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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Sollen wir das Beste vergessen?

verbinden, auszuweisen, um daraus den Schluß zu ziehen, daß eine nicht nur
oberflächliche Kenntnis und Anschauung desselben für den, der sich wissenschaftlich
bildet, in allen Zweigen notwendiges Erfordernis ist, wenn er nicht auf
Schritt und Tritt im Mustern tappen will. Um uur eines großen, allgemeinen
Nutzens Erwähnung zu thun: wer gelernt hat, nicht uur im Strome der
Gegenwart zu schwimmen, sondern aus der Gegenwart zurückzuschauen in eine
in sich abgeschlossene Vergangenheit, dein schärft sich auch der Blick für die
Entwicklung der Dinge. Für die Erweckung des historischen Sinnes ist das
Studium des Altertums hervorragend förderlich, fast unerläßlich. Wir haben
in ihm überall eine in sich abgeschlossene Entwicklung vor Angen. Die grie¬
chische Poesie ist das Urbild jeder echten lind wahren Poesie, sie zeigt uns
eine fortlaufende Entwicklung aus sich selbst heraus vom Ursprünglichen zum
Klassischen, weiter zum Modernen. Ähnliches laßt sich von der Prosa, namentlich
der historischen, sage". Die Zeit, die man an die griechische Litteratur wendet,
ist nicht verloren. Wer den Inhalt ihrer edelsten Erzeugnisse auch an einem
kleinen Teile wirklich kennen gelernt, ihren Geist wahrhaft erfaßt hat, wird
reichlichen Gewinn für seine ganze Denk- lind Anschauungsweise davontragen.
Auch die römische Litteratur, ein Ersatz sür die griechische, wo diese verloren
ist, hat ihre selbständigen Vorzüge. Hochwichtig aber sind die alten Litteratur¬
denkmäler namentlich in formaler Beziehung. Das Umdenken, das Durchkneten
des Geistes geschieht in keiner Weise besser als an der Hand der alten Texte,
eben weil wir hier tote Sprachen haben, die mit der unsrigen nicht so viel
Ähnlichkeit ausweisen als die modernen, wenigstens als die von ihnen, die hier
in Betracht kommen, aus denen doch zu einem sehr großen Teile mehr oder
minder gedankenlos Wort für Wort oder Satz sür Satz übersetzt werden kann,
jedenfalls weit häufiger, als dies bei den alten Sprachen der Fall ist. Hier steht
das Lateinische dem Griechischen noch voran, und so ergänzen sich diese beiden
Unterrichtsfächer sehr glücklich dahin, daß bei dem einen der Inhalt, bei dem
andern die Form von größerer Wichtigkeit ist, und wollte man dies berück-
sichtigen und darnach beim griechischen Unterrichte mehr den Inhalt, beim
lateinischen mehr die Form betonen -- man würde freilich nicht ganz ohne
treffliche Übersetzungen auskommen --, so würde man zugleich zweierlei erreichen:
genügendes Verständnis für den Inhalt der griechischen Litteratur und zu¬
reichende Fertigkeit im Lateinlesen. Denn der lateinischen Sprache wird der
Höhergebildete immer mächtig sein müssen; der griechischen gegenüber ist die
Forderung nicht in dem Maße zwingend, wenn man hierüber auch verschiedener
Ansicht sein kaum Ähnliches wie von der Litteratur gilt von der alten Ge¬
schichte, ja sie eignet sich durch ihren regelmäßigen, gleichsam planvollen Ver¬
lauf besser als die meisten andern Zeitperioden zum Lehrstoff für das Gym¬
nasium, wenigstens bis zu einem gewissen Zeitpunkte, die griechische im fünften
Jahrhundert, die römische bis zur Kaiserzeit. Eine Zeit mit Kämpfen und


Sollen wir das Beste vergessen?

