Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
sollen wir das Beste vergessen?

Forschung: ihr ist die Aufgabe gestellt, das Altertum wieder aufzubauen.
Dabei kaun sie sich nicht an einem Punkte aufhalten, sie muß vorwärts eilen.
Die klassische Philologie als reine Wissenschaft hat sich mit der Zeit mehr
und mehr abwenden müssen von den Schnlschriftstcllern, den herrlichsten Denk¬
mälern des Altertums, die uns erhalten sind, nachdem sich ihrer Durch¬
forschung so viele und so edle Kräfte gewidmet hatten, sie hat sich neuen
Aufgaben zugewandt, deren Losung mit den Grundlagen unsrer Schulbildung
nichts mehr gemein hat, aber zum Teil wissenschaftliche Notwendigkeit ist.
Zum Teil, sagen wir mit Bedacht, denn wir wollen, da es nicht unmittelbar
zur Sache gehört, unerörtert lassen, wie auch hier manches unser Kopfschütteln
hervorruft, so die Vergeudung von Zeit und Mühe auf Gebieten, wo die ernste
Forschung aus Mangel an Material doch nicht mehr weiter kommt, und es
sich daher meist nur um ein mehr oder minder geistreiches Spiel handelt, oder
auf solchen, wo zwar ein Ergebnis erzielt wird, das aber in keinem Verhältnis
zu der aufgewandten Kraft steht. Diese Kleinigkeitskrämerei verdankt ihre
Pflege der mißverständlichen Auslegung eines an sich richtigen Satzes. Große
Altertumsforscher, uuter ihnen Lessing, haben es ausgesprochen, daß der
Forscher es nicht für unter feiner Würde halten dürfe, auch den unbedeutendsten
Gegenstand zu untersuchen. Das ist ganz richtig, hat aber, wie alles, seine
Grenzen. Alles, was durchforscht wird, darf wohl an sich unbedeutend sein, aber
irgendwie muß es sich doch als dienendes Glied an das Ganze anfügen können,
oder muß man mit Zuversicht hoffen dürfen, daß dies in absehbarer Zeit ge¬
schehe. Und auch das Ganze, in diesem Falle die Altertumswissenschaft, darf
sich nicht völlig aus dem Zusammenhange mit dem wirklichen Leben verlieren,
denn das sollte doch auch der Zweck der idealsten Wissenschaft sein, daß wir
etwas aus ihr lernen zum Gewinn für uns selbst. Man spricht so viel von
dem Selbstzweck der Wissenschaften, als ob sie nur um ihrer selbst willen da
seien. Das ist eine Abstraktion, der wir wenigstens nicht folgen können. So
wie alle Wissenschaften ursprünglich doch nur aus irgend einem praktischen
Bedürfnis hervorgegangen sind, so wird sich, so lange wir sterbliche Menschen
bleiben, anch immer der Grundsatz behaupten, daß eine Wissenschaft für uns
um so wertloser werden muß, je mehr sie die Fühlung mit dem wirklichen
Leben verliert. Denn dieses steht voran. Der gedeihlichen Entwicklung eines
edeln Zusammenlebens der menschlichen Gesellschaft haben wir in erster Linie
unsre Kräfte zu widmen. Wo dahingehende Aufgaben sichtbar vorhanden sind,
da haben fernerliegeude Interessen vorläufig beiseite zu treten. Man mag
das unideal gedacht finden; Thatsache bleibt es deshalb doch, daß die er¬
wähnten Aufgaben mit Notwendigkeit erst einigermaßen gelöst werden müssen,
ehe um weiteres gedacht werden kaun, sei dies auch das höhere; jedenfalls
bedarf es eines festen Untergrundes. Und von unten fängt man an zu bauen,
nicht von oben. Wer der Menschheit zum deutlich sichtbaren Wohl und Segen


sollen wir das Beste vergessen?

Forschung: ihr ist die Aufgabe gestellt, das Altertum wieder aufzubauen.
