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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Julius Stinte

Helden und Heldinnen zu lachen, aber er versteht auch -- sein neuestes Werk
beweist es aufs schlagendste -- sich in den Gram eines Menschenherzens
hineinzufühlen und unter den Qualen, die es zerfleischen, mit zu leiden. Ja
derselbe Humorist, der heute als Optimist die Krebsschäden der Gesellschaft,
die seinem Auge keineswegs verborgen sind, von der komischen Seite angreift,
um sie, durch den Humor vergoldet, dem Leser zum Bewußtsein zu bringen,
hat selbst seine Periode des Pessimismus gehabt. Seine "Walduovelleu,"
kleine Erzählungen wie die "Alltagsmärchen," diese aber an Wert bedeutend
überragend, liefern den Beweis. ,,Jn diesen Erzählungen -- urteilt Rudolf
von Gottschall -- waltet zum Teil ein poetischer Pessimismus vor, der grau¬
same Opfer verlangt, und dessen Berechtigung eine eigne eingehende Abhandlung
erfordern würde." Diese Periode schwarzsichtiger Weltanschauung hat Stinte
glücklich überwunden; die Tiefe des Gemüts aber, die ihm die gleichmäßige
Mitempfindung von Meuscheufreude und Menschenleib ermöglicht, ist an ihre
Stelle getreten. Mit dem Gemüt erfaßt er Welt und Menschen, kehrt ihre
Tugenden hervor und bringt sie zur Erkenntnis ihrer Fehler, um sie auf den
rechten Weg zu weisen. Ein Beispiel dieser wohlgemeinten Zurechtweisung
möge hier Platz finden, weil es zugleich Zeugnis von der Anhänglichkeit des
Humoristen an die Stätte ablegt, wo ihm die erste volle Anerkennung seines
Schaffens zu teil wurde. Dankbarkeit ist ja eine der ersten Tilgenden deo
Gemütsmenschen. Die Stelle ist aus Stindes neuestem Werk: "Pienchens
Brautfahrt." Die ,,Freia," an deren Bord Frau Lahmann mit ihren beiden
Töchtern, von Berlin kommend, die Reise nach Sylt angetreten hat, hat
den Hamburger Hafen verlassen. ,,Altonci war vorüber, nun kam das hohe
Elbufer mit seinen gartenumhegten Landhäusern. Wie schön! Scheelsüchtige
sagen, hier ließe Hamburg einen Zipfel seines Reichtums sehen. Geht in die
Stadt, an die gewaltigen Knif, in die Kaufhäuser, in die Fabriken und seht
euch die Arbeit an, begleitet die Schiffe bis in die fernsten Häfen, wohin sie
der Unternehmungsgeist sendet, dann wißt ihr, was Hamburg groß macht.
Freut euch doch über jeden Fleck deutscher Erde, wo der Fleiß üppige Früchte
trägt." Dergleichen Zurechtweisungen, die auf jeder Seite von Stindes
Büchern zu finden find, üben ihre Wirkung, ohne zu beleidigen. Stinte kränkt
niemanden; selbst da nicht, wo er satirisch wird. Denn diese Satire, in die
er nichts gewaltsam hineinreißt, mit der er vielmehr nur das wirklich Fratzen¬
hafte karrikirt, übt zwar ihre Wirkung, bleibt aber gleichwohl überall gutmütig;
auch hier macht sich der Humor nach seinen beiden Richtungen hin geltend.
Wir lachen über die komische Gestalt, nnter der uns das Bornirte der
Menschennatur in seiner wahrhaftigen, bis ins einzelne zutreffenden Er¬
scheinung vor Augen tritt, und empfinden doch dahinter das mitleidige, die
Berirruugen des Menschen bedauernde Gemüt. Abgesehen von den zahlreichen,
in allen seinen humoristischen Werken verstreuten satirischen Seitenblicken hat


