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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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not mit Not und That helfend einzugreifen, hatten bei ihren häufigen Wande¬
rungen an die Stätten der Armut oft in erschütternder Weise erfahren müssen,
in welchen entsetzlichen Wohnungen manche Familien ihr Dasein zu verbringen
genötigt sind, und daß überdies in der Regel für derartige Behausungen
Mietzinsen zu entrichten sind, deren Höhe außer allem Verhältnis zu dem
Werte der Wohnungen steht. So reifte allmählich der Entschluß, den Versuch
zu machen, die für die untersten Klassen Weimars bestehende Wohnungsnot
dadurch zu beseitigen oder doch zu mildern, daß die wohlhabenden: Kreise der
Stadt für die Errichtung gesunder und billiger Wohnungen für unbemittelte
Familien gewonnen wurden- Zunächst galt es, mittels der Presse die Auf¬
merksamkeit auf die Wichtigkeit der Frage überhaupt, sowie auf die bestehenden
Notstände insbesondre zu lenken.

Es ist die Pflicht der Presse, immer und immer wieder mit Nach¬
druck darauf hinzuweisen, daß die Beseitigung der an unzähligen Orten
herrschenden Wohnungsnot der unteren Schichten eine der wichtigsten sozialen
Aufgaben ist, ohne deren genügende Lösung, trotz aller sonstigen humanen Be¬
strebungen, die jene Bevvlkeruugskreise zersetzende Unzufriedenheit nicht erlöschen
kann. Gründlicher Wandel ans diesem Gebiete menschlichem Elendes ist ohne
Zweifel die erste Voraussetzung der Versöhnung der "Enterbten der Gesellschaft"
mit der bestehenden Ordnung der Dinge. Für den Christen oder sagen wir
für den humanen Menschen ist ja diese Forderung selbstverständlich und unab¬
weisbar, aber auch für den nüchternen Verstandesmenschen ist sie geboten, denn
ihre Nichterfüllung ist ein großer sozialpolitischer Fehler. Niemand, der öfters
Gelegenheit gehabt hat, die verderblichen Folgen schlechter Wohnungsverhältnisse
kennen zu lernen, wird die Wahrheit dieses Satzes in Abrede stellen. Zunächst
ist nachdrücklich darauf hinzuweisen, in welchem Grade überfüllte, luft- und
lichtentbehrende, überdies noch oft feuchte und kalte Wohnungen die Gesundheit
namentlich der weniger widerstandsfähigen Kinder schädigen müsse", sodaß
schließlich in vielen Fällen der Untergang herbeigeführt wird. Tiefste Ver¬
bitterung und nagender, nur gewaltsam unterdrückter Groll gegen Einrichtungen,
die solche Zustände erzengen und dulden, ist die notwendige Folge. Daß
namentlich Eltern, die ihre Kinder in elenden Löchern verkümmern und dahin¬
siechen sehen, die geschworenen Feinde der bestehenden gesellschaftlichen und
staatlichen Ordnung sind, darüber sollte niemand im Zweifel sein. Auf so
vorbereitete, mit Unzufriedenheit, Zorn und Haß erfüllte Menschen müssen die
Brandreden der Apostel des sozialen Umsturzes mächtig wirken. Der Gegensatz
zwischen den verführerisch ausgemalten Zukunftsgebilden und der Wirklichkeit ist so
gewaltig, daß die Unzufriedenheit im geeigneten Augenblick in hellen Flammen
emporlodern muß. Aber in andrer Richtung sind die Wirkungen fast noch
entsetzlicher, sie äußern sich nicht mir in dem Haß gegen die allgemeinen Ein¬
richtungen, sondern vor allem auch darin, daß von den Familienvätern die


not mit Not und That helfend einzugreifen, hatten bei ihren häufigen Wande¬
rungen an die Stätten der Armut oft in erschütternder Weise erfahren müssen,
in welchen entsetzlichen Wohnungen manche Familien ihr Dasein zu verbringen
genötigt sind, und daß überdies in der Regel für derartige Behausungen
Mietzinsen zu entrichten sind, deren Höhe außer allem Verhältnis zu dem
Werte der Wohnungen steht. So reifte allmählich der Entschluß, den Versuch
zu machen, die für die untersten Klassen Weimars bestehende Wohnungsnot
dadurch zu beseitigen oder doch zu mildern, daß die wohlhabenden: Kreise der
Stadt für die Errichtung gesunder und billiger Wohnungen für unbemittelte
Familien gewonnen wurden- Zunächst galt es, mittels der Presse die Auf¬
merksamkeit auf die Wichtigkeit der Frage überhaupt, sowie auf die bestehenden
Notstände insbesondre zu lenken.

Es ist die Pflicht der Presse, immer und immer wieder mit Nach¬
druck darauf hinzuweisen, daß die Beseitigung der an unzähligen Orten
herrschenden Wohnungsnot der unteren Schichten eine der wichtigsten sozialen
Aufgaben ist, ohne deren genügende Lösung, trotz aller sonstigen humanen Be¬
strebungen, die jene Bevvlkeruugskreise zersetzende Unzufriedenheit nicht erlöschen
kann. Gründlicher Wandel ans diesem Gebiete menschlichem Elendes ist ohne
Zweifel die erste Voraussetzung der Versöhnung der „Enterbten der Gesellschaft"
mit der bestehenden Ordnung der Dinge. Für den Christen oder sagen wir
für den humanen Menschen ist ja diese Forderung selbstverständlich und unab¬
weisbar, aber auch für den nüchternen Verstandesmenschen ist sie geboten, denn
ihre Nichterfüllung ist ein großer sozialpolitischer Fehler. Niemand, der öfters
Gelegenheit gehabt hat, die verderblichen Folgen schlechter Wohnungsverhältnisse
kennen zu lernen, wird die Wahrheit dieses Satzes in Abrede stellen. Zunächst
ist nachdrücklich darauf hinzuweisen, in welchem Grade überfüllte, luft- und
lichtentbehrende, überdies noch oft feuchte und kalte Wohnungen die Gesundheit
namentlich der weniger widerstandsfähigen Kinder schädigen müsse», sodaß
schließlich in vielen Fällen der Untergang herbeigeführt wird. Tiefste Ver¬
bitterung und nagender, nur gewaltsam unterdrückter Groll gegen Einrichtungen,
die solche Zustände erzengen und dulden, ist die notwendige Folge. Daß
namentlich Eltern, die ihre Kinder in elenden Löchern verkümmern und dahin¬
siechen sehen, die geschworenen Feinde der bestehenden gesellschaftlichen und
staatlichen Ordnung sind, darüber sollte niemand im Zweifel sein. Auf so
vorbereitete, mit Unzufriedenheit, Zorn und Haß erfüllte Menschen müssen die
Brandreden der Apostel des sozialen Umsturzes mächtig wirken. Der Gegensatz
zwischen den verführerisch ausgemalten Zukunftsgebilden und der Wirklichkeit ist so
gewaltig, daß die Unzufriedenheit im geeigneten Augenblick in hellen Flammen
emporlodern muß. Aber in andrer Richtung sind die Wirkungen fast noch
entsetzlicher, sie äußern sich nicht mir in dem Haß gegen die allgemeinen Ein¬
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/61>, abgerufen am 23.07.2024.