Dabei kaun sie sich nicht an einem Punkte aufhalten, sie muß vorwärts eilen.
Die klassische Philologie als reine Wissenschaft hat sich mit der Zeit mehr
und mehr abwenden müssen von den Schnlschriftstcllern, den herrlichsten Denk¬
mälern des Altertums, die uns erhalten sind, nachdem sich ihrer Durch¬
forschung so viele und so edle Kräfte gewidmet hatten, sie hat sich neuen
Aufgaben zugewandt, deren Losung mit den Grundlagen unsrer Schulbildung
nichts mehr gemein hat, aber zum Teil wissenschaftliche Notwendigkeit ist.
Zum Teil, sagen wir mit Bedacht, denn wir wollen, da es nicht unmittelbar
zur Sache gehört, unerörtert lassen, wie auch hier manches unser Kopfschütteln
hervorruft, so die Vergeudung von Zeit und Mühe auf Gebieten, wo die ernste
Forschung aus Mangel an Material doch nicht mehr weiter kommt, und es
sich daher meist nur um ein mehr oder minder geistreiches Spiel handelt, oder
auf solchen, wo zwar ein Ergebnis erzielt wird, das aber in keinem Verhältnis
zu der aufgewandten Kraft steht. Diese Kleinigkeitskrämerei verdankt ihre
Pflege der mißverständlichen Auslegung eines an sich richtigen Satzes. Große
Altertumsforscher, uuter ihnen Lessing, haben es ausgesprochen, daß der
Forscher es nicht für unter feiner Würde halten dürfe, auch den unbedeutendsten
Gegenstand zu untersuchen. Das ist ganz richtig, hat aber, wie alles, seine
Grenzen. Alles, was durchforscht wird, darf wohl an sich unbedeutend sein, aber
irgendwie muß es sich doch als dienendes Glied an das Ganze anfügen können,
oder muß man mit Zuversicht hoffen dürfen, daß dies in absehbarer Zeit ge¬
schehe. Und auch das Ganze, in diesem Falle die Altertumswissenschaft, darf
sich nicht völlig aus dem Zusammenhange mit dem wirklichen Leben verlieren,
denn das sollte doch auch der Zweck der idealsten Wissenschaft sein, daß wir
etwas aus ihr lernen zum Gewinn für uns selbst. Man spricht so viel von
dem Selbstzweck der Wissenschaften, als ob sie nur um ihrer selbst willen da
seien. Das ist eine Abstraktion, der wir wenigstens nicht folgen können. So
wie alle Wissenschaften ursprünglich doch nur aus irgend einem praktischen
Bedürfnis hervorgegangen sind, so wird sich, so lange wir sterbliche Menschen
bleiben, anch immer der Grundsatz behaupten, daß eine Wissenschaft für uns
um so wertloser werden muß, je mehr sie die Fühlung mit dem wirklichen
Leben verliert. Denn dieses steht voran. Der gedeihlichen Entwicklung eines
edeln Zusammenlebens der menschlichen Gesellschaft haben wir in erster Linie
unsre Kräfte zu widmen. Wo dahingehende Aufgaben sichtbar vorhanden sind,
da haben fernerliegeude Interessen vorläufig beiseite zu treten. Man mag
das unideal gedacht finden; Thatsache bleibt es deshalb doch, daß die er¬
wähnten Aufgaben mit Notwendigkeit erst einigermaßen gelöst werden müssen,
ehe um weiteres gedacht werden kaun, sei dies auch das höhere; jedenfalls
bedarf es eines festen Untergrundes. Und von unten fängt man an zu bauen,
nicht von oben. Wer der Menschheit zum deutlich sichtbaren Wohl und Segen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0179" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/209412"/>
          <fw type="header" place="top"> sollen wir das Beste vergessen?</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_524" prev="#ID_523" next="#ID_525"> Forschung: ihr ist die Aufgabe gestellt, das Altertum wieder aufzubauen.<lb/>
