahm, die feinen Erzeugnisse der spätern griechischen Komödie für das Verständnis und den gröberen Geschmack seines Publikums zurechtzustutzen, tritt uns meist als lustiger Possenreißer entgegen und hat manchen klassischen Philologen durch seinen Witz und Scherz eingenommen; käme aber heutigestags ein den plautinischen an Charakter ähnliches Scherz- oder Singspiel auf die Bühne, so würde der Philolog die Nase rümpfen über das Ansinnen, sich „solches Zeug" an¬ zusehen. Also die inhaltliche Bedeutung der klassischen Studien für die Zwecke des Gymnasiums wird vielfach in einem zu günstigen Lichte dargestellt, und es ist ganz in der Ordnung, dem gegenüber auch auf ihren formalen Vildungswert hinzuweisen. Aber der formale Gesichtspunkt darf nun und nimmermehr der einzige sein, unter dem sie als Lehrstoff betrachtet werden, am wenigsten aber darf in den grammatisch-kritischen Experimenten fast das alleinige Heil gesucht werden. Es ist eine berechtigte Forderung, daß man auch verstehe, was mau liest, uicht nur die einzelnen Wörter und Sätze für sich, sondern alles im Zu¬ sammenhange mit dem Ganzen, daß, wenn man die alten Litteraturdenkmäler behandelt, man auch ihren Gedankeninhalt und damit ihren innern Wert zu erfassen versuche, sie würdige als das, was sie ihrer Zeit sein sollten, die Geistes- und Empfindungswelt ihrer Urheber in sich aufnehme; dann wird man auch nach Abzug der hinzukommenden besondern Verhältnisse des klassischen Altertums die wertvolle Lehre davontragen, wie im Geistes¬ leben der Völker nur die äußern Bedingungen gewechselt haben, die mensch¬ liche Natur aber sich stets gleich geblieben ist. Besonders die herrlichen Werke der hellenischen Dichtkunst, in erster Linie die der tragischen Poesie, erfordern eine ästhetische Behandlung, sie müssen in ihrer Bedeutung als Kunstwerke gewürdigt werden, aus ihre Schönheiten im ganzen wie im einzelnen hinzu- weisen, gehört zu den Hauptaufgaben des Lehrers. Wer mit seinen Schülern den Äschhlus liest, der muß im Verlaufe der Erklärung einzugehen wissen auf die Weltanschauung des Dichters und auf das Wesen seiner Tragik, er muß, soweit es möglich ist, die Gestaltung des überkommenen Stoffes durch den Dichter berühren und zum Nachdenken anregen über seine Beweggründe dazu, damit die dichterische Absicht recht erkennbar werde, er muß hinweisen auf die Großartigkeit seiner Probleme. Er soll aber auch die äußere Komposition erörtern, wie sich Szene auf Szene folgt, wie jeder Einzelheit ihr Platz im Drama bestimmt ist, und er soll die Aufmerksamkeit auf die Kunst lenken, mit der dies geschieht. Seine Aufgabe ist es, den Gang der Handlung in der Vorstellung der Schüler so lebendig zu erhalten, als spielte sich diese vor ihren Augen ab. Die Zeichnung der Charaktere ist zum Gegenstände der Besprechung zu machen, wie sie sich ergeben aus Worten und Thaten der handelnden Per¬ sonen. Nicht zu vergessen die Einzelheiten in der poetischen Durchführung:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/184>, abgerufen am 23.07.2024.