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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Zur Schulrede des Kaisers

Mit ganzer Kraft aber macht sich die Erziehung geltend, wenn es sich
darum handelt, bestimmte Gedanken dauernd in den Lebensinhalt der Menschen
hineiuzuarbeitcu und mit ihnen das heranwachsende Geschlecht zu erfüllen.

Hieran denkt unser Kaiser, und deshalb ruft er die Mitwirkung der Er¬
ziehung, besonders die Hilfe der Schule an. Was die Schule dazu beitragen
könne, um der zentrifugalen Tendenzen, vor allem der sozialdemokratischen
Bewegung schneller Herr werden zu können, das bildet den bedeutsamen Hinter¬
grund seiner Rede. Von hier aus wollen auch alle die Vorwürfe angehört
sein, die der kaiserliche Redner der Schulerziehung seit 1870 macht.

Ob diese berechtigt sind und wieweit die Schule die Schäden der Gesell¬
schaft zu heilen vermag, hierüber gehen die Meinungen allerdings weit aus
einander. Nicht wenige bestreikn überhaupt die Macht der Schule in diesen
Dingen. Und sie mögen Recht haben, wenn die Schule nichts weiter thun soll als
Kenntnisse überliefern. Aber es giebt eine höhere Auffassung der Schule, die
davon ausgeht, daß sie eine wichtige Erziehuugsmacht ist im Leben des Volkes,
die allerdings von den übrigen Miterziehungsmächten nicht getrennt, nicht ab¬
gelöst gedacht werden darf, vor allem nicht von dem mächtigen Einfluß der
Hauserzichuug. Wo also von der Wirksamkeit der Schule die Rede ist, wird
immer zugleich an die der Familie gedacht werden müssen, und alle die
Mahnungen, die an die Schule gerichtet werden, müssen zugleich, und zwar
in erhöhtem Maße, mich an die Familie abgegeben werden. Nur aus einem
Zusammenwirken beider wird etwas Ersprießliches, etwas Dauerndes hervor¬
gehen. Für sich allem genommen ist die Schule schwach; gegen Tendenzen
anzukämpfen, die das Haus vertritt, die der Umgang Pflegt, die gleichsam in der
Luft liegend durch tausend unsichtbare Kanäle in das jugendliche Gemüt einziehen,
wird sie vergeblich ankämpfen. Aber trotzdem wird sie ankämpfen; denn sie
kann nicht anders. Der Erziehungsschule, wie sie begrifflich längst ausgebildet,
aber eben noch nicht in die Wirklichkeit übergeführt ist, da die Not der Zeit
bisher nicht so drängte wie jetzt, schwebt eben als ideales Ziel vor, die Grund¬
lagen für die religiös-sittliche Charakterbildung so fest als möglich zu legen.
Thut sie dies, dann arbeitet sie zugleich -- ohne daß irgend welche bestimmte
Tendenz hervorzutreten braucht -- allen zersetzenden Bestrebungen entgegen.
Denn das Zuspitzen der Schularbeit zu einem Kampfe gegen die Sozialdemo¬
kratie wäre ebenso gefährlich wie aussichtslos. Tendenz erzeugt Gegentendenz.
Diese aber vermag kein Herrschergebvt zu beseitigen. Personen lassen sich
unschädlich machen, aber nicht Ideen. Die Ausbreitung des Christentums wie
der Sozialdemokratie zeigt dies zur Genüge an.

Stellt sich die Schulerziehung als bedeutsame Macht neben die Haus¬
erziehung und sind beide von dem rechten Geiste beseelt, dann werden wir der
finstern Mächte Herr werden, die das Leben unsers Volkes bedrohen. Daß
sie an höchster Stelle bekannt sind, und daß von hier aus ernste Mahnungen


Zur Schulrede des Kaisers

Mit ganzer Kraft aber macht sich die Erziehung geltend, wenn es sich
darum handelt, bestimmte Gedanken dauernd in den Lebensinhalt der Menschen
hineiuzuarbeitcu und mit ihnen das heranwachsende Geschlecht zu erfüllen.

Hieran denkt unser Kaiser, und deshalb ruft er die Mitwirkung der Er¬
ziehung, besonders die Hilfe der Schule an. Was die Schule dazu beitragen
könne, um der zentrifugalen Tendenzen, vor allem der sozialdemokratischen
Bewegung schneller Herr werden zu können, das bildet den bedeutsamen Hinter¬
grund seiner Rede. Von hier aus wollen auch alle die Vorwürfe angehört
sein, die der kaiserliche Redner der Schulerziehung seit 1870 macht.

