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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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und dichterisch wiederzugeben, das dem norddeutschen Humoristen mit einem
Schlage die Sympathie der Hamburger und derjenigen niederdeutschen Bevöl¬
kerung gewann, deren Typus dem der Elbestadt ähnelt, wurde auch der
wesentlichste Grund für die Beliebtheit seiner Berliner Lebensbilder unter den
Bewohnern der Reichshauptstadt selbst und dank dem Verhältnis, in dem
Berlin heute zum Reiche steht, auch unter der Bevölkerung ganz Deutschlands.

Stindes Buchholzgeschichteu liefern deu Beweis, daß ihr Verfasser mit
Fleisch und Blut, Leib und Seele mitten in der ihn umgebenden Welt drin-
steckt. Er erweist sich als einen Mann der Anschauung, der ununterbrochen
sieht und hört; er erdichtet nicht alle die kleinen Gewohnheiten, Launen, Fehler
und Unarten, durch die er die eine oder andre Figur seiner Erzählungen
charakteristisch kenntlich macht, sondern diese Unarten, Fehler und Launen
waren an diesen, oder jenem Berliner Kinde Thatsache. Stinte weiß sie nur
scharfen Auges zu entdecken, seiner Stndienmappe einzufügen und den einzelnen
Personen seiner Humoresken geschickt anzuhängen. So stellt er uns die
einzelnen Typen in voller Handgreiflichkeit hin; uns ergötzt die Eitelkeit dieses
"Fatzken," die Steifheit jener alten Schwiegermutter, die Affenliebe einer "Frau
Polizeilentnaut Krause" zu ihren ungezogenen Rangen, das Grvßthun einer
ganzen Familie auf haltloser Grundlage, die Unordnung beim Junggesellen,
die Koketterie dieser, die übertriebene Prüderie jener, die dnmmstolze Bornirt-
heit einer dritten jungen Dame. Und diese ganze Gesellschaft redet unter
einander in einer Sprache, die in ihrer Naturtreue deutlich genug verrät, mit
wie scharfem, überall hin horchenden Ohre Stinte die Spracheigentümlichkeiten,
die Floskeln und Flüche, die originellen Wendungen und Bezeichnungen heraus¬
zuhören versteht, durch die sich der Berliner Jargon von der landläufigen
Umgangssprache der übrigen Bewohner des deutscheu Reiches abhebt.

Stinte kennt Berlin, als ob er selbst mit Spreewasser getauft wäre. Als
er vor einigen Jahren seine beiden ersten Buchholzbücher dem Fürsten Vismarck
zum Geschenk übersandt hatte, bemerkte dieser in seinem Dankschreiben, es habe
ihm unmöglich geschienen, daß der Verfasser dieser Bücher nicht ein Berliner
Kind sein sollte. So wird es manchem gehen. Freilich wer seine "Tante
Lotte" kennt, der zweifelt nicht mehr daran, es mit einem echten, rechte" Platt¬
deutsche" zu thu" zu haben. Ein solcher ist Stinte, ein Hvlsteiner unver¬
fälschter Rasse. Er wurde am 28. August l"41 in dem holsteinischen Dorfe
Kirchnüchel gehöre", verlebte dort seine Knabenzeit, besuchte dann das Gym¬
nasium in Eutin und begann, nach einer praktischen Lehrzeit als Pharmazeut
in Lübeck, seine Universitätsstudien in Kiel. Und noch als Frau Wilhelmine
Buchholz deu Namen des Berliner Schriftstellers längst über Deutschlands
Grenzen hinausgetragen hatte, Pflegte der Doktor Julius Stinte alljährlich
deu größten Teil seiner Sommerfrische in dem im östlichen Holstein gelegenen
bescheidenen Kirchdorf Lensayn zuzubringen. Dort ruhte" a"f den, Friedhofe


und dichterisch wiederzugeben, das dem norddeutschen Humoristen mit einem
Schlage die Sympathie der Hamburger und derjenigen niederdeutschen Bevöl¬
kerung gewann, deren Typus dem der Elbestadt ähnelt, wurde auch der
wesentlichste Grund für die Beliebtheit seiner Berliner Lebensbilder unter den
Bewohnern der Reichshauptstadt selbst und dank dem Verhältnis, in dem
Berlin heute zum Reiche steht, auch unter der Bevölkerung ganz Deutschlands.

Stindes Buchholzgeschichteu liefern deu Beweis, daß ihr Verfasser mit
Fleisch und Blut, Leib und Seele mitten in der ihn umgebenden Welt drin-
steckt. Er erweist sich als einen Mann der Anschauung, der ununterbrochen
sieht und hört; er erdichtet nicht alle die kleinen Gewohnheiten, Launen, Fehler
und Unarten, durch die er die eine oder andre Figur seiner Erzählungen
charakteristisch kenntlich macht, sondern diese Unarten, Fehler und Launen
waren an diesen, oder jenem Berliner Kinde Thatsache. Stinte weiß sie nur
scharfen Auges zu entdecken, seiner Stndienmappe einzufügen und den einzelnen
Personen seiner Humoresken geschickt anzuhängen. So stellt er uns die
einzelnen Typen in voller Handgreiflichkeit hin; uns ergötzt die Eitelkeit dieses
„Fatzken," die Steifheit jener alten Schwiegermutter, die Affenliebe einer „Frau
Polizeilentnaut Krause" zu ihren ungezogenen Rangen, das Grvßthun einer
ganzen Familie auf haltloser Grundlage, die Unordnung beim Junggesellen,
die Koketterie dieser, die übertriebene Prüderie jener, die dnmmstolze Bornirt-
heit einer dritten jungen Dame. Und diese ganze Gesellschaft redet unter
einander in einer Sprache, die in ihrer Naturtreue deutlich genug verrät, mit
wie scharfem, überall hin horchenden Ohre Stinte die Spracheigentümlichkeiten,
die Floskeln und Flüche, die originellen Wendungen und Bezeichnungen heraus¬
zuhören versteht, durch die sich der Berliner Jargon von der landläufigen
Umgangssprache der übrigen Bewohner des deutscheu Reiches abhebt.

