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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Das eherne Lohngesetz

und weiterwachseude Arbeiterzahl gegenüberstehen, auf die sich der Arbeits¬
ertrag verteilt. Folglich würde der Anteil, der auf den Einzelnen käme, all¬
mählich kleiner werden, und dieser Prozeß müßte offenbar fo lauge fortdauern,
bis wieder der Eiuzelanteil an dein gleichbleibenden Gesamtarbeitsertrag nicht
mehr als den landesüblichen, notdürftigen Lebensunterhalt decken würde.
Dann, erst dann würde die Bevölkerung nach dem eherne" Lvhngesetz aufhören
zu wachsen.

Nehmen wir an, der Gesamtarbeitsertrag im Jahre sei 100 Milliarden
Mark, die Zahl der sich darein teilenden Arbeiter sei 100 Millionen, so käme
auf einen 1000 Mark. Der notdürftige Unterhalt soll 600 Mark erfordern.
Infolgedessen würden die 100 Millionen Arbeiter, wenn nun 1000 Mark um
jeden verteilt würden, sich rasch vermehren, während die 100 Milliarden
Ertrag sich nicht vergrößern könnten. Erst wenn die Aröeiterzahl auf etwa
167 Millionen gestiegen wäre, würde die Vermehrung nach dem ehernen Lohn¬
gesetz aufhören, denn auf 167 Millionen 100 Milliarden verteilt, giebt etwa
600 Mark für den Kopf, d. h. den gesetzten notdürftigen Lebensunterhalt.

Das eherne Lohngesetz -- das, wie gesagt, der Ausgangspunkt der
gesamten sozialen Bewegung ist -- wurde nun von seiten der sozial-
demokratischen Agitatoren von Anfang an und so lange den Massen als
unerschütterliche Wahrheit angepriesen, als es sich lediglich gegen die Be¬
sitzenden zu wenden schien, als seine andre schneidige, wider den sozialdemo¬
kratischen Dilettantismus gerichtete Seite nur erst wenigen tiefer denkenden
Köpfen bekannt war. Je weiter sich aber diese Einsicht ausbreitet, eine desto
gefährlichere, die Spitze gegen die eigne Brust lehrende Waffe wird das eherne
Lvhngesetz für den gewerbsmäßigen Agitator.

Von einigen ehrlichen Schwärmern abgesehen, ist die Triebfeder des ge¬
werbsmäßigen Agitators nicht die Liebe zu den Menschen, sondern die eigne
materielle Existenz, bestenfalls der Ehrgeiz. Aber auch der bloße Ehrgeizige
wird gegenüber einer gewonnenen gründlichern Einsicht in die Dinge auf eine
fast übermenschliche Tugendprobe gestellt, denn er müßte mit den: Bekenntnis
seines Irrtums auf das Ansehen und die Macht verzichten, die er seither bei
den unwissenden Massen genossen hat. Anderseits ist das, was das arbeitende
Volk mit diesen Leuten verbindet, nicht der Verstand, sondern die Leidenschaft.
Sie wissen den Arbeitern gnr nichts Gründliches zu sagen, weil sie zwar fast
ausnahmslos eine angeborene große Redegabe besitzen, aber in ihrem Wissen
und Denken nicht über Marx und Lassalle hinauskommen, und zwar besten¬
falls, denn der Inhalt ihrer Reden beweist, daß z. B. von den etwa 35
jetzigen sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten schwerlich auch nur ein
Dutzend Marx gründlich studirt und begriffen hat. Von einem Eindringe"
in die weiten und schwierigen Wissensgebiete, von denen die soziale Spezial¬
Wissenschaft befruchtet und ergänzt wird und die beherrscht sein wollen, wenn


Das eherne Lohngesetz

und weiterwachseude Arbeiterzahl gegenüberstehen, auf die sich der Arbeits¬
ertrag verteilt. Folglich würde der Anteil, der auf den Einzelnen käme, all¬
mählich kleiner werden, und dieser Prozeß müßte offenbar fo lauge fortdauern,
bis wieder der Eiuzelanteil an dein gleichbleibenden Gesamtarbeitsertrag nicht
mehr als den landesüblichen, notdürftigen Lebensunterhalt decken würde.
Dann, erst dann würde die Bevölkerung nach dem eherne» Lvhngesetz aufhören
zu wachsen.

Nehmen wir an, der Gesamtarbeitsertrag im Jahre sei 100 Milliarden
Mark, die Zahl der sich darein teilenden Arbeiter sei 100 Millionen, so käme
auf einen 1000 Mark. Der notdürftige Unterhalt soll 600 Mark erfordern.
Infolgedessen würden die 100 Millionen Arbeiter, wenn nun 1000 Mark um
jeden verteilt würden, sich rasch vermehren, während die 100 Milliarden
Ertrag sich nicht vergrößern könnten. Erst wenn die Aröeiterzahl auf etwa
167 Millionen gestiegen wäre, würde die Vermehrung nach dem ehernen Lohn¬
gesetz aufhören, denn auf 167 Millionen 100 Milliarden verteilt, giebt etwa
600 Mark für den Kopf, d. h. den gesetzten notdürftigen Lebensunterhalt.

