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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Julius Stinte

die Gebeine seines als Kirchenpropst im Jahre 1881 gestorbenen Vaters; dort
lebten ihm Mutter und Schwestern, dort war es auch, wo ich den über Nacht
berühmt gewordenen Humoristen kenne" lernte.

Und zwar genau so, wie ihn jeder aus seinen Schriften kennt. Stinte
giebt sich, wie selten ein Schriftsteller, im täglichen Leben ganz so, wie in
seinen Büchern. Stinte sieht und hört alles und weiß über alles mit komischer
Präzision mitzureden. Er hat im Hause gelauscht und kennt alle Freuden
und Leiden der Hausfrau, die Gewissenlosigkeit nicht "eckenreiner" Dienst¬
mädchen beim Scheuern oder Feudeln, die Fehler, die die Schneiderin beim
Anfertigen eines Kleides, die Putzmacherin bei der Garnirung eines Hutes
gemacht hat. Er ist genau unterrichtet über alle Moden der Frauenkleidung;
er kennt jeden Ausdruck, der sich auf die Toilette und andre Angelegenheiten
des weiblichen Geschlechts bezieht. Darum weiß er auch in seinen Buchholzens
das neue Kleid von "Polizeileutnantens Mila" so getreulich zu schildern.
Aber weiter horcht und sieht er in der Küche; er ist, wie der Plattdeutsche
sagt, ein richtiger "Pöttenkieker." Er weiß, wie oft der Kalbsbraten begossen
werden muß, wie lange Kartoffeln, Kohl, Spinat kochen müssen; er kennt jeden
von der Hausfrau gerügten Fehler eines vom Schlächter frisch gebrachten
Fleischstückes und weiß, mit welchen Worten sie diesen zur Rede stellt. Jeden
Ausdruck beim Feilschen um Kaffee oder Rosinen, beim Beurteilen der auf¬
getragenen Gerichte hat er erlauscht, lind dann blickt er hinaus auf die
Straße, besucht die Werkstätten der Handwerker, die Arbeitssäle der Fabriken,
die Felder und Scheunen der Landleute; anßer den Kenntnissen von der Ent¬
stehung und Bearbeitung jedes im täglichen Leben vorkommenden Gebranchs-
gegenstandes, der Kunstgriffe bei jedem Handwerke, jeder Fabrik- und Land¬
arbeit erbeutet er bei dieser Gelegenheit mich die zahllosen Beiträge zu seinem
Lexikon von Fach- und Loknlausdrücken; auf der Straße eröffnet sich ihm die
ausgiebigste Quelle derben oder gemütlichen Vvlkswitzes. Alles aber, was er
im täglichem Verkehr erspäht und erlanscht hat, das finden wir später in seinen
Büchern wieder, wo es eine urkomische Wirkung nicht verfehlt.

Aber auch die komische Wirkung allein macht nicht den Humoristen; um
diesen Namen zu verdienen, bedarf der Schriftsteller eines reichen Gemütes.
Stinte darf sich dieses Besitzes rühmen; wer seine Werke kennt, die Ham-
burgischen Bühnenstücke sowohl wie die Berliner Humoresken, kann sich der
Wahrheit nicht entziehen, daß es bei beiden die unzertrennliche Verbindung des
Komischen mit dem Gemütvollen, des realen Bildes mit der idealen Denkweise
des Verfassers ist, die seinen Schriften ihren Wert verleiht. Man braucht ihn
nicht im Verkehr mit den Seinen, mit Verwandten, Freunden und Bekannten
kennen gelernt zu haben, um zu der Überzeugung zu gelangen, daß Stinte
"Gemütsmensch" durch und durch ist. Er versenkt sich mit seinem ganzen
Sein und Empfinden in die Welt, die er darstellt; er weiß mit seinen kleinen


Julius Stinte

die Gebeine seines als Kirchenpropst im Jahre 1881 gestorbenen Vaters; dort
lebten ihm Mutter und Schwestern, dort war es auch, wo ich den über Nacht
berühmt gewordenen Humoristen kenne» lernte.

Und zwar genau so, wie ihn jeder aus seinen Schriften kennt. Stinte
giebt sich, wie selten ein Schriftsteller, im täglichen Leben ganz so, wie in
seinen Büchern. Stinte sieht und hört alles und weiß über alles mit komischer
Präzision mitzureden. Er hat im Hause gelauscht und kennt alle Freuden
und Leiden der Hausfrau, die Gewissenlosigkeit nicht „eckenreiner" Dienst¬
mädchen beim Scheuern oder Feudeln, die Fehler, die die Schneiderin beim
Anfertigen eines Kleides, die Putzmacherin bei der Garnirung eines Hutes
gemacht hat. Er ist genau unterrichtet über alle Moden der Frauenkleidung;
er kennt jeden Ausdruck, der sich auf die Toilette und andre Angelegenheiten
des weiblichen Geschlechts bezieht. Darum weiß er auch in seinen Buchholzens
das neue Kleid von „Polizeileutnantens Mila" so getreulich zu schildern.
Aber weiter horcht und sieht er in der Küche; er ist, wie der Plattdeutsche
sagt, ein richtiger „Pöttenkieker." Er weiß, wie oft der Kalbsbraten begossen
werden muß, wie lange Kartoffeln, Kohl, Spinat kochen müssen; er kennt jeden
von der Hausfrau gerügten Fehler eines vom Schlächter frisch gebrachten
Fleischstückes und weiß, mit welchen Worten sie diesen zur Rede stellt. Jeden
Ausdruck beim Feilschen um Kaffee oder Rosinen, beim Beurteilen der auf¬
getragenen Gerichte hat er erlauscht, lind dann blickt er hinaus auf die
Straße, besucht die Werkstätten der Handwerker, die Arbeitssäle der Fabriken,
die Felder und Scheunen der Landleute; anßer den Kenntnissen von der Ent¬
stehung und Bearbeitung jedes im täglichen Leben vorkommenden Gebranchs-
gegenstandes, der Kunstgriffe bei jedem Handwerke, jeder Fabrik- und Land¬
arbeit erbeutet er bei dieser Gelegenheit mich die zahllosen Beiträge zu seinem
Lexikon von Fach- und Loknlausdrücken; auf der Straße eröffnet sich ihm die
ausgiebigste Quelle derben oder gemütlichen Vvlkswitzes. Alles aber, was er
im täglichem Verkehr erspäht und erlanscht hat, das finden wir später in seinen
Büchern wieder, wo es eine urkomische Wirkung nicht verfehlt.

