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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Julius Stinte

Laufe des verflossenen Jahrzehnts gefunden haben, ist aber auch fast unbe¬
greiflich und gehört zu den Aufsehen erregenden Erscheinungen in der Geschichte
des deutscheu Büchermarktes. So oft mir ein neues Buch des mir persönlich
bekannten Humoristen zu Händen kommt, blättere ich nach hinten und zähle
in dem von der Verlagshandlung angehefteten Reklameteile die Auflagen zu¬
sammen, die die in Buchform erschienenen Buchholzschriften erlebt haben. Heute
finde ich insgesamt nicht weniger als zweihundertundfünfzig, sage und schreibe
zwcihundertnndfünfzig Auflagen. Woher dieser Erfolg?

Einen Teil des Geheimnisses enthüllt Stinte uns selbst. "Wer ein
Vorhaben erreichen will -- so leitet er eine jener reichshauptstädtischen
Humoresken ein --, muß nicht nur den rechten Augenblick erwählen, sondern
auch feste zufassen; das weiß selbst eine vernunftlose Mausefalle, denn Ver¬
lorenes kehrt nicht wieder."

Mit diesem Satze echt Stindisch zum Ausdruck gelangter Lebensphilosophie
hat es seine Nichtigkeit. Denn jene in Hunderttausenden von Exemplaren
erschienenen, von Band zu Band weitergesponnenen Erzählungen, die Stindes
Namen trotz mannichfacher früherer Erzeugnisse seiner Feder erst recht eigentlich
bekannt gemacht haben, verdanken ein gutes Teil ihrer Volkstümlichkeit dem
richtig erwogenen Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung. Bor zwanzig Jahren noch
würden sie vielleicht nur die Bewohner der Preußischen Hauptstadt und der
umliegenden alten Stammprovinzen interessirt haben, im übrigen Deutschland
aber oder gar über dessen Grenzen hinaus kaum auf Entgegenkommen gestoßen
sein. Denn um Berliner Skizzen und Lebensbildern, die heute das Feuilleton
deutscher Tageszeitungen überfluten, den Weg ins große Publikum zu bahnen,
mußte diese Stadt sich erst zu dem ausgebildet haben, was sie seit dem Beginn
des vorigen Jahrzehnts ist: die Hauptstadt des neuen deutschen Kaiserreiches,
nicht nur dem Namen, sondern auch dem Wesen nach, die Stadt, auf die sich
die Blicke der Nation von allen Punkten richten. Berlin und Berliner Leben
mußten erst typisch geworden und dieser Typus in den entferntesten Winkeln
des Reiches bekannt sein, das Interesse um allem, was sich in der deutschen
Hauptstadt regte und bewegte, von der Person des Kaisers bis zum Droschken¬
kutscher und Schusterjungen herab, mußte dem Deutschen in Fleisch und Blut
übergegangen sein: dann erst -- aber auch nicht später, wenn nicht andre
zuvor den Rahm abschöpfen sollten -- war für den Dichter der "Hamburger
Leiden" der richtige Zeitpunkt gekommen, um seiner humoristischem Feder ein
neues Gebiet zu erobern.

Diesen Augenblick hat Stinte nicht verpaßt. Praktisch, wie er durch und
durch ist, that er einen Schritt zur rechten Zeit, als er im Jahre 1876 von
Hamburg nach Berlin übersiedelte. Das Studium des Volkslebens am Elbe¬
strand hatte er erschöpft; seine gelungensten Lokalpossen hatten das Zwerchfell
des Publikums vor der Bühne des Schultze-Theaters erschüttert. Zur Aus-


Julius Stinte

Laufe des verflossenen Jahrzehnts gefunden haben, ist aber auch fast unbe¬
greiflich und gehört zu den Aufsehen erregenden Erscheinungen in der Geschichte
des deutscheu Büchermarktes. So oft mir ein neues Buch des mir persönlich
bekannten Humoristen zu Händen kommt, blättere ich nach hinten und zähle
in dem von der Verlagshandlung angehefteten Reklameteile die Auflagen zu¬
sammen, die die in Buchform erschienenen Buchholzschriften erlebt haben. Heute
finde ich insgesamt nicht weniger als zweihundertundfünfzig, sage und schreibe
zwcihundertnndfünfzig Auflagen. Woher dieser Erfolg?

Einen Teil des Geheimnisses enthüllt Stinte uns selbst. „Wer ein
Vorhaben erreichen will — so leitet er eine jener reichshauptstädtischen
Humoresken ein —, muß nicht nur den rechten Augenblick erwählen, sondern
auch feste zufassen; das weiß selbst eine vernunftlose Mausefalle, denn Ver¬
lorenes kehrt nicht wieder."

