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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Die rote Fahne

einer der Sprecher der Partei bei einem ihr zu Ehren veranstalteten Trink¬
gelage. Unter den Abgeordneten trat wahrend der Verhandlungen ein Todes¬
fall ein: die rote Fahne gab die schmückende Hülle des Sarges her, wie sie
alsbald auch dem Trnuerzuge vorausgetragen wurde.

Die Erklärung des Sinnbildes der Sozialdemokratie liegt, so scheint es,
auf der Hand. Rot ist die Farbe des Blutes und des Feuers. Was Wunder
also, daß der Socialdemokrat durch die Farbe seines Banners ans Blutvergießen
und Feuersbrunst als die Mittel hindeutet, die er, auch nach der Meinung
seiner Gegner, zur Beseitigung der bestehenden Gesellschaftsordnung nicht ent¬
behren kann? Dem Psychologen möchte diese Erklärung vielleicht genügen.
Dennoch ist sie unhaltbar. Die rote Fahne hat vielmehr, wie fast alle
Sinnbilder, ihre Geschichte. Das Gebilde der Phantasie zerstiebt auch hier vor
den Thatsachen. '

Die Heimat des roten Banners ist das revolutionäre Frankreich des
vorigen Jahrhuuders, seine Mutter die Konstituante. sende ursprüngliche Ver¬
wendung in jener Zeit hat aber eine von der heutigen grundverschiedne Be¬
deutung.

Das Aufruhrgesetz vom 21.Oktober 1789 bestimmt nämlich, daß den Nationnl-
garden, die zur Niederhaltung aufriihrerischer Volksmassen aufgeboten würden,
eine rote Fahne vorausgetragen werden sollte. Durch dasselbe Gesetz wurde
nachdrücklich verordnet, daß zum Zeichen der Absicht des bewaffneten Ein¬
schreitens der städtischen Behörden eine rote Fahne auch ant Hauptfenster der
Rathäuser ausgesteckt werden sollte; erst nach Beseitigung der Störung sollte
eine weiße Fahne an die Stelle der roten treten.

Wie man sieht, ist die rote Fahne zu einer eigentümlichen sinnbild¬
lichen Bedeuttlng auf dem nüchternen Wege der Gesetzgebung gelangt. In
ihrem erstell Ursprünge ein obrigkeitliches Signal, bedroht sie im Interesse
der öffentlichen Ordnung Ruhestörer und Empörer mit dem Ernste der
Waffen.

Berücksichtigt man die Zeitlage, so muß man sagen, daß es sehr lange
dauerte, ehe von dem Aufruhrgesetz und damit von der roten Fahne Gebrauch
gemacht wurde. Die Abneigung gegen eine bewaffnete Einwirkung auf die
Massen des hauptstädtischen Pöbels war freilich tief in dem Charakter der
einstweilen herrschenden Partei der Konstitutionellen begründet. Zudem war
Bailly, der Maire von Paris, ein ängstlicher Mann, der jeder Nötigung zum
kampfbereiten Einschreiten möglichst aus dem Wege ging. Erst als sich die
Nationalversammlung selbst der Gefahr der Vergewaltigung durch den Pöbel
gegenübersah, erinnerte man sich an die noch jungfräuliche Waffe. Die That¬
sache ist bekannt. Am 17. Juli 1791 wurde auf dem Altare des Vaterlandes
auf dem Marsfelde eine auf Absetzung des Königs gerichtete Petition an die
Nationalversamiitlung öffentlich zur Unterzeichnung ausgelegt, was dem


Die rote Fahne

einer der Sprecher der Partei bei einem ihr zu Ehren veranstalteten Trink¬
gelage. Unter den Abgeordneten trat wahrend der Verhandlungen ein Todes¬
fall ein: die rote Fahne gab die schmückende Hülle des Sarges her, wie sie
alsbald auch dem Trnuerzuge vorausgetragen wurde.

Die Erklärung des Sinnbildes der Sozialdemokratie liegt, so scheint es,
auf der Hand. Rot ist die Farbe des Blutes und des Feuers. Was Wunder
also, daß der Socialdemokrat durch die Farbe seines Banners ans Blutvergießen
und Feuersbrunst als die Mittel hindeutet, die er, auch nach der Meinung
seiner Gegner, zur Beseitigung der bestehenden Gesellschaftsordnung nicht ent¬
behren kann? Dem Psychologen möchte diese Erklärung vielleicht genügen.
Dennoch ist sie unhaltbar. Die rote Fahne hat vielmehr, wie fast alle
Sinnbilder, ihre Geschichte. Das Gebilde der Phantasie zerstiebt auch hier vor
den Thatsachen. '

Die Heimat des roten Banners ist das revolutionäre Frankreich des
vorigen Jahrhuuders, seine Mutter die Konstituante. sende ursprüngliche Ver¬
wendung in jener Zeit hat aber eine von der heutigen grundverschiedne Be¬
deutung.

Das Aufruhrgesetz vom 21.Oktober 1789 bestimmt nämlich, daß den Nationnl-
garden, die zur Niederhaltung aufriihrerischer Volksmassen aufgeboten würden,
eine rote Fahne vorausgetragen werden sollte. Durch dasselbe Gesetz wurde
nachdrücklich verordnet, daß zum Zeichen der Absicht des bewaffneten Ein¬
schreitens der städtischen Behörden eine rote Fahne auch ant Hauptfenster der
Rathäuser ausgesteckt werden sollte; erst nach Beseitigung der Störung sollte
eine weiße Fahne an die Stelle der roten treten.

