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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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zu geben: das epische und das lyrische Element waren aufs reichste ausgebildet
und damit der Boden vorbereitet, auf dem die neue Form, das Drama, er¬
stehen konnte. Denn in der That ist das Drama zwar eine neue dichterische
Form, nicht aber eine dem Inhalt nach neue Dichtungsgattung. Es ist viel¬
mehr auch für das Verständnis des Dramas als Dichtungsgattung höchst
lehrreich, zu sehen, wie es aus den zwei inhaltlich und wesentlich verschiednen
Gattungen, der epischen und der lyrischen, zusammenwächst, und wie sich diese
Dichtungsgattungen hier in einer neuen Form verbinden, zu der jede einzelne
für sich uicht Hütte gelangen können.

Die Dichtungsgattung, die sich im Anschluß an den Dionysoskultus aus¬
bildete und den leidenschaftlichen, jede Seite der Empfindung zum Ausdruck
bringenden Charakter trug, war der Dithyrambos, der, ursprünglich ein
dionysisches Festlied, seinen Charakter als Chorlied erst durch Arion gewonnen
hat. Erst in dieser Gestalt konnte er Bestandteil des Kultus werden; er nimmt
von diesem als bestimmendes Element den Tanz und den Gesang um einen
Altar an, auf dem das Opfer gebracht wurde. Ihm gegenüber trat der, der
den Dithyrambus anhob, der durch epische Darstellung gleichsam das Motiv
für den nun folgenden lyrischen Chorgesang gab, und der jedesmal wieder
eingriff, sobald durch die epische Erzählung für den lyrischen Gesang ein neues
Motiv gegeben werden sollte. Hieraus ergiebt sich eine Lage, worin der, der
den Dithyrambos anhob, als Dionysos selbst erscheinen konnte; daß es that¬
sächlich in dieser Lage geschehen ist, ergiebt sich aus Folgendem. Es wird
uns ausdrücklich berichtet, Arion habe den Chor in Gestalt von Satyrn auf¬
treten lassen. Hierzu paßt jedoch weder ein einfacher Vorsänger noch ein
Priester; wo die Satyrn sind, da sind sie als Gefolge und Umgebung des
Dionysos. Der geschichtliche Vorgang ist sicherlich so gewesen, daß Dionysos
erscheinen sollte, und daß, um sein Erscheinen glaublicher zu machen, der Chor
nun gleichfalls in bildlicher Gestalt auftrat. Mit dieser Thatsache war das
Drama vorhanden.

Sehr merkwürdig schließt sich hieran die weitere Nachricht, daß Epigenes
in Sikyon zuerst an die Stelle des Dionysos andre Personen gesetzt habe.
Welcher Art diese gewesen sein können, lehrt uns die Erzählung des Herodot,
daß in Sikyon statt des Dionysos der heimische Heros Adrastos durch tragische
Chöre gefeiert worden sei, daß aber Kleisthenes, um den Adrastos zu ver¬
drängen, die Chöre dein Dionysos zurückgegeben habe. Es war also an
Stelle des Dionysos ein Heros getreten, der unter dem Vorwande der
Frömmigkeit wieder beseitigt wurde; uur Dionysos selbst sollte dieser Chöre
würdig sein. Aber der einmal eingeschlagene Weg wurde nicht mehr verlassen.
War Adrastos ein Heros, dem ein Tempel geweiht war und der dort verehrt
wurde, so mußte ein weiterer Schritt geschehen, sobald ein Heros auftrat, dem
kein Tempel geweiht war. Hier war eine Knltushandlung, die diesen Charakter


Grenzboten IV 1890 10

zu geben: das epische und das lyrische Element waren aufs reichste ausgebildet
und damit der Boden vorbereitet, auf dem die neue Form, das Drama, er¬
stehen konnte. Denn in der That ist das Drama zwar eine neue dichterische
Form, nicht aber eine dem Inhalt nach neue Dichtungsgattung. Es ist viel¬
mehr auch für das Verständnis des Dramas als Dichtungsgattung höchst
lehrreich, zu sehen, wie es aus den zwei inhaltlich und wesentlich verschiednen
Gattungen, der epischen und der lyrischen, zusammenwächst, und wie sich diese
Dichtungsgattungen hier in einer neuen Form verbinden, zu der jede einzelne
für sich uicht Hütte gelangen können.

Die Dichtungsgattung, die sich im Anschluß an den Dionysoskultus aus¬
bildete und den leidenschaftlichen, jede Seite der Empfindung zum Ausdruck
bringenden Charakter trug, war der Dithyrambos, der, ursprünglich ein
dionysisches Festlied, seinen Charakter als Chorlied erst durch Arion gewonnen
hat. Erst in dieser Gestalt konnte er Bestandteil des Kultus werden; er nimmt
von diesem als bestimmendes Element den Tanz und den Gesang um einen
Altar an, auf dem das Opfer gebracht wurde. Ihm gegenüber trat der, der
den Dithyrambus anhob, der durch epische Darstellung gleichsam das Motiv
für den nun folgenden lyrischen Chorgesang gab, und der jedesmal wieder
eingriff, sobald durch die epische Erzählung für den lyrischen Gesang ein neues
Motiv gegeben werden sollte. Hieraus ergiebt sich eine Lage, worin der, der
den Dithyrambos anhob, als Dionysos selbst erscheinen konnte; daß es that¬
sächlich in dieser Lage geschehen ist, ergiebt sich aus Folgendem. Es wird
uns ausdrücklich berichtet, Arion habe den Chor in Gestalt von Satyrn auf¬
treten lassen. Hierzu paßt jedoch weder ein einfacher Vorsänger noch ein
Priester; wo die Satyrn sind, da sind sie als Gefolge und Umgebung des
Dionysos. Der geschichtliche Vorgang ist sicherlich so gewesen, daß Dionysos
erscheinen sollte, und daß, um sein Erscheinen glaublicher zu machen, der Chor
nun gleichfalls in bildlicher Gestalt auftrat. Mit dieser Thatsache war das
Drama vorhanden.

