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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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gangenheit oder Zukunft niemals auch nur von einem Einzigen zu sagen sein,
daß sein jährlicher notdürftiger Lebensunterhalt genan mit jener Zahl über¬
eingestimmt hätte, sondern dieser Unterhalt bewegt sich um jene Zahl in un¬
ermeßlicher Verschiedenheit der Einzelfälle. Unaufhörlich tauchen Millionen
Menschen für Tage, Jahre, Menschenalter darin auf lind unter. Unterhalt
lind Lohn aber streben dieser Zahl, wie der Magnet dem Pol, notwendig zu.

Wer trotzdem die Nichtigkeit der Analyse Nieardos bemnugelt, würde nur
in dem Falle Anspruch auf Gehör erheben können, wenn er ans die Frage,
mit der sich Ricardo beschäftigte, eine bessere oder doch ebenso zureichende
Antwort geben könnte. Dies ist aber bis zum heutigen Tage noch nicht ge¬
schehen, insbesondere auch nicht von Marx, und deshalb ist es eine Unge¬
reimtheit, wenn jemand einerseits die Giltigkeit des Lohngesetzes bestreitet und
anderseits ans die Frage: Woher der unvermittelte Gegensatz zwischen Reich
und Arm? einfach verstummt.

Allein mit dem ehernen Lvhngesetz hat es freilich die besondre Bewandtnis,
daß es sich Nieder um die Dummheiten der Manchesterlehre von der Unver-
äußerlichleit aller heutigen Vorrechte des Besitzes, noch um die Dummheit des
sozinldemvkratischeu Heilmittels der Staatsprvdnktion kümmert. Denn die zu
leistende gesellschaftliche Arbeit hat die bereits geleistete, d. h. das Kapital,
den Vorschuß, zur notwendigen Voraussetzung. Ohne Werkzeug, Rohstoff,
Unterhalt des Arbeiters u. f. w., kurz ohne Vorschuß, d. h. Kapital, ist keine
Produktion möglich. Das lehren selbstverständlich auch Marx und Lassalle.
Der letztere sagt in dem Büchlein "Kapital lind Arbeit," daß ohne Kapital
wohl etwa ein Indianer-, aber kein moderner Arbeiterstaat gedacht werden
könne. Auch ist es offenbar, daß die wachsende Produktion notwendig
wachsenden Vorschuß erheischt. Wenn eine Eisenbahn von einer Meile Länge
hergestellt werden soll, so ist ein Kapital (Vorschuß) von -- sagen wir --
einer Million erforderlich. Soll hernach die Eisenbahn zehn Meilen weiter
gebaut werden, so bedarf es eines größern Kapitals (Vorschusses).

Das alles ist wohl sonnenklar. Gesetzt nun, man begänne die allgemeine
Staatsproduktion und damit die Verteilung des vollen Ergebnisses der Pro¬
duktion, des Arbeitsertrages. Was würde das eherne Lohngesetz antworten?
Daß der Arbeitsertrag gegenwärtig mehr als der Arbeitslohn sei; daß dieses
Mehr über den notdürftigen, landesüblichen Lebensunterhalt hinausgehe: daß
jedes Mehr über den notdürftigen Lebensunterhalt die Vermehrung der Be¬
völkerung, mithin des Angebots von Arbeitskräften zur Folge habe. Bald
würde die größere Bevölkerung eine entsprechend größere Produktion verlangen.
Aber da ja der ganze Arbeitsertrag"'ausgegeben wäre, so würde hierzu kein
Kapital, kein Vorschuß vorhanden, die Vergrößerung der Produktion würde
unmöglich sein.

In lnrzenl würde also dem gleichbleibenden Arbeitsertrag eine gewachsene


gangenheit oder Zukunft niemals auch nur von einem Einzigen zu sagen sein,
daß sein jährlicher notdürftiger Lebensunterhalt genan mit jener Zahl über¬
eingestimmt hätte, sondern dieser Unterhalt bewegt sich um jene Zahl in un¬
ermeßlicher Verschiedenheit der Einzelfälle. Unaufhörlich tauchen Millionen
Menschen für Tage, Jahre, Menschenalter darin auf lind unter. Unterhalt
lind Lohn aber streben dieser Zahl, wie der Magnet dem Pol, notwendig zu.

Wer trotzdem die Nichtigkeit der Analyse Nieardos bemnugelt, würde nur
in dem Falle Anspruch auf Gehör erheben können, wenn er ans die Frage,
mit der sich Ricardo beschäftigte, eine bessere oder doch ebenso zureichende
Antwort geben könnte. Dies ist aber bis zum heutigen Tage noch nicht ge¬
schehen, insbesondere auch nicht von Marx, und deshalb ist es eine Unge¬
reimtheit, wenn jemand einerseits die Giltigkeit des Lohngesetzes bestreitet und
anderseits ans die Frage: Woher der unvermittelte Gegensatz zwischen Reich
und Arm? einfach verstummt.