Aber auch die komische Wirkung allein macht nicht den Humoristen; um
diesen Namen zu verdienen, bedarf der Schriftsteller eines reichen Gemütes.
Stinte darf sich dieses Besitzes rühmen; wer seine Werke kennt, die Ham-
burgischen Bühnenstücke sowohl wie die Berliner Humoresken, kann sich der
Wahrheit nicht entziehen, daß es bei beiden die unzertrennliche Verbindung des
Komischen mit dem Gemütvollen, des realen Bildes mit der idealen Denkweise
des Verfassers ist, die seinen Schriften ihren Wert verleiht. Man braucht ihn
nicht im Verkehr mit den Seinen, mit Verwandten, Freunden und Bekannten
kennen gelernt zu haben, um zu der Überzeugung zu gelangen, daß Stinte
„Gemütsmensch" durch und durch ist. Er versenkt sich mit seinem ganzen
Sein und Empfinden in die Welt, die er darstellt; er weiß mit seinen kleinen


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[0525] Julius Stinte die Gebeine seines als Kirchenpropst im Jahre 1881 gestorbenen Vaters; dort lebten ihm Mutter und Schwestern, dort war es auch, wo ich den über Nacht berühmt gewordenen Humoristen kenne» lernte. Und zwar genau so, wie ihn jeder aus seinen Schriften kennt. Stinte giebt sich, wie selten ein Schriftsteller, im täglichen Leben ganz so, wie in seinen Büchern. Stinte sieht und hört alles und weiß über alles mit komischer Präzision mitzureden. Er hat im Hause gelauscht und kennt alle Freuden und Leiden der Hausfrau, die Gewissenlosigkeit nicht „eckenreiner" Dienst¬ mädchen beim Scheuern oder Feudeln, die Fehler, die die Schneiderin beim Anfertigen eines Kleides, die Putzmacherin bei der Garnirung eines Hutes gemacht hat. Er ist genau unterrichtet über alle Moden der Frauenkleidung; er kennt jeden Ausdruck, der sich auf die Toilette und andre Angelegenheiten des weiblichen Geschlechts bezieht. Darum weiß er auch in seinen Buchholzens das neue Kleid von „Polizeileutnantens Mila" so getreulich zu schildern. Aber weiter horcht und sieht er in der Küche; er ist, wie der Plattdeutsche sagt, ein richtiger „Pöttenkieker." Er weiß, wie oft der Kalbsbraten begossen werden muß, wie lange Kartoffeln, Kohl, Spinat kochen müssen; er kennt jeden von der Hausfrau gerügten Fehler eines vom Schlächter frisch gebrachten Fleischstückes und weiß, mit welchen Worten sie diesen zur Rede stellt. Jeden Ausdruck beim Feilschen um Kaffee oder Rosinen, beim Beurteilen der auf¬ getragenen Gerichte hat er erlauscht, lind dann blickt er hinaus auf die Straße, besucht die Werkstätten der Handwerker, die Arbeitssäle der Fabriken, die Felder und Scheunen der Landleute; anßer den Kenntnissen von der Ent¬ stehung und Bearbeitung jedes im täglichen Leben vorkommenden Gebranchs- gegenstandes, der Kunstgriffe bei jedem Handwerke, jeder Fabrik- und Land¬ arbeit erbeutet er bei dieser Gelegenheit mich die zahllosen Beiträge zu seinem Lexikon von Fach- und Loknlausdrücken; auf der Straße eröffnet sich ihm die ausgiebigste Quelle derben oder gemütlichen Vvlkswitzes. Alles aber, was er im täglichem Verkehr erspäht und erlanscht hat, das finden wir später in seinen Büchern wieder, wo es eine urkomische Wirkung nicht verfehlt. Aber auch die komische Wirkung allein macht nicht den Humoristen; um diesen Namen zu verdienen, bedarf der Schriftsteller eines reichen Gemütes. Stinte darf sich dieses Besitzes rühmen; wer seine Werke kennt, die Ham- burgischen Bühnenstücke sowohl wie die Berliner Humoresken, kann sich der Wahrheit nicht entziehen, daß es bei beiden die unzertrennliche Verbindung des Komischen mit dem Gemütvollen, des realen Bildes mit der idealen Denkweise des Verfassers ist, die seinen Schriften ihren Wert verleiht. Man braucht ihn nicht im Verkehr mit den Seinen, mit Verwandten, Freunden und Bekannten kennen gelernt zu haben, um zu der Überzeugung zu gelangen, daß Stinte „Gemütsmensch" durch und durch ist. Er versenkt sich mit seinem ganzen Sein und Empfinden in die Welt, die er darstellt; er weiß mit seinen kleinen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/525>, abgerufen am 23.07.2024.