Das eherne Lohngesetz — das, wie gesagt, der Ausgangspunkt der
gesamten sozialen Bewegung ist — wurde nun von seiten der sozial-
demokratischen Agitatoren von Anfang an und so lange den Massen als
unerschütterliche Wahrheit angepriesen, als es sich lediglich gegen die Be¬
sitzenden zu wenden schien, als seine andre schneidige, wider den sozialdemo¬
kratischen Dilettantismus gerichtete Seite nur erst wenigen tiefer denkenden
Köpfen bekannt war. Je weiter sich aber diese Einsicht ausbreitet, eine desto
gefährlichere, die Spitze gegen die eigne Brust lehrende Waffe wird das eherne
Lvhngesetz für den gewerbsmäßigen Agitator.

Von einigen ehrlichen Schwärmern abgesehen, ist die Triebfeder des ge¬
werbsmäßigen Agitators nicht die Liebe zu den Menschen, sondern die eigne
materielle Existenz, bestenfalls der Ehrgeiz. Aber auch der bloße Ehrgeizige
wird gegenüber einer gewonnenen gründlichern Einsicht in die Dinge auf eine
fast übermenschliche Tugendprobe gestellt, denn er müßte mit den: Bekenntnis
seines Irrtums auf das Ansehen und die Macht verzichten, die er seither bei
den unwissenden Massen genossen hat. Anderseits ist das, was das arbeitende
Volk mit diesen Leuten verbindet, nicht der Verstand, sondern die Leidenschaft.
Sie wissen den Arbeitern gnr nichts Gründliches zu sagen, weil sie zwar fast
ausnahmslos eine angeborene große Redegabe besitzen, aber in ihrem Wissen
und Denken nicht über Marx und Lassalle hinauskommen, und zwar besten¬
falls, denn der Inhalt ihrer Reden beweist, daß z. B. von den etwa 35
jetzigen sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten schwerlich auch nur ein
Dutzend Marx gründlich studirt und begriffen hat. Von einem Eindringe»
in die weiten und schwierigen Wissensgebiete, von denen die soziale Spezial¬
Wissenschaft befruchtet und ergänzt wird und die beherrscht sein wollen, wenn


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[0117] Das eherne Lohngesetz und weiterwachseude Arbeiterzahl gegenüberstehen, auf die sich der Arbeits¬ ertrag verteilt. Folglich würde der Anteil, der auf den Einzelnen käme, all¬ mählich kleiner werden, und dieser Prozeß müßte offenbar fo lauge fortdauern, bis wieder der Eiuzelanteil an dein gleichbleibenden Gesamtarbeitsertrag nicht mehr als den landesüblichen, notdürftigen Lebensunterhalt decken würde. Dann, erst dann würde die Bevölkerung nach dem eherne» Lvhngesetz aufhören zu wachsen. Nehmen wir an, der Gesamtarbeitsertrag im Jahre sei 100 Milliarden Mark, die Zahl der sich darein teilenden Arbeiter sei 100 Millionen, so käme auf einen 1000 Mark. Der notdürftige Unterhalt soll 600 Mark erfordern. Infolgedessen würden die 100 Millionen Arbeiter, wenn nun 1000 Mark um jeden verteilt würden, sich rasch vermehren, während die 100 Milliarden Ertrag sich nicht vergrößern könnten. Erst wenn die Aröeiterzahl auf etwa 167 Millionen gestiegen wäre, würde die Vermehrung nach dem ehernen Lohn¬ gesetz aufhören, denn auf 167 Millionen 100 Milliarden verteilt, giebt etwa 600 Mark für den Kopf, d. h. den gesetzten notdürftigen Lebensunterhalt. Das eherne Lohngesetz — das, wie gesagt, der Ausgangspunkt der gesamten sozialen Bewegung ist — wurde nun von seiten der sozial- demokratischen Agitatoren von Anfang an und so lange den Massen als unerschütterliche Wahrheit angepriesen, als es sich lediglich gegen die Be¬ sitzenden zu wenden schien, als seine andre schneidige, wider den sozialdemo¬ kratischen Dilettantismus gerichtete Seite nur erst wenigen tiefer denkenden Köpfen bekannt war. Je weiter sich aber diese Einsicht ausbreitet, eine desto gefährlichere, die Spitze gegen die eigne Brust lehrende Waffe wird das eherne Lvhngesetz für den gewerbsmäßigen Agitator. Von einigen ehrlichen Schwärmern abgesehen, ist die Triebfeder des ge¬ werbsmäßigen Agitators nicht die Liebe zu den Menschen, sondern die eigne materielle Existenz, bestenfalls der Ehrgeiz. Aber auch der bloße Ehrgeizige wird gegenüber einer gewonnenen gründlichern Einsicht in die Dinge auf eine fast übermenschliche Tugendprobe gestellt, denn er müßte mit den: Bekenntnis seines Irrtums auf das Ansehen und die Macht verzichten, die er seither bei den unwissenden Massen genossen hat. Anderseits ist das, was das arbeitende Volk mit diesen Leuten verbindet, nicht der Verstand, sondern die Leidenschaft. Sie wissen den Arbeitern gnr nichts Gründliches zu sagen, weil sie zwar fast ausnahmslos eine angeborene große Redegabe besitzen, aber in ihrem Wissen und Denken nicht über Marx und Lassalle hinauskommen, und zwar besten¬ falls, denn der Inhalt ihrer Reden beweist, daß z. B. von den etwa 35 jetzigen sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten schwerlich auch nur ein Dutzend Marx gründlich studirt und begriffen hat. Von einem Eindringe» in die weiten und schwierigen Wissensgebiete, von denen die soziale Spezial¬ Wissenschaft befruchtet und ergänzt wird und die beherrscht sein wollen, wenn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/117>, abgerufen am 23.07.2024.