Dabei kaun sie sich nicht an einem Punkte aufhalten, sie muß vorwärts eilen.<lb/>
Die klassische Philologie als reine Wissenschaft hat sich mit der Zeit mehr<lb/>
und mehr abwenden müssen von den Schnlschriftstcllern, den herrlichsten Denk¬<lb/>
mälern des Altertums, die uns erhalten sind, nachdem sich ihrer Durch¬<lb/>
forschung so viele und so edle Kräfte gewidmet hatten, sie hat sich neuen<lb/>
Aufgaben zugewandt, deren Losung mit den Grundlagen unsrer Schulbildung<lb/>
nichts mehr gemein hat, aber zum Teil wissenschaftliche Notwendigkeit ist.<lb/>
Zum Teil, sagen wir mit Bedacht, denn wir wollen, da es nicht unmittelbar<lb/>
zur Sache gehört, unerörtert lassen, wie auch hier manches unser Kopfschütteln<lb/>
hervorruft, so die Vergeudung von Zeit und Mühe auf Gebieten, wo die ernste<lb/>
Forschung aus Mangel an Material doch nicht mehr weiter kommt, und es<lb/>
sich daher meist nur um ein mehr oder minder geistreiches Spiel handelt, oder<lb/>
auf solchen, wo zwar ein Ergebnis erzielt wird, das aber in keinem Verhältnis<lb/>
zu der aufgewandten Kraft steht. Diese Kleinigkeitskrämerei verdankt ihre<lb/>
Pflege der mißverständlichen Auslegung eines an sich richtigen Satzes. Große<lb/>
Altertumsforscher, uuter ihnen Lessing, haben es ausgesprochen, daß der<lb/>
Forscher es nicht für unter feiner Würde halten dürfe, auch den unbedeutendsten<lb/>
Gegenstand zu untersuchen. Das ist ganz richtig, hat aber, wie alles, seine<lb/>
Grenzen. Alles, was durchforscht wird, darf wohl an sich unbedeutend sein, aber<lb/>
irgendwie muß es sich doch als dienendes Glied an das Ganze anfügen können,<lb/>
oder muß man mit Zuversicht hoffen dürfen, daß dies in absehbarer Zeit ge¬<lb/>
schehe. Und auch das Ganze, in diesem Falle die Altertumswissenschaft, darf<lb/>
sich nicht völlig aus dem Zusammenhange mit dem wirklichen Leben verlieren,<lb/>
denn das sollte doch auch der Zweck der idealsten Wissenschaft sein, daß wir<lb/>
etwas aus ihr lernen zum Gewinn für uns selbst. Man spricht so viel von<lb/>
dem Selbstzweck der Wissenschaften, als ob sie nur um ihrer selbst willen da<lb/>
seien. Das ist eine Abstraktion, der wir wenigstens nicht folgen können. So<lb/>
wie alle Wissenschaften ursprünglich doch nur aus irgend einem praktischen<lb/>
Bedürfnis hervorgegangen sind, so wird sich, so lange wir sterbliche Menschen<lb/>
bleiben, anch immer der Grundsatz behaupten, daß eine Wissenschaft für uns<lb/>
um so wertloser werden muß, je mehr sie die Fühlung mit dem wirklichen<lb/>
Leben verliert. Denn dieses steht voran. Der gedeihlichen Entwicklung eines<lb/>
edeln Zusammenlebens der menschlichen Gesellschaft haben wir in erster Linie<lb/>
unsre Kräfte zu widmen. Wo dahingehende Aufgaben sichtbar vorhanden sind,<lb/>
da haben fernerliegeude Interessen vorläufig beiseite zu treten. Man mag<lb/>
das unideal gedacht finden; Thatsache bleibt es deshalb doch, daß die er¬<lb/>
wähnten Aufgaben mit Notwendigkeit erst einigermaßen gelöst werden müssen,<lb/>
ehe um weiteres gedacht werden kaun, sei dies auch das höhere; jedenfalls<lb/>
bedarf es eines festen Untergrundes. Und von unten fängt man an zu bauen,<lb/>
