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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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den Kreisen der gebildeten Bevölkerung, sondern noch immer als die absonder¬
liche Idee einiger Wenigen verspottet wird, und dies in einer Zeit, wo alle
Welt auf dem Boden der kaiserlichen Botschaft von 1881 zu stehen behauptet,
die ja gerade, uuter selbstverständlichen Ausschluß des staatliche Eingriffe ver¬
schmähenden Manchestertums, alle übrigen Parteien zum Zusammenschluß unter
dem Banner der Monarchie, also gerade zu derjenigen Vereinigung auffordert,
die wir vertrete". Es ist die Alltagsweisheit des einfachen Menschenverstandes,
die hier von uns zum beste" gegeben wird, aber es scheint, als ob sich die
öffentliche Meinung dank der fast absoluten Herrschaft, die die Parteien durch
ihre Presse über sie ausüben, auf Irrwegen befinde, auf denen sie selbst das
nicht sieht, was klar am Tage liegt.

Wie ist es deun auch anders zu erklären, als durch den ungesunden Ein¬
fluß eines überlebten Parteiwesens, daß trotz der furchtbaren Warnungen, die
uns jeder Tag bringt, trotz der dringenden Mahnungen eines weitsichtigen
Monarchen, trotz der schöpferischen Arbeit eines pflichtgetreuen, echt preußischen
Beamtentums, trotz der gedankenreichen Werke unsrer nationalökonomischen
Theoretiker, der aus alle" diesen Kundgebungen sprechende sozialreformatvrische
Gedanke noch immer im Volke nicht recht Fuß faßt? Visher haben wir leider
nichts andres mis eine Unterströmung mit allen den Mängeln, die derartigen
Unterströmungen anhaften. Aber so sehr sie auch an dem Fehler der Über¬
treibung, an Einseitigkeit, an Verwechslungen der Krankheitsursache mit einzelnen
Allzeichen der Krankheit leiden mag, vorhanden ist diese Unterströmung doch
schon, und sie wird allmählich anwachsen zu einem mächtigen Strom, im
Wachsen alles das abstreifend, was sie heute noch entstellt. Sie neunt sich
zur Zeit christlich-soziale und deutsch-soziale, bisweilen auch antisemitische Be¬
wegung, lind sie wird mit Recht zurückgeführt auf jenen vielgeschmähten Mann,
dessen Namen zu nennen in vielen Kreisen schon als ein Verbrechen erscheint,
und bei dessen Erwähnung ein Aufschrei der Erbitterung durch die Lande geht,
auf den Hofprediger Stöcker. Schon dieser Schmerzensschrei zeigt, wie nahe
jener Mann und die gleich verhaßte von ihm ausgehende Bewegung an die
wunde Stelle und den eigentlichen Sitz des Leidens unsers sozialen Körpers
gekommen ist. Doch -- man mißverstehe uns nicht! Es liegt uns fern, alles
das, was Stöcker gedacht und gesagt hat, vertreten zu wollen. Wir wollen
die Rätlichkeit des Aufbaues der sozialmonarchischen Partei auf ein positives
kirchliches Bekenntnis nicht verteidigen^, im Gegenteil sind wir der Meinung,
daß diese Partei nur dann Leben und im Volke Boden finden wird, wenn sie
sich frei macht von jeglichem konfessionellen Standpunkt und ohne kirchliche
Streitigkeiten zu berühren sich darauf beschränkt, nur den Glauben an Gott
und die elementaren Grundbegriffe aller Religion und aller Bekenntnisse zu
verteidigen. Wir wollen weiter nicht vertreten, was vielleicht weniger Stöcker,
die antisemitische Bewegung aber ganz gewiß thut, jene grundverkehrte An-


den Kreisen der gebildeten Bevölkerung, sondern noch immer als die absonder¬
liche Idee einiger Wenigen verspottet wird, und dies in einer Zeit, wo alle
Welt auf dem Boden der kaiserlichen Botschaft von 1881 zu stehen behauptet,
die ja gerade, uuter selbstverständlichen Ausschluß des staatliche Eingriffe ver¬
schmähenden Manchestertums, alle übrigen Parteien zum Zusammenschluß unter
dem Banner der Monarchie, also gerade zu derjenigen Vereinigung auffordert,
die wir vertrete». Es ist die Alltagsweisheit des einfachen Menschenverstandes,
die hier von uns zum beste» gegeben wird, aber es scheint, als ob sich die
öffentliche Meinung dank der fast absoluten Herrschaft, die die Parteien durch
ihre Presse über sie ausüben, auf Irrwegen befinde, auf denen sie selbst das
nicht sieht, was klar am Tage liegt.