Ob diese berechtigt sind und wieweit die Schule die Schäden der Gesell¬
schaft zu heilen vermag, hierüber gehen die Meinungen allerdings weit aus
einander. Nicht wenige bestreikn überhaupt die Macht der Schule in diesen
Dingen. Und sie mögen Recht haben, wenn die Schule nichts weiter thun soll als
Kenntnisse überliefern. Aber es giebt eine höhere Auffassung der Schule, die
davon ausgeht, daß sie eine wichtige Erziehuugsmacht ist im Leben des Volkes,
die allerdings von den übrigen Miterziehungsmächten nicht getrennt, nicht ab¬
gelöst gedacht werden darf, vor allem nicht von dem mächtigen Einfluß der
Hauserzichuug. Wo also von der Wirksamkeit der Schule die Rede ist, wird
immer zugleich an die der Familie gedacht werden müssen, und alle die
Mahnungen, die an die Schule gerichtet werden, müssen zugleich, und zwar
in erhöhtem Maße, mich an die Familie abgegeben werden. Nur aus einem
Zusammenwirken beider wird etwas Ersprießliches, etwas Dauerndes hervor¬
gehen. Für sich allem genommen ist die Schule schwach; gegen Tendenzen
anzukämpfen, die das Haus vertritt, die der Umgang Pflegt, die gleichsam in der
Luft liegend durch tausend unsichtbare Kanäle in das jugendliche Gemüt einziehen,
wird sie vergeblich ankämpfen. Aber trotzdem wird sie ankämpfen; denn sie
kann nicht anders. Der Erziehungsschule, wie sie begrifflich längst ausgebildet,
aber eben noch nicht in die Wirklichkeit übergeführt ist, da die Not der Zeit
bisher nicht so drängte wie jetzt, schwebt eben als ideales Ziel vor, die Grund¬
lagen für die religiös-sittliche Charakterbildung so fest als möglich zu legen.
Thut sie dies, dann arbeitet sie zugleich — ohne daß irgend welche bestimmte
Tendenz hervorzutreten braucht — allen zersetzenden Bestrebungen entgegen.
Denn das Zuspitzen der Schularbeit zu einem Kampfe gegen die Sozialdemo¬
kratie wäre ebenso gefährlich wie aussichtslos. Tendenz erzeugt Gegentendenz.
Diese aber vermag kein Herrschergebvt zu beseitigen. Personen lassen sich
unschädlich machen, aber nicht Ideen. Die Ausbreitung des Christentums wie
der Sozialdemokratie zeigt dies zur Genüge an.

Stellt sich die Schulerziehung als bedeutsame Macht neben die Haus¬
erziehung und sind beide von dem rechten Geiste beseelt, dann werden wir der
finstern Mächte Herr werden, die das Leben unsers Volkes bedrohen. Daß
sie an höchster Stelle bekannt sind, und daß von hier aus ernste Mahnungen


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[0547] Zur Schulrede des Kaisers Mit ganzer Kraft aber macht sich die Erziehung geltend, wenn es sich darum handelt, bestimmte Gedanken dauernd in den Lebensinhalt der Menschen hineiuzuarbeitcu und mit ihnen das heranwachsende Geschlecht zu erfüllen. Hieran denkt unser Kaiser, und deshalb ruft er die Mitwirkung der Er¬ ziehung, besonders die Hilfe der Schule an. Was die Schule dazu beitragen könne, um der zentrifugalen Tendenzen, vor allem der sozialdemokratischen Bewegung schneller Herr werden zu können, das bildet den bedeutsamen Hinter¬ grund seiner Rede. Von hier aus wollen auch alle die Vorwürfe angehört sein, die der kaiserliche Redner der Schulerziehung seit 1870 macht. Ob diese berechtigt sind und wieweit die Schule die Schäden der Gesell¬ schaft zu heilen vermag, hierüber gehen die Meinungen allerdings weit aus einander. Nicht wenige bestreikn überhaupt die Macht der Schule in diesen Dingen. Und sie mögen Recht haben, wenn die Schule nichts weiter thun soll als Kenntnisse überliefern. Aber es giebt eine höhere Auffassung der Schule, die davon ausgeht, daß sie eine wichtige Erziehuugsmacht ist im Leben des Volkes, die allerdings von den übrigen Miterziehungsmächten nicht getrennt, nicht ab¬ gelöst gedacht werden darf, vor allem nicht von dem mächtigen Einfluß der Hauserzichuug. Wo also von der Wirksamkeit der Schule die Rede ist, wird immer zugleich an die der Familie gedacht werden müssen, und alle die Mahnungen, die an die Schule gerichtet werden, müssen zugleich, und zwar in erhöhtem Maße, mich an die Familie abgegeben werden. Nur aus einem Zusammenwirken beider wird etwas Ersprießliches, etwas Dauerndes hervor¬ gehen. Für sich allem genommen ist die Schule schwach; gegen Tendenzen anzukämpfen, die das Haus vertritt, die der Umgang Pflegt, die gleichsam in der Luft liegend durch tausend unsichtbare Kanäle in das jugendliche Gemüt einziehen, wird sie vergeblich ankämpfen. Aber trotzdem wird sie ankämpfen; denn sie kann nicht anders. Der Erziehungsschule, wie sie begrifflich längst ausgebildet, aber eben noch nicht in die Wirklichkeit übergeführt ist, da die Not der Zeit bisher nicht so drängte wie jetzt, schwebt eben als ideales Ziel vor, die Grund¬ lagen für die religiös-sittliche Charakterbildung so fest als möglich zu legen. Thut sie dies, dann arbeitet sie zugleich — ohne daß irgend welche bestimmte Tendenz hervorzutreten braucht — allen zersetzenden Bestrebungen entgegen. Denn das Zuspitzen der Schularbeit zu einem Kampfe gegen die Sozialdemo¬ kratie wäre ebenso gefährlich wie aussichtslos. Tendenz erzeugt Gegentendenz. Diese aber vermag kein Herrschergebvt zu beseitigen. Personen lassen sich unschädlich machen, aber nicht Ideen. Die Ausbreitung des Christentums wie der Sozialdemokratie zeigt dies zur Genüge an. Stellt sich die Schulerziehung als bedeutsame Macht neben die Haus¬ erziehung und sind beide von dem rechten Geiste beseelt, dann werden wir der finstern Mächte Herr werden, die das Leben unsers Volkes bedrohen. Daß sie an höchster Stelle bekannt sind, und daß von hier aus ernste Mahnungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/547>, abgerufen am 23.07.2024.