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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Sollen wir das Beste vergessen?

Bestrebungen, für die wir kaum noch rechtes Verständnis, geschweige denn
Interesse haben, wie im allgemeinen das Mittelalter, eignet sich nicht zum
Schulunterricht. Von der neuern Geschichte ist die preußische noch am lehr¬
reichsten. Überhaupt erscheint vom praktischen Gesichtspunkt aus die antike
Kultur mehr zum Lehrstoff verwendbar als die der Neuzeit, da wir ihr viel
objektiver gegenüberstehen. In die Beschäftigung mit den antiken Schriftstellern
kann nie irgend welcher moderne Parteigeist hineinspielen, weder politischer,
noch religiöser. Es ist überhaupt ein Vorzug des Altertums, daß wir so wenig
darin von religiösen Kämpfen spüren; freilich, wie weit wirklich Denk- und
Glaubensfreiheit dort vorherrschten, mag dahingestellt bleiben, sicher ist aber,
daß es ein bis ins einzelne vorgeschriebenes Dogma nicht gab.

Doch genug von dem Werte der Altertumswissenschaft für das Gymnasium.
Daß dieses nach Einführung gewisser Änderungen, wie sie beraten sind und
werden sollen, nach wie vor die Fähigkeit in sich trage, seine Aufgabe zu
erfüllen, müßte nach dem Gesagten eigentlich unzweifelhaft erscheinen. Dabei
darf nur eins nicht vergessen werden, worauf unsers Wissens bisher nicht mit
dem nötigen Nachdruck hingewiesen worden ist.

Man pflegt sich fo gern darauf zu berufen, daß aus dem Gymnasium,
wie es ist, die größten Männer unsrer Nation hervorgegangen seien; diese
hätten doch, meint man, denselben Unterricht empfangen, wie wir. Denselben
Unterricht nach dem Lehrplan, ja. Aber es kommt nicht nur auf das Was.
sondern gar sehr auch auf das Wie des Unterrichts an. Wäre es denn aber
denkbar, daß der Unterricht in den klassischen Fächern, wie ihn unsre Väter
und manche von uns noch empfingen, anders beschaffen gewesen sei, als der,
den unsre Jugend jetzt genießt, trotz der äußerlichen Gleichheit des Lehrplans?
Das ist nicht nur denkbar, es ist sogar Thatsache.

Das Gymnasium kann seine Aufgabe auch in der Zukunft nur dann
lösen, wenn der klassische Unterricht so betrieben wird, daß sich die Vorteile,
die er bieten kann, auch wirklich ergeben. Zu diesen Vorteilen gehört aber
neben andern, die wir nicht verkennen, in erster Linie die Erweckung des Be¬
wußtseins für den Gedankeninhalt und somit für den idealen Wert der alten
Klassiker. In diesem Punkt aber macht sich eine Wandlung gegen früher
augenfällig bemerkbar. Die Klage hierüber ist nicht neu, sie ist längst erhoben
worden und wird täglich lauter, aber es hat den Anschein, als wäre man
sich nicht bewußt, daß hierin ein Hauptgrund der Verstimmung gegen die
Gymnasien liegt, und daß wir hier einfassen müssen, wenn wir reformiren
wollen.

In der That, was das Gymnasium dem Volke entfremdet hat, ist nicht
der klassische Unterricht überhaupt, sondern die Methode, die seit einigen Jahr¬
zehnten begonnen hat sich mehr und mehr einzubürgern. Während zu den
Zeiten unsrer Väter, wer immer vom Gymnasium kam, eiuen wahren Schatz


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Sollen wir das Beste vergessen?

Bestrebungen, für die wir kaum noch rechtes Verständnis, geschweige denn
Interesse haben, wie im allgemeinen das Mittelalter, eignet sich nicht zum
Schulunterricht. Von der neuern Geschichte ist die preußische noch am lehr¬
reichsten. Überhaupt erscheint vom praktischen Gesichtspunkt aus die antike
Kultur mehr zum Lehrstoff verwendbar als die der Neuzeit, da wir ihr viel
objektiver gegenüberstehen. In die Beschäftigung mit den antiken Schriftstellern
kann nie irgend welcher moderne Parteigeist hineinspielen, weder politischer,
noch religiöser. Es ist überhaupt ein Vorzug des Altertums, daß wir so wenig
darin von religiösen Kämpfen spüren; freilich, wie weit wirklich Denk- und
Glaubensfreiheit dort vorherrschten, mag dahingestellt bleiben, sicher ist aber,
daß es ein bis ins einzelne vorgeschriebenes Dogma nicht gab.

Doch genug von dem Werte der Altertumswissenschaft für das Gymnasium.
Daß dieses nach Einführung gewisser Änderungen, wie sie beraten sind und
werden sollen, nach wie vor die Fähigkeit in sich trage, seine Aufgabe zu
erfüllen, müßte nach dem Gesagten eigentlich unzweifelhaft erscheinen. Dabei
darf nur eins nicht vergessen werden, worauf unsers Wissens bisher nicht mit
dem nötigen Nachdruck hingewiesen worden ist.

