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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Der Zusammenschluß aller Grduungsparteien

demokratie verwechselnd, zu dem Ausspruche verstiegen hat, daß wir zwar das
Altersversorgungsgesetz ausführen müßten, weil wir es ja zum Gesetze gemacht
Hütten, daß wir aber keinen Schritt weiter gehen dürften auf dieser Bahn,
denu sonst verfielen wir hoffnungslos der sozialdemokratischen Welt.

Hier liegt die Ursache aller unsrer unseligen Verirrungen, aller unsrer
Halbheit, aller faden Verlegenheitsschlagworte und unsrer ratlosem Unthütigkeit;
sie liegt in den Parteien. Sie haben ihre Daseinsberechtiguug verloren
angesichts der immer dringlicher werdenden wirtschaftlichen Nöte, sie haben
sich überlebt, weil die Aufgaben der Zeit allmählich andre geworden sind, aber
sie wollen es nicht einsehen, sie wollen zusammenhalten, was nicht mehr zu¬
sammenzuhalten ist, und um dies zu können, bietet sich ihnen das einzige
Mittel: es werden einige schöne Redensarten gemacht, ut> ulÜMcl tgoissiz viäoainur,
und im übrigen bleibt alles beim Alten. "Zusammenschluß aller staats-
erhaltenden Elemente," dies Wort kann jeder gesinnungstüchtige National¬
liberale, jeder parteifrvmme Zentrumsmann unterschreiben; er weiß freilich
nicht, wie das gemacht werden soll, und er kann sich nicht viel Greifbares
dabei denken, aber er opfert doch damit anch keine seiner Überzeugungen.
Aber wenn man den Stier bei den Hörnern packte, wenn man Stellung nehmen
wollte zu der Kernfrage der Gegenwart und der Zukunft, zur sozialen Frage,
wenn man sich entschlösse, die Scheidelinie zu ziehen zwischen denen, die auch
fernerhin nichts von Staats wegen zu thun beabsichtigen, und denen, die positive
Sozialpolitik treiben wollen; dann würde die Fraktion zu Grunde gehen, in
der man so einträchtig bei einander gesessen hat, und würde sich in ihre Be¬
standteile auflösen. Und dieses Ziel zu wollen angesichts der gemeinsamen
Kämpfe, die man überstanden, der gemeinsamen Siege, die man erfochten hat,
und der gemeinsamen großen Gedanken, die man ans andern Gebieten vertritt,
das erscheint dem richtigen Parteimann schier undenkbar.

Und doch giebt es keinen andern Ausweg ans unsern innern Schwierig¬
keiten, als diesen. Ist die soziale Frage, wie wir es in Übereinstimmung mit
einer großen Anzahl patriotischer Männer glauben, für die Gegenwart und
eine absehbare Zukunft die bei weitem wichtigste und dringendste Frage, die
wir zu lösen haben, ja recht eigentlich "die Frage" schlechthin, so wird es
eines notwendig, daß sich die Parteien, deren gegenwärtige Znsammensetzung
dieser Frage nicht ausreichend Rechnung trägt, je nach ihrer Stellung zu ihr
gruppiren.

Wer die Ansicht vertritt (und das sind Männer aller Parteien, Konser¬
vative, Zentrnmsleute und Liberale), daß die Sozialdemokratie die Frucht der
zu weit durchgeführten liberalen wirtschaftlichen Gesetzgebung dieses Jahr¬
hunderts sei, und daß sie nur bekämpft und besiegt werden könne dnrch eine
die wirtschaftlichen Schäden wenn nicht beseitigende, so doch möglichst lindernde
Gesetzgebung, wer da meint, daß es die dringende Aufgabe des Staates sei,


Der Zusammenschluß aller Grduungsparteien

demokratie verwechselnd, zu dem Ausspruche verstiegen hat, daß wir zwar das
Altersversorgungsgesetz ausführen müßten, weil wir es ja zum Gesetze gemacht
Hütten, daß wir aber keinen Schritt weiter gehen dürften auf dieser Bahn,
denu sonst verfielen wir hoffnungslos der sozialdemokratischen Welt.

Hier liegt die Ursache aller unsrer unseligen Verirrungen, aller unsrer
Halbheit, aller faden Verlegenheitsschlagworte und unsrer ratlosem Unthütigkeit;
sie liegt in den Parteien. Sie haben ihre Daseinsberechtiguug verloren
angesichts der immer dringlicher werdenden wirtschaftlichen Nöte, sie haben
sich überlebt, weil die Aufgaben der Zeit allmählich andre geworden sind, aber
sie wollen es nicht einsehen, sie wollen zusammenhalten, was nicht mehr zu¬
sammenzuhalten ist, und um dies zu können, bietet sich ihnen das einzige
Mittel: es werden einige schöne Redensarten gemacht, ut> ulÜMcl tgoissiz viäoainur,
und im übrigen bleibt alles beim Alten. „Zusammenschluß aller staats-
erhaltenden Elemente," dies Wort kann jeder gesinnungstüchtige National¬
liberale, jeder parteifrvmme Zentrumsmann unterschreiben; er weiß freilich
nicht, wie das gemacht werden soll, und er kann sich nicht viel Greifbares
dabei denken, aber er opfert doch damit anch keine seiner Überzeugungen.
Aber wenn man den Stier bei den Hörnern packte, wenn man Stellung nehmen
wollte zu der Kernfrage der Gegenwart und der Zukunft, zur sozialen Frage,
wenn man sich entschlösse, die Scheidelinie zu ziehen zwischen denen, die auch
fernerhin nichts von Staats wegen zu thun beabsichtigen, und denen, die positive
Sozialpolitik treiben wollen; dann würde die Fraktion zu Grunde gehen, in
der man so einträchtig bei einander gesessen hat, und würde sich in ihre Be¬
standteile auflösen. Und dieses Ziel zu wollen angesichts der gemeinsamen
Kämpfe, die man überstanden, der gemeinsamen Siege, die man erfochten hat,
und der gemeinsamen großen Gedanken, die man ans andern Gebieten vertritt,
das erscheint dem richtigen Parteimann schier undenkbar.