Mit diesem Satze echt Stindisch zum Ausdruck gelangter Lebensphilosophie
hat es seine Nichtigkeit. Denn jene in Hunderttausenden von Exemplaren
erschienenen, von Band zu Band weitergesponnenen Erzählungen, die Stindes
Namen trotz mannichfacher früherer Erzeugnisse seiner Feder erst recht eigentlich
bekannt gemacht haben, verdanken ein gutes Teil ihrer Volkstümlichkeit dem
richtig erwogenen Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung. Bor zwanzig Jahren noch
würden sie vielleicht nur die Bewohner der Preußischen Hauptstadt und der
umliegenden alten Stammprovinzen interessirt haben, im übrigen Deutschland
aber oder gar über dessen Grenzen hinaus kaum auf Entgegenkommen gestoßen
sein. Denn um Berliner Skizzen und Lebensbildern, die heute das Feuilleton
deutscher Tageszeitungen überfluten, den Weg ins große Publikum zu bahnen,
mußte diese Stadt sich erst zu dem ausgebildet haben, was sie seit dem Beginn
des vorigen Jahrzehnts ist: die Hauptstadt des neuen deutschen Kaiserreiches,
nicht nur dem Namen, sondern auch dem Wesen nach, die Stadt, auf die sich
die Blicke der Nation von allen Punkten richten. Berlin und Berliner Leben
mußten erst typisch geworden und dieser Typus in den entferntesten Winkeln
des Reiches bekannt sein, das Interesse um allem, was sich in der deutschen
Hauptstadt regte und bewegte, von der Person des Kaisers bis zum Droschken¬
kutscher und Schusterjungen herab, mußte dem Deutschen in Fleisch und Blut
übergegangen sein: dann erst — aber auch nicht später, wenn nicht andre
zuvor den Rahm abschöpfen sollten — war für den Dichter der „Hamburger
Leiden" der richtige Zeitpunkt gekommen, um seiner humoristischem Feder ein
neues Gebiet zu erobern.

Diesen Augenblick hat Stinte nicht verpaßt. Praktisch, wie er durch und
durch ist, that er einen Schritt zur rechten Zeit, als er im Jahre 1876 von
Hamburg nach Berlin übersiedelte. Das Studium des Volkslebens am Elbe¬
strand hatte er erschöpft; seine gelungensten Lokalpossen hatten das Zwerchfell
des Publikums vor der Bühne des Schultze-Theaters erschüttert. Zur Aus-


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[0522] Julius Stinte Laufe des verflossenen Jahrzehnts gefunden haben, ist aber auch fast unbe¬ greiflich und gehört zu den Aufsehen erregenden Erscheinungen in der Geschichte des deutscheu Büchermarktes. So oft mir ein neues Buch des mir persönlich bekannten Humoristen zu Händen kommt, blättere ich nach hinten und zähle in dem von der Verlagshandlung angehefteten Reklameteile die Auflagen zu¬ sammen, die die in Buchform erschienenen Buchholzschriften erlebt haben. Heute finde ich insgesamt nicht weniger als zweihundertundfünfzig, sage und schreibe zwcihundertnndfünfzig Auflagen. Woher dieser Erfolg? Einen Teil des Geheimnisses enthüllt Stinte uns selbst. „Wer ein Vorhaben erreichen will — so leitet er eine jener reichshauptstädtischen Humoresken ein —, muß nicht nur den rechten Augenblick erwählen, sondern auch feste zufassen; das weiß selbst eine vernunftlose Mausefalle, denn Ver¬ lorenes kehrt nicht wieder." Mit diesem Satze echt Stindisch zum Ausdruck gelangter Lebensphilosophie hat es seine Nichtigkeit. Denn jene in Hunderttausenden von Exemplaren erschienenen, von Band zu Band weitergesponnenen Erzählungen, die Stindes Namen trotz mannichfacher früherer Erzeugnisse seiner Feder erst recht eigentlich bekannt gemacht haben, verdanken ein gutes Teil ihrer Volkstümlichkeit dem richtig erwogenen Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung. Bor zwanzig Jahren noch würden sie vielleicht nur die Bewohner der Preußischen Hauptstadt und der umliegenden alten Stammprovinzen interessirt haben, im übrigen Deutschland aber oder gar über dessen Grenzen hinaus kaum auf Entgegenkommen gestoßen sein. Denn um Berliner Skizzen und Lebensbildern, die heute das Feuilleton deutscher Tageszeitungen überfluten, den Weg ins große Publikum zu bahnen, mußte diese Stadt sich erst zu dem ausgebildet haben, was sie seit dem Beginn des vorigen Jahrzehnts ist: die Hauptstadt des neuen deutschen Kaiserreiches, nicht nur dem Namen, sondern auch dem Wesen nach, die Stadt, auf die sich die Blicke der Nation von allen Punkten richten. Berlin und Berliner Leben mußten erst typisch geworden und dieser Typus in den entferntesten Winkeln des Reiches bekannt sein, das Interesse um allem, was sich in der deutschen Hauptstadt regte und bewegte, von der Person des Kaisers bis zum Droschken¬ kutscher und Schusterjungen herab, mußte dem Deutschen in Fleisch und Blut übergegangen sein: dann erst — aber auch nicht später, wenn nicht andre zuvor den Rahm abschöpfen sollten — war für den Dichter der „Hamburger Leiden" der richtige Zeitpunkt gekommen, um seiner humoristischem Feder ein neues Gebiet zu erobern. Diesen Augenblick hat Stinte nicht verpaßt. Praktisch, wie er durch und durch ist, that er einen Schritt zur rechten Zeit, als er im Jahre 1876 von Hamburg nach Berlin übersiedelte. Das Studium des Volkslebens am Elbe¬ strand hatte er erschöpft; seine gelungensten Lokalpossen hatten das Zwerchfell des Publikums vor der Bühne des Schultze-Theaters erschüttert. Zur Aus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/522>, abgerufen am 23.07.2024.