Stinte kennt Berlin, als ob er selbst mit Spreewasser getauft wäre. Als
er vor einigen Jahren seine beiden ersten Buchholzbücher dem Fürsten Vismarck
zum Geschenk übersandt hatte, bemerkte dieser in seinem Dankschreiben, es habe
ihm unmöglich geschienen, daß der Verfasser dieser Bücher nicht ein Berliner
Kind sein sollte. So wird es manchem gehen. Freilich wer seine „Tante
Lotte" kennt, der zweifelt nicht mehr daran, es mit einem echten, rechte» Platt¬
deutsche» zu thu» zu haben. Ein solcher ist Stinte, ein Hvlsteiner unver¬
fälschter Rasse. Er wurde am 28. August l»41 in dem holsteinischen Dorfe
Kirchnüchel gehöre», verlebte dort seine Knabenzeit, besuchte dann das Gym¬
nasium in Eutin und begann, nach einer praktischen Lehrzeit als Pharmazeut
in Lübeck, seine Universitätsstudien in Kiel. Und noch als Frau Wilhelmine
Buchholz deu Namen des Berliner Schriftstellers längst über Deutschlands
Grenzen hinausgetragen hatte, Pflegte der Doktor Julius Stinte alljährlich
deu größten Teil seiner Sommerfrische in dem im östlichen Holstein gelegenen
bescheidenen Kirchdorf Lensayn zuzubringen. Dort ruhte» a»f den, Friedhofe


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[0524] und dichterisch wiederzugeben, das dem norddeutschen Humoristen mit einem Schlage die Sympathie der Hamburger und derjenigen niederdeutschen Bevöl¬ kerung gewann, deren Typus dem der Elbestadt ähnelt, wurde auch der wesentlichste Grund für die Beliebtheit seiner Berliner Lebensbilder unter den Bewohnern der Reichshauptstadt selbst und dank dem Verhältnis, in dem Berlin heute zum Reiche steht, auch unter der Bevölkerung ganz Deutschlands. Stindes Buchholzgeschichteu liefern deu Beweis, daß ihr Verfasser mit Fleisch und Blut, Leib und Seele mitten in der ihn umgebenden Welt drin- steckt. Er erweist sich als einen Mann der Anschauung, der ununterbrochen sieht und hört; er erdichtet nicht alle die kleinen Gewohnheiten, Launen, Fehler und Unarten, durch die er die eine oder andre Figur seiner Erzählungen charakteristisch kenntlich macht, sondern diese Unarten, Fehler und Launen waren an diesen, oder jenem Berliner Kinde Thatsache. Stinte weiß sie nur scharfen Auges zu entdecken, seiner Stndienmappe einzufügen und den einzelnen Personen seiner Humoresken geschickt anzuhängen. So stellt er uns die einzelnen Typen in voller Handgreiflichkeit hin; uns ergötzt die Eitelkeit dieses „Fatzken," die Steifheit jener alten Schwiegermutter, die Affenliebe einer „Frau Polizeilentnaut Krause" zu ihren ungezogenen Rangen, das Grvßthun einer ganzen Familie auf haltloser Grundlage, die Unordnung beim Junggesellen, die Koketterie dieser, die übertriebene Prüderie jener, die dnmmstolze Bornirt- heit einer dritten jungen Dame. Und diese ganze Gesellschaft redet unter einander in einer Sprache, die in ihrer Naturtreue deutlich genug verrät, mit wie scharfem, überall hin horchenden Ohre Stinte die Spracheigentümlichkeiten, die Floskeln und Flüche, die originellen Wendungen und Bezeichnungen heraus¬ zuhören versteht, durch die sich der Berliner Jargon von der landläufigen Umgangssprache der übrigen Bewohner des deutscheu Reiches abhebt. Stinte kennt Berlin, als ob er selbst mit Spreewasser getauft wäre. Als er vor einigen Jahren seine beiden ersten Buchholzbücher dem Fürsten Vismarck zum Geschenk übersandt hatte, bemerkte dieser in seinem Dankschreiben, es habe ihm unmöglich geschienen, daß der Verfasser dieser Bücher nicht ein Berliner Kind sein sollte. So wird es manchem gehen. Freilich wer seine „Tante Lotte" kennt, der zweifelt nicht mehr daran, es mit einem echten, rechte» Platt¬ deutsche» zu thu» zu haben. Ein solcher ist Stinte, ein Hvlsteiner unver¬ fälschter Rasse. Er wurde am 28. August l»41 in dem holsteinischen Dorfe Kirchnüchel gehöre», verlebte dort seine Knabenzeit, besuchte dann das Gym¬ nasium in Eutin und begann, nach einer praktischen Lehrzeit als Pharmazeut in Lübeck, seine Universitätsstudien in Kiel. Und noch als Frau Wilhelmine Buchholz deu Namen des Berliner Schriftstellers längst über Deutschlands Grenzen hinausgetragen hatte, Pflegte der Doktor Julius Stinte alljährlich deu größten Teil seiner Sommerfrische in dem im östlichen Holstein gelegenen bescheidenen Kirchdorf Lensayn zuzubringen. Dort ruhte» a»f den, Friedhofe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/524>, abgerufen am 23.07.2024.