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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Vor Entwurf eines Magnerdenkmals für Leipzig

Schayer wirklich eine jener einheitlich machtvollen Eingebungen gehabt hätte,
wie sie z. B. seinem antiken Ahnherrn, dem Urheber des olympischen Zeus, nach¬
gesagt wird, wenn ihm Wagner wirklich in irgend einer bezeichnenden Haltung
oder Beschäftigung, "konzentrirte Energie und Lebendigkeit" in jeder Faser,
aufgegangen wäre: weshalb werden dann diese Eigenschaften wie auf dem
Sezirtisch neben einander vor uns ausgebreitet, weshalb hängen das Bein und
der eine Arm wie die Gliedmaßen eines Puppenbalges von dem durch den
Kopf in ganz anderm Sinne belebten Leibe herab, weshalb ist es dann unsrer
Wahl überlassen, den vom Kopf ausgehenden Lebensstrom auch noch wo anders
hinzuleiten, als nur nach dem rechten Arm, und weshalb reicht dieser Strom
niemals ans, um das Ganze zu umfassen?

Und nur mache man die letzte Probe: man versuche Verbesserungen.
Kann der linke Oberschenkel so hoch heraufgezogen werden, daß das Buch nicht
mehr nach außen, sondern nnr noch nach innen rutschen und infolge dessen
fest liegen würde? Die rechte Hand wäre dann zum Dirigiren frei. Nur be¬
deutete dieser große sachliche Gewinn auch eine starke Störung des feinen
Liniennetzes; zugleich würde bei dem hohen Stande der Figur der Oberschenkel
von unten, d. i. von seiner hintern Seite, sichtbar werden -- formale Ver¬
schlechterungen, die beide die Veränderung verbieten müssen. War hier der
erste Gedanke vernünftigerweise der, daß sich die rechte Faust nachdrucksvoll
auf das ohne sie bereits in sicherer Lage befindliche Buch auflegte, fo verschob
die Anpassung an die lineare Form die Lage des Buches so, daß die rechte
Hand allmählich die Aufgabe, das Buch zu halten, überkam, und daß diese
Aufgabe zuletzt zur Hauptsache wurde. Die Absicht, zu dirigiren, verschwand
bis auf den jetzt völlig nutzlosen Taktstock. Kann hiernach noch ein Zweifel
sein, wie sehr die Form den Künstler beherrschte? Ein ursprünglich sinnvoller
Inhalt wurde durch die Rücksicht auf sie zum offenen Unsinn, gegen den allein
der Urheber dieses Unsinnes blind war. Darf man hiernach nun wohl sagen,
daß dem Künstler die Form sowohl von vornherein, wie überhaupt mehr am
Herzen gelegen habe, als der Inhalt?

Oder man suche für deu linken Arm und das Bein nach Stellungen, die
sich dem rechten Arm als der Geberde für das "Gesamtthun" Wagners unter¬
ordnen. Wie man es auch anfangen mag, immer wird man zwei der wichtigsten
Dreiecksseiten und damit den ganzen, in die beiden Dreiecke gegliederten Auf¬
bau zerstören müssen. Soll das aber vermieden werden, dann muß der linke
Arm mit genauer Richtung auf den Punkt 1 hin gerade so zierlich angeleimt,
das rechte Bein nach dem Punkt r hin gerade so straff ausgestreckt sein, wie
wir es thatsächlich vor uns sehen. Bedarf es noch eines Beweises, daß in
Schapers Phantasie zuerst die lineare Anordnung vorhanden war und der
Leichnam des zu Feiernden nur nachträglich hineingepaßt wurde? Ging es
nicht nach der Art des Pheidias, dann umso besser nach der des Prokrustes!


Vor Entwurf eines Magnerdenkmals für Leipzig

Schayer wirklich eine jener einheitlich machtvollen Eingebungen gehabt hätte,
wie sie z. B. seinem antiken Ahnherrn, dem Urheber des olympischen Zeus, nach¬
gesagt wird, wenn ihm Wagner wirklich in irgend einer bezeichnenden Haltung
oder Beschäftigung, „konzentrirte Energie und Lebendigkeit" in jeder Faser,
aufgegangen wäre: weshalb werden dann diese Eigenschaften wie auf dem
Sezirtisch neben einander vor uns ausgebreitet, weshalb hängen das Bein und
der eine Arm wie die Gliedmaßen eines Puppenbalges von dem durch den
Kopf in ganz anderm Sinne belebten Leibe herab, weshalb ist es dann unsrer
Wahl überlassen, den vom Kopf ausgehenden Lebensstrom auch noch wo anders
hinzuleiten, als nur nach dem rechten Arm, und weshalb reicht dieser Strom
niemals ans, um das Ganze zu umfassen?