Wie ist es deun auch anders zu erklären, als durch den ungesunden Ein¬
fluß eines überlebten Parteiwesens, daß trotz der furchtbaren Warnungen, die
uns jeder Tag bringt, trotz der dringenden Mahnungen eines weitsichtigen
Monarchen, trotz der schöpferischen Arbeit eines pflichtgetreuen, echt preußischen
Beamtentums, trotz der gedankenreichen Werke unsrer nationalökonomischen
Theoretiker, der aus alle» diesen Kundgebungen sprechende sozialreformatvrische
Gedanke noch immer im Volke nicht recht Fuß faßt? Visher haben wir leider
nichts andres mis eine Unterströmung mit allen den Mängeln, die derartigen
Unterströmungen anhaften. Aber so sehr sie auch an dem Fehler der Über¬
treibung, an Einseitigkeit, an Verwechslungen der Krankheitsursache mit einzelnen
Allzeichen der Krankheit leiden mag, vorhanden ist diese Unterströmung doch
schon, und sie wird allmählich anwachsen zu einem mächtigen Strom, im
Wachsen alles das abstreifend, was sie heute noch entstellt. Sie neunt sich
zur Zeit christlich-soziale und deutsch-soziale, bisweilen auch antisemitische Be¬
wegung, lind sie wird mit Recht zurückgeführt auf jenen vielgeschmähten Mann,
dessen Namen zu nennen in vielen Kreisen schon als ein Verbrechen erscheint,
und bei dessen Erwähnung ein Aufschrei der Erbitterung durch die Lande geht,
auf den Hofprediger Stöcker. Schon dieser Schmerzensschrei zeigt, wie nahe
jener Mann und die gleich verhaßte von ihm ausgehende Bewegung an die
wunde Stelle und den eigentlichen Sitz des Leidens unsers sozialen Körpers
gekommen ist. Doch — man mißverstehe uns nicht! Es liegt uns fern, alles
das, was Stöcker gedacht und gesagt hat, vertreten zu wollen. Wir wollen
die Rätlichkeit des Aufbaues der sozialmonarchischen Partei auf ein positives
kirchliches Bekenntnis nicht verteidigen^, im Gegenteil sind wir der Meinung,
daß diese Partei nur dann Leben und im Volke Boden finden wird, wenn sie
sich frei macht von jeglichem konfessionellen Standpunkt und ohne kirchliche
Streitigkeiten zu berühren sich darauf beschränkt, nur den Glauben an Gott
und die elementaren Grundbegriffe aller Religion und aller Bekenntnisse zu
verteidigen. Wir wollen weiter nicht vertreten, was vielleicht weniger Stöcker,
die antisemitische Bewegung aber ganz gewiß thut, jene grundverkehrte An-


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[0112] den Kreisen der gebildeten Bevölkerung, sondern noch immer als die absonder¬ liche Idee einiger Wenigen verspottet wird, und dies in einer Zeit, wo alle Welt auf dem Boden der kaiserlichen Botschaft von 1881 zu stehen behauptet, die ja gerade, uuter selbstverständlichen Ausschluß des staatliche Eingriffe ver¬ schmähenden Manchestertums, alle übrigen Parteien zum Zusammenschluß unter dem Banner der Monarchie, also gerade zu derjenigen Vereinigung auffordert, die wir vertrete». Es ist die Alltagsweisheit des einfachen Menschenverstandes, die hier von uns zum beste» gegeben wird, aber es scheint, als ob sich die öffentliche Meinung dank der fast absoluten Herrschaft, die die Parteien durch ihre Presse über sie ausüben, auf Irrwegen befinde, auf denen sie selbst das nicht sieht, was klar am Tage liegt. Wie ist es deun auch anders zu erklären, als durch den ungesunden Ein¬ fluß eines überlebten Parteiwesens, daß trotz der furchtbaren Warnungen, die uns jeder Tag bringt, trotz der dringenden Mahnungen eines weitsichtigen Monarchen, trotz der schöpferischen Arbeit eines pflichtgetreuen, echt preußischen Beamtentums, trotz der gedankenreichen Werke unsrer nationalökonomischen Theoretiker, der aus alle» diesen Kundgebungen sprechende sozialreformatvrische Gedanke noch immer im Volke nicht recht Fuß faßt? Visher haben wir leider nichts andres mis eine Unterströmung mit allen den Mängeln, die derartigen Unterströmungen anhaften. Aber so sehr sie auch an dem Fehler der Über¬ treibung, an Einseitigkeit, an Verwechslungen der Krankheitsursache mit einzelnen Allzeichen der Krankheit leiden mag, vorhanden ist diese Unterströmung doch schon, und sie wird allmählich anwachsen zu einem mächtigen Strom, im Wachsen alles das abstreifend, was sie heute noch entstellt. Sie neunt sich zur Zeit christlich-soziale und deutsch-soziale, bisweilen auch antisemitische Be¬ wegung, lind sie wird mit Recht zurückgeführt auf jenen vielgeschmähten Mann, dessen Namen zu nennen in vielen Kreisen schon als ein Verbrechen erscheint, und bei dessen Erwähnung ein Aufschrei der Erbitterung durch die Lande geht, auf den Hofprediger Stöcker. Schon dieser Schmerzensschrei zeigt, wie nahe jener Mann und die gleich verhaßte von ihm ausgehende Bewegung an die wunde Stelle und den eigentlichen Sitz des Leidens unsers sozialen Körpers gekommen ist. Doch — man mißverstehe uns nicht! Es liegt uns fern, alles das, was Stöcker gedacht und gesagt hat, vertreten zu wollen. Wir wollen die Rätlichkeit des Aufbaues der sozialmonarchischen Partei auf ein positives kirchliches Bekenntnis nicht verteidigen^, im Gegenteil sind wir der Meinung, daß diese Partei nur dann Leben und im Volke Boden finden wird, wenn sie sich frei macht von jeglichem konfessionellen Standpunkt und ohne kirchliche Streitigkeiten zu berühren sich darauf beschränkt, nur den Glauben an Gott und die elementaren Grundbegriffe aller Religion und aller Bekenntnisse zu verteidigen. Wir wollen weiter nicht vertreten, was vielleicht weniger Stöcker, die antisemitische Bewegung aber ganz gewiß thut, jene grundverkehrte An-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/112>, abgerufen am 23.07.2024.