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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Schreiner, die ursprünglich die Erzählung erläutern oder, so gut es eben geht,
diese selbst als eine allen verständliche und lesbare Bibel der Armen geben
sollen, lebendig werden, indem lebende Personen ihre Gestalt annehmen, aber
statt leblos in demselben Augenblicke der Erscheinung zu verharren, das Wort
heranziehen und die zeitliche Entfaltung der Handlung vornehmen. Das Drama
entsteht nicht aus ästhetischem Bedürfnis, sondern zur Unterstützung des .Kultus.
Sofort aber beginnt nun auch der Prozeß, der sich auf alleu .Kunstgebieten
verfolgen läßt. Das Nebensächliche, Profane, das zur Unterstützung des
Heiligen herbeigezogen werden muß, gewinnt als das, was dem Leben unmittel¬
bar entstammt und daher auch unmittelbar verständlich ist, ein immer mehr
wachsendes Interesse. Der Weg hierzu ist der, daß an Stelle der heiligen
Hauptperson andre heilige, jedoch dem Leben näher stehende Personen
der heiligen Geschichte treten, daß endlich das ausschließlich Menschliche die
Teilnahme gefangen nimmt und, indem es sich von den heiligen Vorgängen
ablöst, gänzlich verselbständigt wird: der dramatisirte Kultus wird zum Kultus-
drnma, aus dem das weltliche Drama hervorwächst. In demselben Maße,
wie dies geschieht, löst sich auch die Aufführung der Handlung von dem Kultus
ab. Ursprünglich in der Kirche und vor Geistlichen vollzogen, tritt sie ans
der Kirche heraus und wird Eigentum der Laienwelt; diese ist es auch, die
um die Handlungen erfindet und die Worte dichtet, während ursprünglich
beides von Geistlichen im Anschluß an die heiligen Bücher geschah.

Kaum minder günstig lagen die Verhältnisse in dein alten Hellas. Hier
waren allmählich die Personen der einzelnen Gottheiten durch die Dichter
und die Bildner zu festen Gestalten gelangt, die durchaus menschlichen
Charakter trugen und von den irdischen Menschengestalten, sobald Gottheit und
Menschen neben und mit einander dargestellt wurden, sich nur wenig durch
die Größe unterschieden. Der viel wesentlichere Unterschied ist die Erhabenheit
der Erscheinung, die über das Menschenmaß hinausgehende Würde in der
Auffassung der irdischen Gestaltung. So war in der Bildkunst ebenso wie in
der epischen Dichtung ihr Zusammenwirken mit den Menschen denkbar und
darstellbar; so konnte nun auch das Werk der Bildkunst lebendig werden und
unter die Meuscheu treten, mit ihnen Verkehren und sprechen.

Aber neben den Göttern gab es eine Fülle von Wesen, in denen sich
göttliche und menschliche Natur infolge der Abstammung vereinigten. Manche
von ihnen, wie Bakchos, Apollon, Artemis, waren geradezu in den Rang und
die Stellung der Götter getreten; andre, die Mehrzahl, bleiben ihm Nahmen des
menschlichen Lebens stehen, überragen aber kraft ihrer göttlichen Abstammung dessen
alltägliche Erscheinungen. Sie, die Heroen, sind daher in erster Linie geeignet,
dnrch ihr Schicksal die Menschen zu erhebeu und zu beugen, zu Furcht und
Entsetzen, zu Erbarmen und Mitgefühl zu, bringen. Scheint doch gerade die
göttliche Abstammung ihnen ein erhöhtes Necht ans irdisches Glück und


Schreiner, die ursprünglich die Erzählung erläutern oder, so gut es eben geht,
diese selbst als eine allen verständliche und lesbare Bibel der Armen geben
sollen, lebendig werden, indem lebende Personen ihre Gestalt annehmen, aber
statt leblos in demselben Augenblicke der Erscheinung zu verharren, das Wort
heranziehen und die zeitliche Entfaltung der Handlung vornehmen. Das Drama
entsteht nicht aus ästhetischem Bedürfnis, sondern zur Unterstützung des .Kultus.
Sofort aber beginnt nun auch der Prozeß, der sich auf alleu .Kunstgebieten
verfolgen läßt. Das Nebensächliche, Profane, das zur Unterstützung des
Heiligen herbeigezogen werden muß, gewinnt als das, was dem Leben unmittel¬
bar entstammt und daher auch unmittelbar verständlich ist, ein immer mehr
wachsendes Interesse. Der Weg hierzu ist der, daß an Stelle der heiligen
Hauptperson andre heilige, jedoch dem Leben näher stehende Personen
der heiligen Geschichte treten, daß endlich das ausschließlich Menschliche die
Teilnahme gefangen nimmt und, indem es sich von den heiligen Vorgängen
ablöst, gänzlich verselbständigt wird: der dramatisirte Kultus wird zum Kultus-
drnma, aus dem das weltliche Drama hervorwächst. In demselben Maße,
wie dies geschieht, löst sich auch die Aufführung der Handlung von dem Kultus
ab. Ursprünglich in der Kirche und vor Geistlichen vollzogen, tritt sie ans
der Kirche heraus und wird Eigentum der Laienwelt; diese ist es auch, die
um die Handlungen erfindet und die Worte dichtet, während ursprünglich
beides von Geistlichen im Anschluß an die heiligen Bücher geschah.