Sehr merkwürdig schließt sich hieran die weitere Nachricht, daß Epigenes
in Sikyon zuerst an die Stelle des Dionysos andre Personen gesetzt habe.
Welcher Art diese gewesen sein können, lehrt uns die Erzählung des Herodot,
daß in Sikyon statt des Dionysos der heimische Heros Adrastos durch tragische
Chöre gefeiert worden sei, daß aber Kleisthenes, um den Adrastos zu ver¬
drängen, die Chöre dein Dionysos zurückgegeben habe. Es war also an
Stelle des Dionysos ein Heros getreten, der unter dem Vorwande der
Frömmigkeit wieder beseitigt wurde; uur Dionysos selbst sollte dieser Chöre
würdig sein. Aber der einmal eingeschlagene Weg wurde nicht mehr verlassen.
War Adrastos ein Heros, dem ein Tempel geweiht war und der dort verehrt
wurde, so mußte ein weiterer Schritt geschehen, sobald ein Heros auftrat, dem
kein Tempel geweiht war. Hier war eine Knltushandlung, die diesen Charakter


Grenzboten IV 1890 10
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[0081] zu geben: das epische und das lyrische Element waren aufs reichste ausgebildet und damit der Boden vorbereitet, auf dem die neue Form, das Drama, er¬ stehen konnte. Denn in der That ist das Drama zwar eine neue dichterische Form, nicht aber eine dem Inhalt nach neue Dichtungsgattung. Es ist viel¬ mehr auch für das Verständnis des Dramas als Dichtungsgattung höchst lehrreich, zu sehen, wie es aus den zwei inhaltlich und wesentlich verschiednen Gattungen, der epischen und der lyrischen, zusammenwächst, und wie sich diese Dichtungsgattungen hier in einer neuen Form verbinden, zu der jede einzelne für sich uicht Hütte gelangen können. Die Dichtungsgattung, die sich im Anschluß an den Dionysoskultus aus¬ bildete und den leidenschaftlichen, jede Seite der Empfindung zum Ausdruck bringenden Charakter trug, war der Dithyrambos, der, ursprünglich ein dionysisches Festlied, seinen Charakter als Chorlied erst durch Arion gewonnen hat. Erst in dieser Gestalt konnte er Bestandteil des Kultus werden; er nimmt von diesem als bestimmendes Element den Tanz und den Gesang um einen Altar an, auf dem das Opfer gebracht wurde. Ihm gegenüber trat der, der den Dithyrambus anhob, der durch epische Darstellung gleichsam das Motiv für den nun folgenden lyrischen Chorgesang gab, und der jedesmal wieder eingriff, sobald durch die epische Erzählung für den lyrischen Gesang ein neues Motiv gegeben werden sollte. Hieraus ergiebt sich eine Lage, worin der, der den Dithyrambos anhob, als Dionysos selbst erscheinen konnte; daß es that¬ sächlich in dieser Lage geschehen ist, ergiebt sich aus Folgendem. Es wird uns ausdrücklich berichtet, Arion habe den Chor in Gestalt von Satyrn auf¬ treten lassen. Hierzu paßt jedoch weder ein einfacher Vorsänger noch ein Priester; wo die Satyrn sind, da sind sie als Gefolge und Umgebung des Dionysos. Der geschichtliche Vorgang ist sicherlich so gewesen, daß Dionysos erscheinen sollte, und daß, um sein Erscheinen glaublicher zu machen, der Chor nun gleichfalls in bildlicher Gestalt auftrat. Mit dieser Thatsache war das Drama vorhanden. Sehr merkwürdig schließt sich hieran die weitere Nachricht, daß Epigenes in Sikyon zuerst an die Stelle des Dionysos andre Personen gesetzt habe. Welcher Art diese gewesen sein können, lehrt uns die Erzählung des Herodot, daß in Sikyon statt des Dionysos der heimische Heros Adrastos durch tragische Chöre gefeiert worden sei, daß aber Kleisthenes, um den Adrastos zu ver¬ drängen, die Chöre dein Dionysos zurückgegeben habe. Es war also an Stelle des Dionysos ein Heros getreten, der unter dem Vorwande der Frömmigkeit wieder beseitigt wurde; uur Dionysos selbst sollte dieser Chöre würdig sein. Aber der einmal eingeschlagene Weg wurde nicht mehr verlassen. War Adrastos ein Heros, dem ein Tempel geweiht war und der dort verehrt wurde, so mußte ein weiterer Schritt geschehen, sobald ein Heros auftrat, dem kein Tempel geweiht war. Hier war eine Knltushandlung, die diesen Charakter Grenzboten IV 1890 10

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/81>, abgerufen am 23.07.2024.