verbinden, auszuweisen, um daraus den Schluß zu ziehen, daß eine nicht nur
oberflächliche Kenntnis und Anschauung desselben für den, der sich wissenschaftlich
bildet, in allen Zweigen notwendiges Erfordernis ist, wenn er nicht auf
Schritt und Tritt im Mustern tappen will. Um uur eines großen, allgemeinen
Nutzens Erwähnung zu thun: wer gelernt hat, nicht uur im Strome der
Gegenwart zu schwimmen, sondern aus der Gegenwart zurückzuschauen in eine
in sich abgeschlossene Vergangenheit, dein schärft sich auch der Blick für die
Entwicklung der Dinge. Für die Erweckung des historischen Sinnes ist das
Studium des Altertums hervorragend förderlich, fast unerläßlich. Wir haben
in ihm überall eine in sich abgeschlossene Entwicklung vor Angen. Die grie¬
chische Poesie ist das Urbild jeder echten lind wahren Poesie, sie zeigt uns
eine fortlaufende Entwicklung aus sich selbst heraus vom Ursprünglichen zum
Klassischen, weiter zum Modernen. Ähnliches laßt sich von der Prosa, namentlich
der historischen, sage». Die Zeit, die man an die griechische Litteratur wendet,
ist nicht verloren. Wer den Inhalt ihrer edelsten Erzeugnisse auch an einem
kleinen Teile wirklich kennen gelernt, ihren Geist wahrhaft erfaßt hat, wird
reichlichen Gewinn für seine ganze Denk- lind Anschauungsweise davontragen.
Auch die römische Litteratur, ein Ersatz sür die griechische, wo diese verloren
ist, hat ihre selbständigen Vorzüge. Hochwichtig aber sind die alten Litteratur¬
denkmäler namentlich in formaler Beziehung. Das Umdenken, das Durchkneten
des Geistes geschieht in keiner Weise besser als an der Hand der alten Texte,
eben weil wir hier tote Sprachen haben, die mit der unsrigen nicht so viel
Ähnlichkeit ausweisen als die modernen, wenigstens als die von ihnen, die hier
in Betracht kommen, aus denen doch zu einem sehr großen Teile mehr oder
minder gedankenlos Wort für Wort oder Satz sür Satz übersetzt werden kann,
jedenfalls weit häufiger, als dies bei den alten Sprachen der Fall ist. Hier steht
das Lateinische dem Griechischen noch voran, und so ergänzen sich diese beiden
Unterrichtsfächer sehr glücklich dahin, daß bei dem einen der Inhalt, bei dem
andern die Form von größerer Wichtigkeit ist, und wollte man dies berück-
sichtigen und darnach beim griechischen Unterrichte mehr den Inhalt, beim
lateinischen mehr die Form betonen — man würde freilich nicht ganz ohne
treffliche Übersetzungen auskommen —, so würde man zugleich zweierlei erreichen:
genügendes Verständnis für den Inhalt der griechischen Litteratur und zu¬
reichende Fertigkeit im Lateinlesen. Denn der lateinischen Sprache wird der
Höhergebildete immer mächtig sein müssen; der griechischen gegenüber ist die
Forderung nicht in dem Maße zwingend, wenn man hierüber auch verschiedener
Ansicht sein kaum Ähnliches wie von der Litteratur gilt von der alten Ge¬
schichte, ja sie eignet sich durch ihren regelmäßigen, gleichsam planvollen Ver¬
lauf besser als die meisten andern Zeitperioden zum Lehrstoff für das Gym¬
nasium, wenigstens bis zu einem gewissen Zeitpunkte, die griechische im fünften
Jahrhundert, die römische bis zur Kaiserzeit. Eine Zeit mit Kämpfen und


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[0176] Sollen wir das Beste vergessen? verbinden, auszuweisen, um daraus den Schluß zu ziehen, daß eine nicht nur oberflächliche Kenntnis und Anschauung desselben für den, der sich wissenschaftlich bildet, in allen Zweigen notwendiges Erfordernis ist, wenn er nicht auf Schritt und Tritt im Mustern tappen will. Um uur eines großen, allgemeinen Nutzens Erwähnung zu thun: wer gelernt hat, nicht uur im Strome der Gegenwart zu schwimmen, sondern aus der Gegenwart zurückzuschauen in eine in sich abgeschlossene Vergangenheit, dein schärft sich auch der Blick für die Entwicklung der Dinge. Für die Erweckung des historischen Sinnes ist das Studium des Altertums hervorragend förderlich, fast unerläßlich. Wir haben in ihm überall eine in sich abgeschlossene Entwicklung vor Angen. Die grie¬ chische Poesie ist das Urbild jeder echten lind wahren Poesie, sie zeigt uns eine fortlaufende Entwicklung aus sich selbst heraus vom Ursprünglichen zum Klassischen, weiter zum Modernen. Ähnliches laßt sich von der Prosa, namentlich der historischen, sage». Die Zeit, die man an die griechische Litteratur wendet, ist nicht verloren. Wer den Inhalt ihrer edelsten Erzeugnisse auch an einem kleinen Teile wirklich kennen gelernt, ihren Geist wahrhaft erfaßt hat, wird reichlichen Gewinn für seine ganze Denk- lind Anschauungsweise davontragen. Auch die römische Litteratur, ein Ersatz sür die griechische, wo diese verloren ist, hat ihre selbständigen Vorzüge. Hochwichtig aber sind die alten Litteratur¬ denkmäler namentlich in formaler Beziehung. Das Umdenken, das Durchkneten des Geistes geschieht in keiner Weise besser als an der Hand der alten Texte, eben weil wir hier tote Sprachen haben, die mit der unsrigen nicht so viel Ähnlichkeit ausweisen als die modernen, wenigstens als die von ihnen, die hier in Betracht kommen, aus denen doch zu einem sehr großen Teile mehr oder minder gedankenlos Wort für Wort oder Satz sür Satz übersetzt werden kann, jedenfalls weit häufiger, als dies bei den alten Sprachen der Fall ist. Hier steht das Lateinische dem Griechischen noch voran, und so ergänzen sich diese beiden Unterrichtsfächer sehr glücklich dahin, daß bei dem einen der Inhalt, bei dem andern die Form von größerer Wichtigkeit ist, und wollte man dies berück- sichtigen und darnach beim griechischen Unterrichte mehr den Inhalt, beim lateinischen mehr die Form betonen — man würde freilich nicht ganz ohne treffliche Übersetzungen auskommen —, so würde man zugleich zweierlei erreichen: genügendes Verständnis für den Inhalt der griechischen Litteratur und zu¬ reichende Fertigkeit im Lateinlesen. Denn der lateinischen Sprache wird der Höhergebildete immer mächtig sein müssen; der griechischen gegenüber ist die Forderung nicht in dem Maße zwingend, wenn man hierüber auch verschiedener Ansicht sein kaum Ähnliches wie von der Litteratur gilt von der alten Ge¬ schichte, ja sie eignet sich durch ihren regelmäßigen, gleichsam planvollen Ver¬ lauf besser als die meisten andern Zeitperioden zum Lehrstoff für das Gym¬ nasium, wenigstens bis zu einem gewissen Zeitpunkte, die griechische im fünften Jahrhundert, die römische bis zur Kaiserzeit. Eine Zeit mit Kämpfen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/176>, abgerufen am 23.07.2024.