Man pflegt sich fo gern darauf zu berufen, daß aus dem Gymnasium,
wie es ist, die größten Männer unsrer Nation hervorgegangen seien; diese
hätten doch, meint man, denselben Unterricht empfangen, wie wir. Denselben
Unterricht nach dem Lehrplan, ja. Aber es kommt nicht nur auf das Was.
sondern gar sehr auch auf das Wie des Unterrichts an. Wäre es denn aber
denkbar, daß der Unterricht in den klassischen Fächern, wie ihn unsre Väter
und manche von uns noch empfingen, anders beschaffen gewesen sei, als der,
den unsre Jugend jetzt genießt, trotz der äußerlichen Gleichheit des Lehrplans?
Das ist nicht nur denkbar, es ist sogar Thatsache.

Das Gymnasium kann seine Aufgabe auch in der Zukunft nur dann
lösen, wenn der klassische Unterricht so betrieben wird, daß sich die Vorteile,
die er bieten kann, auch wirklich ergeben. Zu diesen Vorteilen gehört aber
neben andern, die wir nicht verkennen, in erster Linie die Erweckung des Be¬
wußtseins für den Gedankeninhalt und somit für den idealen Wert der alten
Klassiker. In diesem Punkt aber macht sich eine Wandlung gegen früher
augenfällig bemerkbar. Die Klage hierüber ist nicht neu, sie ist längst erhoben
worden und wird täglich lauter, aber es hat den Anschein, als wäre man
sich nicht bewußt, daß hierin ein Hauptgrund der Verstimmung gegen die
Gymnasien liegt, und daß wir hier einfassen müssen, wenn wir reformiren
wollen.

In der That, was das Gymnasium dem Volke entfremdet hat, ist nicht
der klassische Unterricht überhaupt, sondern die Methode, die seit einigen Jahr¬
zehnten begonnen hat sich mehr und mehr einzubürgern. Während zu den
Zeiten unsrer Väter, wer immer vom Gymnasium kam, eiuen wahren Schatz


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[0177] Sollen wir das Beste vergessen? Bestrebungen, für die wir kaum noch rechtes Verständnis, geschweige denn Interesse haben, wie im allgemeinen das Mittelalter, eignet sich nicht zum Schulunterricht. Von der neuern Geschichte ist die preußische noch am lehr¬ reichsten. Überhaupt erscheint vom praktischen Gesichtspunkt aus die antike Kultur mehr zum Lehrstoff verwendbar als die der Neuzeit, da wir ihr viel objektiver gegenüberstehen. In die Beschäftigung mit den antiken Schriftstellern kann nie irgend welcher moderne Parteigeist hineinspielen, weder politischer, noch religiöser. Es ist überhaupt ein Vorzug des Altertums, daß wir so wenig darin von religiösen Kämpfen spüren; freilich, wie weit wirklich Denk- und Glaubensfreiheit dort vorherrschten, mag dahingestellt bleiben, sicher ist aber, daß es ein bis ins einzelne vorgeschriebenes Dogma nicht gab. Doch genug von dem Werte der Altertumswissenschaft für das Gymnasium. Daß dieses nach Einführung gewisser Änderungen, wie sie beraten sind und werden sollen, nach wie vor die Fähigkeit in sich trage, seine Aufgabe zu erfüllen, müßte nach dem Gesagten eigentlich unzweifelhaft erscheinen. Dabei darf nur eins nicht vergessen werden, worauf unsers Wissens bisher nicht mit dem nötigen Nachdruck hingewiesen worden ist. Man pflegt sich fo gern darauf zu berufen, daß aus dem Gymnasium, wie es ist, die größten Männer unsrer Nation hervorgegangen seien; diese hätten doch, meint man, denselben Unterricht empfangen, wie wir. Denselben Unterricht nach dem Lehrplan, ja. Aber es kommt nicht nur auf das Was. sondern gar sehr auch auf das Wie des Unterrichts an. Wäre es denn aber denkbar, daß der Unterricht in den klassischen Fächern, wie ihn unsre Väter und manche von uns noch empfingen, anders beschaffen gewesen sei, als der, den unsre Jugend jetzt genießt, trotz der äußerlichen Gleichheit des Lehrplans? Das ist nicht nur denkbar, es ist sogar Thatsache. Das Gymnasium kann seine Aufgabe auch in der Zukunft nur dann lösen, wenn der klassische Unterricht so betrieben wird, daß sich die Vorteile, die er bieten kann, auch wirklich ergeben. Zu diesen Vorteilen gehört aber neben andern, die wir nicht verkennen, in erster Linie die Erweckung des Be¬ wußtseins für den Gedankeninhalt und somit für den idealen Wert der alten Klassiker. In diesem Punkt aber macht sich eine Wandlung gegen früher augenfällig bemerkbar. Die Klage hierüber ist nicht neu, sie ist längst erhoben worden und wird täglich lauter, aber es hat den Anschein, als wäre man sich nicht bewußt, daß hierin ein Hauptgrund der Verstimmung gegen die Gymnasien liegt, und daß wir hier einfassen müssen, wenn wir reformiren wollen. In der That, was das Gymnasium dem Volke entfremdet hat, ist nicht der klassische Unterricht überhaupt, sondern die Methode, die seit einigen Jahr¬ zehnten begonnen hat sich mehr und mehr einzubürgern. Während zu den Zeiten unsrer Väter, wer immer vom Gymnasium kam, eiuen wahren Schatz Grmzbvwn > l89! W

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/177>, abgerufen am 23.07.2024.