Und doch giebt es keinen andern Ausweg ans unsern innern Schwierig¬
keiten, als diesen. Ist die soziale Frage, wie wir es in Übereinstimmung mit
einer großen Anzahl patriotischer Männer glauben, für die Gegenwart und
eine absehbare Zukunft die bei weitem wichtigste und dringendste Frage, die
wir zu lösen haben, ja recht eigentlich „die Frage" schlechthin, so wird es
eines notwendig, daß sich die Parteien, deren gegenwärtige Znsammensetzung
dieser Frage nicht ausreichend Rechnung trägt, je nach ihrer Stellung zu ihr
gruppiren.

Wer die Ansicht vertritt (und das sind Männer aller Parteien, Konser¬
vative, Zentrnmsleute und Liberale), daß die Sozialdemokratie die Frucht der
zu weit durchgeführten liberalen wirtschaftlichen Gesetzgebung dieses Jahr¬
hunderts sei, und daß sie nur bekämpft und besiegt werden könne dnrch eine
die wirtschaftlichen Schäden wenn nicht beseitigende, so doch möglichst lindernde
Gesetzgebung, wer da meint, daß es die dringende Aufgabe des Staates sei,


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[0107] Der Zusammenschluß aller Grduungsparteien demokratie verwechselnd, zu dem Ausspruche verstiegen hat, daß wir zwar das Altersversorgungsgesetz ausführen müßten, weil wir es ja zum Gesetze gemacht Hütten, daß wir aber keinen Schritt weiter gehen dürften auf dieser Bahn, denu sonst verfielen wir hoffnungslos der sozialdemokratischen Welt. Hier liegt die Ursache aller unsrer unseligen Verirrungen, aller unsrer Halbheit, aller faden Verlegenheitsschlagworte und unsrer ratlosem Unthütigkeit; sie liegt in den Parteien. Sie haben ihre Daseinsberechtiguug verloren angesichts der immer dringlicher werdenden wirtschaftlichen Nöte, sie haben sich überlebt, weil die Aufgaben der Zeit allmählich andre geworden sind, aber sie wollen es nicht einsehen, sie wollen zusammenhalten, was nicht mehr zu¬ sammenzuhalten ist, und um dies zu können, bietet sich ihnen das einzige Mittel: es werden einige schöne Redensarten gemacht, ut> ulÜMcl tgoissiz viäoainur, und im übrigen bleibt alles beim Alten. „Zusammenschluß aller staats- erhaltenden Elemente," dies Wort kann jeder gesinnungstüchtige National¬ liberale, jeder parteifrvmme Zentrumsmann unterschreiben; er weiß freilich nicht, wie das gemacht werden soll, und er kann sich nicht viel Greifbares dabei denken, aber er opfert doch damit anch keine seiner Überzeugungen. Aber wenn man den Stier bei den Hörnern packte, wenn man Stellung nehmen wollte zu der Kernfrage der Gegenwart und der Zukunft, zur sozialen Frage, wenn man sich entschlösse, die Scheidelinie zu ziehen zwischen denen, die auch fernerhin nichts von Staats wegen zu thun beabsichtigen, und denen, die positive Sozialpolitik treiben wollen; dann würde die Fraktion zu Grunde gehen, in der man so einträchtig bei einander gesessen hat, und würde sich in ihre Be¬ standteile auflösen. Und dieses Ziel zu wollen angesichts der gemeinsamen Kämpfe, die man überstanden, der gemeinsamen Siege, die man erfochten hat, und der gemeinsamen großen Gedanken, die man ans andern Gebieten vertritt, das erscheint dem richtigen Parteimann schier undenkbar. Und doch giebt es keinen andern Ausweg ans unsern innern Schwierig¬ keiten, als diesen. Ist die soziale Frage, wie wir es in Übereinstimmung mit einer großen Anzahl patriotischer Männer glauben, für die Gegenwart und eine absehbare Zukunft die bei weitem wichtigste und dringendste Frage, die wir zu lösen haben, ja recht eigentlich „die Frage" schlechthin, so wird es eines notwendig, daß sich die Parteien, deren gegenwärtige Znsammensetzung dieser Frage nicht ausreichend Rechnung trägt, je nach ihrer Stellung zu ihr gruppiren. Wer die Ansicht vertritt (und das sind Männer aller Parteien, Konser¬ vative, Zentrnmsleute und Liberale), daß die Sozialdemokratie die Frucht der zu weit durchgeführten liberalen wirtschaftlichen Gesetzgebung dieses Jahr¬ hunderts sei, und daß sie nur bekämpft und besiegt werden könne dnrch eine die wirtschaftlichen Schäden wenn nicht beseitigende, so doch möglichst lindernde Gesetzgebung, wer da meint, daß es die dringende Aufgabe des Staates sei,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/107>, abgerufen am 25.08.2024.