Kaum minder günstig lagen die Verhältnisse in dein alten Hellas. Hier
waren allmählich die Personen der einzelnen Gottheiten durch die Dichter
und die Bildner zu festen Gestalten gelangt, die durchaus menschlichen
Charakter trugen und von den irdischen Menschengestalten, sobald Gottheit und
Menschen neben und mit einander dargestellt wurden, sich nur wenig durch
die Größe unterschieden. Der viel wesentlichere Unterschied ist die Erhabenheit
der Erscheinung, die über das Menschenmaß hinausgehende Würde in der
Auffassung der irdischen Gestaltung. So war in der Bildkunst ebenso wie in
der epischen Dichtung ihr Zusammenwirken mit den Menschen denkbar und
darstellbar; so konnte nun auch das Werk der Bildkunst lebendig werden und
unter die Meuscheu treten, mit ihnen Verkehren und sprechen.

Aber neben den Göttern gab es eine Fülle von Wesen, in denen sich
göttliche und menschliche Natur infolge der Abstammung vereinigten. Manche
von ihnen, wie Bakchos, Apollon, Artemis, waren geradezu in den Rang und
die Stellung der Götter getreten; andre, die Mehrzahl, bleiben ihm Nahmen des
menschlichen Lebens stehen, überragen aber kraft ihrer göttlichen Abstammung dessen
alltägliche Erscheinungen. Sie, die Heroen, sind daher in erster Linie geeignet,
dnrch ihr Schicksal die Menschen zu erhebeu und zu beugen, zu Furcht und
Entsetzen, zu Erbarmen und Mitgefühl zu, bringen. Scheint doch gerade die
göttliche Abstammung ihnen ein erhöhtes Necht ans irdisches Glück und


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[0077] Schreiner, die ursprünglich die Erzählung erläutern oder, so gut es eben geht, diese selbst als eine allen verständliche und lesbare Bibel der Armen geben sollen, lebendig werden, indem lebende Personen ihre Gestalt annehmen, aber statt leblos in demselben Augenblicke der Erscheinung zu verharren, das Wort heranziehen und die zeitliche Entfaltung der Handlung vornehmen. Das Drama entsteht nicht aus ästhetischem Bedürfnis, sondern zur Unterstützung des .Kultus. Sofort aber beginnt nun auch der Prozeß, der sich auf alleu .Kunstgebieten verfolgen läßt. Das Nebensächliche, Profane, das zur Unterstützung des Heiligen herbeigezogen werden muß, gewinnt als das, was dem Leben unmittel¬ bar entstammt und daher auch unmittelbar verständlich ist, ein immer mehr wachsendes Interesse. Der Weg hierzu ist der, daß an Stelle der heiligen Hauptperson andre heilige, jedoch dem Leben näher stehende Personen der heiligen Geschichte treten, daß endlich das ausschließlich Menschliche die Teilnahme gefangen nimmt und, indem es sich von den heiligen Vorgängen ablöst, gänzlich verselbständigt wird: der dramatisirte Kultus wird zum Kultus- drnma, aus dem das weltliche Drama hervorwächst. In demselben Maße, wie dies geschieht, löst sich auch die Aufführung der Handlung von dem Kultus ab. Ursprünglich in der Kirche und vor Geistlichen vollzogen, tritt sie ans der Kirche heraus und wird Eigentum der Laienwelt; diese ist es auch, die um die Handlungen erfindet und die Worte dichtet, während ursprünglich beides von Geistlichen im Anschluß an die heiligen Bücher geschah. Kaum minder günstig lagen die Verhältnisse in dein alten Hellas. Hier waren allmählich die Personen der einzelnen Gottheiten durch die Dichter und die Bildner zu festen Gestalten gelangt, die durchaus menschlichen Charakter trugen und von den irdischen Menschengestalten, sobald Gottheit und Menschen neben und mit einander dargestellt wurden, sich nur wenig durch die Größe unterschieden. Der viel wesentlichere Unterschied ist die Erhabenheit der Erscheinung, die über das Menschenmaß hinausgehende Würde in der Auffassung der irdischen Gestaltung. So war in der Bildkunst ebenso wie in der epischen Dichtung ihr Zusammenwirken mit den Menschen denkbar und darstellbar; so konnte nun auch das Werk der Bildkunst lebendig werden und unter die Meuscheu treten, mit ihnen Verkehren und sprechen. Aber neben den Göttern gab es eine Fülle von Wesen, in denen sich göttliche und menschliche Natur infolge der Abstammung vereinigten. Manche von ihnen, wie Bakchos, Apollon, Artemis, waren geradezu in den Rang und die Stellung der Götter getreten; andre, die Mehrzahl, bleiben ihm Nahmen des menschlichen Lebens stehen, überragen aber kraft ihrer göttlichen Abstammung dessen alltägliche Erscheinungen. Sie, die Heroen, sind daher in erster Linie geeignet, dnrch ihr Schicksal die Menschen zu erhebeu und zu beugen, zu Furcht und Entsetzen, zu Erbarmen und Mitgefühl zu, bringen. Scheint doch gerade die göttliche Abstammung ihnen ein erhöhtes Necht ans irdisches Glück und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/77>, abgerufen am 23.07.2024.