Julius Stinte

Helden und Heldinnen zu lachen, aber er versteht auch — sein neuestes Werk
beweist es aufs schlagendste — sich in den Gram eines Menschenherzens
hineinzufühlen und unter den Qualen, die es zerfleischen, mit zu leiden. Ja
derselbe Humorist, der heute als Optimist die Krebsschäden der Gesellschaft,
die seinem Auge keineswegs verborgen sind, von der komischen Seite angreift,
um sie, durch den Humor vergoldet, dem Leser zum Bewußtsein zu bringen,
hat selbst seine Periode des Pessimismus gehabt. Seine „Walduovelleu,"
kleine Erzählungen wie die „Alltagsmärchen," diese aber an Wert bedeutend
überragend, liefern den Beweis. ,,Jn diesen Erzählungen — urteilt Rudolf
von Gottschall — waltet zum Teil ein poetischer Pessimismus vor, der grau¬
same Opfer verlangt, und dessen Berechtigung eine eigne eingehende Abhandlung
erfordern würde." Diese Periode schwarzsichtiger Weltanschauung hat Stinte
glücklich überwunden; die Tiefe des Gemüts aber, die ihm die gleichmäßige
Mitempfindung von Meuscheufreude und Menschenleib ermöglicht, ist an ihre
Stelle getreten. Mit dem Gemüt erfaßt er Welt und Menschen, kehrt ihre
Tugenden hervor und bringt sie zur Erkenntnis ihrer Fehler, um sie auf den
rechten Weg zu weisen. Ein Beispiel dieser wohlgemeinten Zurechtweisung
möge hier Platz finden, weil es zugleich Zeugnis von der Anhänglichkeit des
Humoristen an die Stätte ablegt, wo ihm die erste volle Anerkennung seines
Schaffens zu teil wurde. Dankbarkeit ist ja eine der ersten Tilgenden deo
Gemütsmenschen. Die Stelle ist aus Stindes neuestem Werk: „Pienchens
Brautfahrt." Die ,,Freia," an deren Bord Frau Lahmann mit ihren beiden
Töchtern, von Berlin kommend, die Reise nach Sylt angetreten hat, hat
den Hamburger Hafen verlassen. ,,Altonci war vorüber, nun kam das hohe
Elbufer mit seinen gartenumhegten Landhäusern. Wie schön! Scheelsüchtige
sagen, hier ließe Hamburg einen Zipfel seines Reichtums sehen. Geht in die
Stadt, an die gewaltigen Knif, in die Kaufhäuser, in die Fabriken und seht
euch die Arbeit an, begleitet die Schiffe bis in die fernsten Häfen, wohin sie
der Unternehmungsgeist sendet, dann wißt ihr, was Hamburg groß macht.
Freut euch doch über jeden Fleck deutscher Erde, wo der Fleiß üppige Früchte
trägt." Dergleichen Zurechtweisungen, die auf jeder Seite von Stindes
Büchern zu finden find, üben ihre Wirkung, ohne zu beleidigen. Stinte kränkt
niemanden; selbst da nicht, wo er satirisch wird. Denn diese Satire, in die
er nichts gewaltsam hineinreißt, mit der er vielmehr nur das wirklich Fratzen¬
hafte karrikirt, übt zwar ihre Wirkung, bleibt aber gleichwohl überall gutmütig;
auch hier macht sich der Humor nach seinen beiden Richtungen hin geltend.
Wir lachen über die komische Gestalt, nnter der uns das Bornirte der
Menschennatur in seiner wahrhaftigen, bis ins einzelne zutreffenden Er¬
scheinung vor Augen tritt, und empfinden doch dahinter das mitleidige, die
Berirruugen des Menschen bedauernde Gemüt. Abgesehen von den zahlreichen,
in allen seinen humoristischen Werken verstreuten satirischen Seitenblicken hat


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[0526] Julius Stinte Helden und Heldinnen zu lachen, aber er versteht auch — sein neuestes Werk beweist es aufs schlagendste — sich in den Gram eines Menschenherzens hineinzufühlen und unter den Qualen, die es zerfleischen, mit zu leiden. Ja derselbe Humorist, der heute als Optimist die Krebsschäden der Gesellschaft, die seinem Auge keineswegs verborgen sind, von der komischen Seite angreift, um sie, durch den Humor vergoldet, dem Leser zum Bewußtsein zu bringen, hat selbst seine Periode des Pessimismus gehabt. Seine „Walduovelleu," kleine Erzählungen wie die „Alltagsmärchen," diese aber an Wert bedeutend überragend, liefern den Beweis. ,,Jn diesen Erzählungen — urteilt Rudolf von Gottschall — waltet zum Teil ein poetischer Pessimismus vor, der grau¬ same Opfer verlangt, und dessen Berechtigung eine eigne eingehende Abhandlung erfordern würde." Diese Periode schwarzsichtiger Weltanschauung hat Stinte glücklich überwunden; die Tiefe des Gemüts aber, die ihm die gleichmäßige Mitempfindung von Meuscheufreude und Menschenleib ermöglicht, ist an ihre Stelle getreten. Mit dem Gemüt erfaßt er Welt und Menschen, kehrt ihre Tugenden hervor und bringt sie zur Erkenntnis ihrer Fehler, um sie auf den rechten Weg zu weisen. Ein Beispiel dieser wohlgemeinten Zurechtweisung möge hier Platz finden, weil es zugleich Zeugnis von der Anhänglichkeit des Humoristen an die Stätte ablegt, wo ihm die erste volle Anerkennung seines Schaffens zu teil wurde. Dankbarkeit ist ja eine der ersten Tilgenden deo Gemütsmenschen. Die Stelle ist aus Stindes neuestem Werk: „Pienchens Brautfahrt." Die ,,Freia," an deren Bord Frau Lahmann mit ihren beiden Töchtern, von Berlin kommend, die Reise nach Sylt angetreten hat, hat den Hamburger Hafen verlassen. ,,Altonci war vorüber, nun kam das hohe Elbufer mit seinen gartenumhegten Landhäusern. Wie schön! Scheelsüchtige sagen, hier ließe Hamburg einen Zipfel seines Reichtums sehen. Geht in die Stadt, an die gewaltigen Knif, in die Kaufhäuser, in die Fabriken und seht euch die Arbeit an, begleitet die Schiffe bis in die fernsten Häfen, wohin sie der Unternehmungsgeist sendet, dann wißt ihr, was Hamburg groß macht. Freut euch doch über jeden Fleck deutscher Erde, wo der Fleiß üppige Früchte trägt." Dergleichen Zurechtweisungen, die auf jeder Seite von Stindes Büchern zu finden find, üben ihre Wirkung, ohne zu beleidigen. Stinte kränkt niemanden; selbst da nicht, wo er satirisch wird. Denn diese Satire, in die er nichts gewaltsam hineinreißt, mit der er vielmehr nur das wirklich Fratzen¬ hafte karrikirt, übt zwar ihre Wirkung, bleibt aber gleichwohl überall gutmütig; auch hier macht sich der Humor nach seinen beiden Richtungen hin geltend. Wir lachen über die komische Gestalt, nnter der uns das Bornirte der Menschennatur in seiner wahrhaftigen, bis ins einzelne zutreffenden Er¬ scheinung vor Augen tritt, und empfinden doch dahinter das mitleidige, die Berirruugen des Menschen bedauernde Gemüt. Abgesehen von den zahlreichen, in allen seinen humoristischen Werken verstreuten satirischen Seitenblicken hat

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/526>, abgerufen am 23.07.2024.