Allein mit dem ehernen Lvhngesetz hat es freilich die besondre Bewandtnis,
daß es sich Nieder um die Dummheiten der Manchesterlehre von der Unver-
äußerlichleit aller heutigen Vorrechte des Besitzes, noch um die Dummheit des
sozinldemvkratischeu Heilmittels der Staatsprvdnktion kümmert. Denn die zu
leistende gesellschaftliche Arbeit hat die bereits geleistete, d. h. das Kapital,
den Vorschuß, zur notwendigen Voraussetzung. Ohne Werkzeug, Rohstoff,
Unterhalt des Arbeiters u. f. w., kurz ohne Vorschuß, d. h. Kapital, ist keine
Produktion möglich. Das lehren selbstverständlich auch Marx und Lassalle.
Der letztere sagt in dem Büchlein „Kapital lind Arbeit," daß ohne Kapital
wohl etwa ein Indianer-, aber kein moderner Arbeiterstaat gedacht werden
könne. Auch ist es offenbar, daß die wachsende Produktion notwendig
wachsenden Vorschuß erheischt. Wenn eine Eisenbahn von einer Meile Länge
hergestellt werden soll, so ist ein Kapital (Vorschuß) von — sagen wir —
einer Million erforderlich. Soll hernach die Eisenbahn zehn Meilen weiter
gebaut werden, so bedarf es eines größern Kapitals (Vorschusses).

Das alles ist wohl sonnenklar. Gesetzt nun, man begänne die allgemeine
Staatsproduktion und damit die Verteilung des vollen Ergebnisses der Pro¬
duktion, des Arbeitsertrages. Was würde das eherne Lohngesetz antworten?
Daß der Arbeitsertrag gegenwärtig mehr als der Arbeitslohn sei; daß dieses
Mehr über den notdürftigen, landesüblichen Lebensunterhalt hinausgehe: daß
jedes Mehr über den notdürftigen Lebensunterhalt die Vermehrung der Be¬
völkerung, mithin des Angebots von Arbeitskräften zur Folge habe. Bald
würde die größere Bevölkerung eine entsprechend größere Produktion verlangen.
Aber da ja der ganze Arbeitsertrag"'ausgegeben wäre, so würde hierzu kein
Kapital, kein Vorschuß vorhanden, die Vergrößerung der Produktion würde
unmöglich sein.

In lnrzenl würde also dem gleichbleibenden Arbeitsertrag eine gewachsene


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[0116] gangenheit oder Zukunft niemals auch nur von einem Einzigen zu sagen sein, daß sein jährlicher notdürftiger Lebensunterhalt genan mit jener Zahl über¬ eingestimmt hätte, sondern dieser Unterhalt bewegt sich um jene Zahl in un¬ ermeßlicher Verschiedenheit der Einzelfälle. Unaufhörlich tauchen Millionen Menschen für Tage, Jahre, Menschenalter darin auf lind unter. Unterhalt lind Lohn aber streben dieser Zahl, wie der Magnet dem Pol, notwendig zu. Wer trotzdem die Nichtigkeit der Analyse Nieardos bemnugelt, würde nur in dem Falle Anspruch auf Gehör erheben können, wenn er ans die Frage, mit der sich Ricardo beschäftigte, eine bessere oder doch ebenso zureichende Antwort geben könnte. Dies ist aber bis zum heutigen Tage noch nicht ge¬ schehen, insbesondere auch nicht von Marx, und deshalb ist es eine Unge¬ reimtheit, wenn jemand einerseits die Giltigkeit des Lohngesetzes bestreitet und anderseits ans die Frage: Woher der unvermittelte Gegensatz zwischen Reich und Arm? einfach verstummt. Allein mit dem ehernen Lvhngesetz hat es freilich die besondre Bewandtnis, daß es sich Nieder um die Dummheiten der Manchesterlehre von der Unver- äußerlichleit aller heutigen Vorrechte des Besitzes, noch um die Dummheit des sozinldemvkratischeu Heilmittels der Staatsprvdnktion kümmert. Denn die zu leistende gesellschaftliche Arbeit hat die bereits geleistete, d. h. das Kapital, den Vorschuß, zur notwendigen Voraussetzung. Ohne Werkzeug, Rohstoff, Unterhalt des Arbeiters u. f. w., kurz ohne Vorschuß, d. h. Kapital, ist keine Produktion möglich. Das lehren selbstverständlich auch Marx und Lassalle. Der letztere sagt in dem Büchlein „Kapital lind Arbeit," daß ohne Kapital wohl etwa ein Indianer-, aber kein moderner Arbeiterstaat gedacht werden könne. Auch ist es offenbar, daß die wachsende Produktion notwendig wachsenden Vorschuß erheischt. Wenn eine Eisenbahn von einer Meile Länge hergestellt werden soll, so ist ein Kapital (Vorschuß) von — sagen wir — einer Million erforderlich. Soll hernach die Eisenbahn zehn Meilen weiter gebaut werden, so bedarf es eines größern Kapitals (Vorschusses). Das alles ist wohl sonnenklar. Gesetzt nun, man begänne die allgemeine Staatsproduktion und damit die Verteilung des vollen Ergebnisses der Pro¬ duktion, des Arbeitsertrages. Was würde das eherne Lohngesetz antworten? Daß der Arbeitsertrag gegenwärtig mehr als der Arbeitslohn sei; daß dieses Mehr über den notdürftigen, landesüblichen Lebensunterhalt hinausgehe: daß jedes Mehr über den notdürftigen Lebensunterhalt die Vermehrung der Be¬ völkerung, mithin des Angebots von Arbeitskräften zur Folge habe. Bald würde die größere Bevölkerung eine entsprechend größere Produktion verlangen. Aber da ja der ganze Arbeitsertrag"'ausgegeben wäre, so würde hierzu kein Kapital, kein Vorschuß vorhanden, die Vergrößerung der Produktion würde unmöglich sein. In lnrzenl würde also dem gleichbleibenden Arbeitsertrag eine gewachsene

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/116>, abgerufen am 23.07.2024.