nicht von oben. Wer der Menschheit zum deutlich sichtbaren Wohl und Segen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0179] sollen wir das Beste vergessen? Forschung: ihr ist die Aufgabe gestellt, das Altertum wieder aufzubauen. Dabei kaun sie sich nicht an einem Punkte aufhalten, sie muß vorwärts eilen. Die klassische Philologie als reine Wissenschaft hat sich mit der Zeit mehr und mehr abwenden müssen von den Schnlschriftstcllern, den herrlichsten Denk¬ mälern des Altertums, die uns erhalten sind, nachdem sich ihrer Durch¬ forschung so viele und so edle Kräfte gewidmet hatten, sie hat sich neuen Aufgaben zugewandt, deren Losung mit den Grundlagen unsrer Schulbildung nichts mehr gemein hat, aber zum Teil wissenschaftliche Notwendigkeit ist. Zum Teil, sagen wir mit Bedacht, denn wir wollen, da es nicht unmittelbar zur Sache gehört, unerörtert lassen, wie auch hier manches unser Kopfschütteln hervorruft, so die Vergeudung von Zeit und Mühe auf Gebieten, wo die ernste Forschung aus Mangel an Material doch nicht mehr weiter kommt, und es sich daher meist nur um ein mehr oder minder geistreiches Spiel handelt, oder auf solchen, wo zwar ein Ergebnis erzielt wird, das aber in keinem Verhältnis zu der aufgewandten Kraft steht. Diese Kleinigkeitskrämerei verdankt ihre Pflege der mißverständlichen Auslegung eines an sich richtigen Satzes. Große Altertumsforscher, uuter ihnen Lessing, haben es ausgesprochen, daß der Forscher es nicht für unter feiner Würde halten dürfe, auch den unbedeutendsten Gegenstand zu untersuchen. Das ist ganz richtig, hat aber, wie alles, seine Grenzen. Alles, was durchforscht wird, darf wohl an sich unbedeutend sein, aber irgendwie muß es sich doch als dienendes Glied an das Ganze anfügen können, oder muß man mit Zuversicht hoffen dürfen, daß dies in absehbarer Zeit ge¬ schehe. Und auch das Ganze, in diesem Falle die Altertumswissenschaft, darf sich nicht völlig aus dem Zusammenhange mit dem wirklichen Leben verlieren, denn das sollte doch auch der Zweck der idealsten Wissenschaft sein, daß wir etwas aus ihr lernen zum Gewinn für uns selbst. Man spricht so viel von dem Selbstzweck der Wissenschaften, als ob sie nur um ihrer selbst willen da seien. Das ist eine Abstraktion, der wir wenigstens nicht folgen können. So wie alle Wissenschaften ursprünglich doch nur aus irgend einem praktischen Bedürfnis hervorgegangen sind, so wird sich, so lange wir sterbliche Menschen bleiben, anch immer der Grundsatz behaupten, daß eine Wissenschaft für uns um so wertloser werden muß, je mehr sie die Fühlung mit dem wirklichen Leben verliert. Denn dieses steht voran. Der gedeihlichen Entwicklung eines edeln Zusammenlebens der menschlichen Gesellschaft haben wir in erster Linie unsre Kräfte zu widmen. Wo dahingehende Aufgaben sichtbar vorhanden sind, da haben fernerliegeude Interessen vorläufig beiseite zu treten. Man mag das unideal gedacht finden; Thatsache bleibt es deshalb doch, daß die er¬ wähnten Aufgaben mit Notwendigkeit erst einigermaßen gelöst werden müssen, ehe um weiteres gedacht werden kaun, sei dies auch das höhere; jedenfalls bedarf es eines festen Untergrundes. Und von unten fängt man an zu bauen, nicht von oben. Wer der Menschheit zum deutlich sichtbaren Wohl und Segen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/179
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/179>, abgerufen am 23.07.2024.