Wie man sieht, ist die rote Fahne zu einer eigentümlichen sinnbild¬
lichen Bedeuttlng auf dem nüchternen Wege der Gesetzgebung gelangt. In
ihrem erstell Ursprünge ein obrigkeitliches Signal, bedroht sie im Interesse
der öffentlichen Ordnung Ruhestörer und Empörer mit dem Ernste der
Waffen.

Berücksichtigt man die Zeitlage, so muß man sagen, daß es sehr lange
dauerte, ehe von dem Aufruhrgesetz und damit von der roten Fahne Gebrauch
gemacht wurde. Die Abneigung gegen eine bewaffnete Einwirkung auf die
Massen des hauptstädtischen Pöbels war freilich tief in dem Charakter der
einstweilen herrschenden Partei der Konstitutionellen begründet. Zudem war
Bailly, der Maire von Paris, ein ängstlicher Mann, der jeder Nötigung zum
kampfbereiten Einschreiten möglichst aus dem Wege ging. Erst als sich die
Nationalversammlung selbst der Gefahr der Vergewaltigung durch den Pöbel
gegenübersah, erinnerte man sich an die noch jungfräuliche Waffe. Die That¬
sache ist bekannt. Am 17. Juli 1791 wurde auf dem Altare des Vaterlandes
auf dem Marsfelde eine auf Absetzung des Königs gerichtete Petition an die
Nationalversamiitlung öffentlich zur Unterzeichnung ausgelegt, was dem


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[0166] Die rote Fahne einer der Sprecher der Partei bei einem ihr zu Ehren veranstalteten Trink¬ gelage. Unter den Abgeordneten trat wahrend der Verhandlungen ein Todes¬ fall ein: die rote Fahne gab die schmückende Hülle des Sarges her, wie sie alsbald auch dem Trnuerzuge vorausgetragen wurde. Die Erklärung des Sinnbildes der Sozialdemokratie liegt, so scheint es, auf der Hand. Rot ist die Farbe des Blutes und des Feuers. Was Wunder also, daß der Socialdemokrat durch die Farbe seines Banners ans Blutvergießen und Feuersbrunst als die Mittel hindeutet, die er, auch nach der Meinung seiner Gegner, zur Beseitigung der bestehenden Gesellschaftsordnung nicht ent¬ behren kann? Dem Psychologen möchte diese Erklärung vielleicht genügen. Dennoch ist sie unhaltbar. Die rote Fahne hat vielmehr, wie fast alle Sinnbilder, ihre Geschichte. Das Gebilde der Phantasie zerstiebt auch hier vor den Thatsachen. ' Die Heimat des roten Banners ist das revolutionäre Frankreich des vorigen Jahrhuuders, seine Mutter die Konstituante. sende ursprüngliche Ver¬ wendung in jener Zeit hat aber eine von der heutigen grundverschiedne Be¬ deutung. Das Aufruhrgesetz vom 21.Oktober 1789 bestimmt nämlich, daß den Nationnl- garden, die zur Niederhaltung aufriihrerischer Volksmassen aufgeboten würden, eine rote Fahne vorausgetragen werden sollte. Durch dasselbe Gesetz wurde nachdrücklich verordnet, daß zum Zeichen der Absicht des bewaffneten Ein¬ schreitens der städtischen Behörden eine rote Fahne auch ant Hauptfenster der Rathäuser ausgesteckt werden sollte; erst nach Beseitigung der Störung sollte eine weiße Fahne an die Stelle der roten treten. Wie man sieht, ist die rote Fahne zu einer eigentümlichen sinnbild¬ lichen Bedeuttlng auf dem nüchternen Wege der Gesetzgebung gelangt. In ihrem erstell Ursprünge ein obrigkeitliches Signal, bedroht sie im Interesse der öffentlichen Ordnung Ruhestörer und Empörer mit dem Ernste der Waffen. Berücksichtigt man die Zeitlage, so muß man sagen, daß es sehr lange dauerte, ehe von dem Aufruhrgesetz und damit von der roten Fahne Gebrauch gemacht wurde. Die Abneigung gegen eine bewaffnete Einwirkung auf die Massen des hauptstädtischen Pöbels war freilich tief in dem Charakter der einstweilen herrschenden Partei der Konstitutionellen begründet. Zudem war Bailly, der Maire von Paris, ein ängstlicher Mann, der jeder Nötigung zum kampfbereiten Einschreiten möglichst aus dem Wege ging. Erst als sich die Nationalversammlung selbst der Gefahr der Vergewaltigung durch den Pöbel gegenübersah, erinnerte man sich an die noch jungfräuliche Waffe. Die That¬ sache ist bekannt. Am 17. Juli 1791 wurde auf dem Altare des Vaterlandes auf dem Marsfelde eine auf Absetzung des Königs gerichtete Petition an die Nationalversamiitlung öffentlich zur Unterzeichnung ausgelegt, was dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/166>, abgerufen am 23.07.2024.