Und nur mache man die letzte Probe: man versuche Verbesserungen.
Kann der linke Oberschenkel so hoch heraufgezogen werden, daß das Buch nicht
mehr nach außen, sondern nnr noch nach innen rutschen und infolge dessen
fest liegen würde? Die rechte Hand wäre dann zum Dirigiren frei. Nur be¬
deutete dieser große sachliche Gewinn auch eine starke Störung des feinen
Liniennetzes; zugleich würde bei dem hohen Stande der Figur der Oberschenkel
von unten, d. i. von seiner hintern Seite, sichtbar werden — formale Ver¬
schlechterungen, die beide die Veränderung verbieten müssen. War hier der
erste Gedanke vernünftigerweise der, daß sich die rechte Faust nachdrucksvoll
auf das ohne sie bereits in sicherer Lage befindliche Buch auflegte, fo verschob
die Anpassung an die lineare Form die Lage des Buches so, daß die rechte
Hand allmählich die Aufgabe, das Buch zu halten, überkam, und daß diese
Aufgabe zuletzt zur Hauptsache wurde. Die Absicht, zu dirigiren, verschwand
bis auf den jetzt völlig nutzlosen Taktstock. Kann hiernach noch ein Zweifel
sein, wie sehr die Form den Künstler beherrschte? Ein ursprünglich sinnvoller
Inhalt wurde durch die Rücksicht auf sie zum offenen Unsinn, gegen den allein
der Urheber dieses Unsinnes blind war. Darf man hiernach nun wohl sagen,
daß dem Künstler die Form sowohl von vornherein, wie überhaupt mehr am
Herzen gelegen habe, als der Inhalt?

Oder man suche für deu linken Arm und das Bein nach Stellungen, die
sich dem rechten Arm als der Geberde für das „Gesamtthun" Wagners unter¬
ordnen. Wie man es auch anfangen mag, immer wird man zwei der wichtigsten
Dreiecksseiten und damit den ganzen, in die beiden Dreiecke gegliederten Auf¬
bau zerstören müssen. Soll das aber vermieden werden, dann muß der linke
Arm mit genauer Richtung auf den Punkt 1 hin gerade so zierlich angeleimt,
das rechte Bein nach dem Punkt r hin gerade so straff ausgestreckt sein, wie
wir es thatsächlich vor uns sehen. Bedarf es noch eines Beweises, daß in
Schapers Phantasie zuerst die lineare Anordnung vorhanden war und der
Leichnam des zu Feiernden nur nachträglich hineingepaßt wurde? Ging es
nicht nach der Art des Pheidias, dann umso besser nach der des Prokrustes!


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[0574] Vor Entwurf eines Magnerdenkmals für Leipzig Schayer wirklich eine jener einheitlich machtvollen Eingebungen gehabt hätte, wie sie z. B. seinem antiken Ahnherrn, dem Urheber des olympischen Zeus, nach¬ gesagt wird, wenn ihm Wagner wirklich in irgend einer bezeichnenden Haltung oder Beschäftigung, „konzentrirte Energie und Lebendigkeit" in jeder Faser, aufgegangen wäre: weshalb werden dann diese Eigenschaften wie auf dem Sezirtisch neben einander vor uns ausgebreitet, weshalb hängen das Bein und der eine Arm wie die Gliedmaßen eines Puppenbalges von dem durch den Kopf in ganz anderm Sinne belebten Leibe herab, weshalb ist es dann unsrer Wahl überlassen, den vom Kopf ausgehenden Lebensstrom auch noch wo anders hinzuleiten, als nur nach dem rechten Arm, und weshalb reicht dieser Strom niemals ans, um das Ganze zu umfassen? Und nur mache man die letzte Probe: man versuche Verbesserungen. Kann der linke Oberschenkel so hoch heraufgezogen werden, daß das Buch nicht mehr nach außen, sondern nnr noch nach innen rutschen und infolge dessen fest liegen würde? Die rechte Hand wäre dann zum Dirigiren frei. Nur be¬ deutete dieser große sachliche Gewinn auch eine starke Störung des feinen Liniennetzes; zugleich würde bei dem hohen Stande der Figur der Oberschenkel von unten, d. i. von seiner hintern Seite, sichtbar werden — formale Ver¬ schlechterungen, die beide die Veränderung verbieten müssen. War hier der erste Gedanke vernünftigerweise der, daß sich die rechte Faust nachdrucksvoll auf das ohne sie bereits in sicherer Lage befindliche Buch auflegte, fo verschob die Anpassung an die lineare Form die Lage des Buches so, daß die rechte Hand allmählich die Aufgabe, das Buch zu halten, überkam, und daß diese Aufgabe zuletzt zur Hauptsache wurde. Die Absicht, zu dirigiren, verschwand bis auf den jetzt völlig nutzlosen Taktstock. Kann hiernach noch ein Zweifel sein, wie sehr die Form den Künstler beherrschte? Ein ursprünglich sinnvoller Inhalt wurde durch die Rücksicht auf sie zum offenen Unsinn, gegen den allein der Urheber dieses Unsinnes blind war. Darf man hiernach nun wohl sagen, daß dem Künstler die Form sowohl von vornherein, wie überhaupt mehr am Herzen gelegen habe, als der Inhalt? Oder man suche für deu linken Arm und das Bein nach Stellungen, die sich dem rechten Arm als der Geberde für das „Gesamtthun" Wagners unter¬ ordnen. Wie man es auch anfangen mag, immer wird man zwei der wichtigsten Dreiecksseiten und damit den ganzen, in die beiden Dreiecke gegliederten Auf¬ bau zerstören müssen. Soll das aber vermieden werden, dann muß der linke Arm mit genauer Richtung auf den Punkt 1 hin gerade so zierlich angeleimt, das rechte Bein nach dem Punkt r hin gerade so straff ausgestreckt sein, wie wir es thatsächlich vor uns sehen. Bedarf es noch eines Beweises, daß in Schapers Phantasie zuerst die lineare Anordnung vorhanden war und der Leichnam des zu Feiernden nur nachträglich hineingepaßt wurde? Ging es nicht nach der Art des Pheidias, dann umso besser nach der des Prokrustes!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/574>, abgerufen am 25.08.2024.