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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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nachdem der Konkurs ausgebrochen war, Ihre besten Zimmer hatten sie auf¬
gegeben, um sich ein Einkommen zu verschaffen, und alles, was sie noch an
Möbeln besaßen, war verwendet worden, um die Räume so anlockend als
möglich zu machen. Es gab so viele Zimmer zu vermieten, und es war
schwer, Abmieter zu bekommen; aber sie hatten ihr Bestes gethan, Eltern und
Kinder mußten sich in die Schlafstube einpferchen. Herr Tobiassen hatte einmal
gelegentlich einen Blick hineingethan: so gut wie leere Wände, ein verblichener
Stuhl, ein wackliger Tisch, armselige Betten und für den Rest ergreifende
nackte Dürftigkeit, Das einzige, was sie zu retten gesucht hatten - die
Chaiselongue des Mannes --, darnach hatte er seine Tatze ausgestreckt, nur
deshalb, weil er Geld hatte und sie keins. Lag hierin Gerechtigkeit? lind
da ging er hin -- der alte Faulenzer, der er war! -- und prangte im Überfluß,
während andre als Sklaven für sich und ihre Kinder es sich abdarben mußten.
War er nicht ein Kuckuck in dem Nest eines andern Vogels, ein unverschämter
alter Kuckuck? War er nicht ein Usurpator und Blutsauger?

Er hatte den Glasschrank der Hansfrau und den Schreibtisch des Haus¬
herrn, und ihr bester Sofnteppich lag unter seinen Füßen zum täglichen
Gebrauch. Und mußte der Mann sich nicht wie ein Dieb auf den Vorsaal
schleichen, um sein eignes Klavier zu hören, wenn Herr Tobiassen es der Mühe
wert hielt, darauf zu spielen? Und konnten sich wohl die armen Kleinen einmal
froh herumtummeln, ohne sofort zur Ruhe gewiesen zu werden mit den Worten:
Der alte Herr könnte böse werden?

Ein Dienstmädchen hatten sie, das schon sie ganz allein -- Herrn
Tobiassen graue Haare hätte machen können, wenn er diese nicht schon gehabt
hätte. Erstens sann er vergeblich darüber nach, in welcher Spelunke sie unter¬
gebracht war, denn über ihrem ganzen Aussehen lag etwas, als hätte sie nie
die Sonne über sich scheinen sehen. Zweitens waren ihre Kleider so dünn
und elend, daß es Herrn Tobiassen schon bei ihrem Anblick fror. Und dann
sah sie immer erschrocken aus. besonders vor ihm selbst, immer ging sie mit
vorgebeugtem Kopf, als ob sie nach dem ersten besten Rattenloch suchte, nur
hineinzukriechen. Er bemerkte, daß sie nie bei ihm eintreten durfte, ohne be¬
sondre Toilette gemacht zu haben, die darin bestand, daß sie ihr widerspenstiges
Haar mit Wasser kämmte und eine ausgewaschene Schürze vorband, dünn und
gestärkt, wie ein Stück Papier. An Markttagen -- die Frau but kleine Brote
zum Verkauf ~ konnte er das arme Mädchen über die Straßen eilen sehen
in einem noch traurigeren Anzüge als gewöhnlich. Besonders hatte er sich
gemerkt, daß ein dreieckiges Loch in den einen Oberärmel des dünnen Baum-
wollenauzuges gerissen war, sodaß die bloße Haut hindnrchschien. Wenn es ein
wirklich kalter Tag war -- und solche gab es genug in diesem Winter --, so
konnte dieser Riß förmlich vor Herrn Tobiassen herumspuken. Er sah ihn,
wo er ging und stand, er konnte an nichts andres denken, als wie die Kälte


nachdem der Konkurs ausgebrochen war, Ihre besten Zimmer hatten sie auf¬
gegeben, um sich ein Einkommen zu verschaffen, und alles, was sie noch an
Möbeln besaßen, war verwendet worden, um die Räume so anlockend als
möglich zu machen. Es gab so viele Zimmer zu vermieten, und es war
schwer, Abmieter zu bekommen; aber sie hatten ihr Bestes gethan, Eltern und
Kinder mußten sich in die Schlafstube einpferchen. Herr Tobiassen hatte einmal
gelegentlich einen Blick hineingethan: so gut wie leere Wände, ein verblichener
Stuhl, ein wackliger Tisch, armselige Betten und für den Rest ergreifende
nackte Dürftigkeit, Das einzige, was sie zu retten gesucht hatten - die
Chaiselongue des Mannes —, darnach hatte er seine Tatze ausgestreckt, nur
deshalb, weil er Geld hatte und sie keins. Lag hierin Gerechtigkeit? lind
da ging er hin — der alte Faulenzer, der er war! — und prangte im Überfluß,
während andre als Sklaven für sich und ihre Kinder es sich abdarben mußten.
War er nicht ein Kuckuck in dem Nest eines andern Vogels, ein unverschämter
alter Kuckuck? War er nicht ein Usurpator und Blutsauger?

Er hatte den Glasschrank der Hansfrau und den Schreibtisch des Haus¬
herrn, und ihr bester Sofnteppich lag unter seinen Füßen zum täglichen
Gebrauch. Und mußte der Mann sich nicht wie ein Dieb auf den Vorsaal
schleichen, um sein eignes Klavier zu hören, wenn Herr Tobiassen es der Mühe
wert hielt, darauf zu spielen? Und konnten sich wohl die armen Kleinen einmal
froh herumtummeln, ohne sofort zur Ruhe gewiesen zu werden mit den Worten:
Der alte Herr könnte böse werden?

Ein Dienstmädchen hatten sie, das schon sie ganz allein — Herrn
Tobiassen graue Haare hätte machen können, wenn er diese nicht schon gehabt
hätte. Erstens sann er vergeblich darüber nach, in welcher Spelunke sie unter¬
gebracht war, denn über ihrem ganzen Aussehen lag etwas, als hätte sie nie
die Sonne über sich scheinen sehen. Zweitens waren ihre Kleider so dünn
und elend, daß es Herrn Tobiassen schon bei ihrem Anblick fror. Und dann
sah sie immer erschrocken aus. besonders vor ihm selbst, immer ging sie mit
vorgebeugtem Kopf, als ob sie nach dem ersten besten Rattenloch suchte, nur
hineinzukriechen. Er bemerkte, daß sie nie bei ihm eintreten durfte, ohne be¬
sondre Toilette gemacht zu haben, die darin bestand, daß sie ihr widerspenstiges
Haar mit Wasser kämmte und eine ausgewaschene Schürze vorband, dünn und
gestärkt, wie ein Stück Papier. An Markttagen — die Frau but kleine Brote
zum Verkauf ~ konnte er das arme Mädchen über die Straßen eilen sehen
in einem noch traurigeren Anzüge als gewöhnlich. Besonders hatte er sich
gemerkt, daß ein dreieckiges Loch in den einen Oberärmel des dünnen Baum-
wollenauzuges gerissen war, sodaß die bloße Haut hindnrchschien. Wenn es ein
wirklich kalter Tag war — und solche gab es genug in diesem Winter —, so
konnte dieser Riß förmlich vor Herrn Tobiassen herumspuken. Er sah ihn,
wo er ging und stand, er konnte an nichts andres denken, als wie die Kälte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/621>, abgerufen am 23.07.2024.