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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Das öffentliche Unterstützungswesen in Llsaß-Lothringen

Dieses gründet sich auf die auf freier Liebesthütigkeit beruhende Anstalts¬
pflege, die den Hauptbestandteil aller Unterstützungen im Mittelalter bildete.
Die viele" barmherzigen Anstalten, wie Kranken- und Siechenhäuser, die
unzähligen Orden und geistlichen Genossenschaften bildeten damals die eigent¬
lichen und einzigen Träger einer halbwegs geordneten Armenpflege. Während
diesem Zustande in den protestantischen Ländern mit der Entziehung seiner
Grundlage ein natürliches Ende bereitet wurde, hat es sich in dem katholischen
Frankreich mit Leichtigkeit erhalten können, wenngleich auch hier die Anstalts¬
pflege ihren stiftungsmäßigen Charakter allmählich abstreifen mußte. Infolge
der Überhandnähme des Vettelunwesens, gegen das alle Bettelverbote nutzlos
blieben, konnte sich der Staat der Überzeugung nicht mehr verschließen, daß
er auch seinerseits für die Beseitigung der Not die erforderliche Fürsorge
treffen müsse, und er suchte die Aufgabe zu erfüllen, nicht indem er das Unter-
stütznngswescn auf eine neue Grundlage zu stellen versuchte, sondern indem er
sich damit begnügte, an die bestehenden der Armenpflege dienenden Anstalten
die revrganisirende Hand zu legen. Er erhob die Spitäler zu den fast aus¬
schließlichen Trügern der Armenfürsorge, entkleidete sie aber gleichzeitig ihres
geistlichen Charakters und wandelte sie in bürgerliche Anstalten um, indem er
die Verwaltung bürgerlichen Organen übertrug und sie gleichmäßigem vom
Staate aufgestellten Regeln unterwarf. In dieser Entwicklung, zu deren Voll¬
endung noch Anstalten der verschiedensten Art ins Leben gerufen wurden, wie
die im Jahre 1740 vom Parlament zu Paris verfügte Einsetzung von Armen¬
räten und die im Jahre 1774 geschaffenen Bettlerdepvts, brach der Sturm
der Revolution über Frankreich herein und warf anch auf diesem Gebiete alle
bestehenden Einrichtungen über den Haufen. In der Erklärung der Menschen¬
rechte wurde die öffentliche Unterstützung der Armen für eine geheiligte Schuld
der Nation erklärt. Für die Arbeitsfähigen sollten in sämtlichen Städten
Werkstätten offen stehen, wo sie jederzeit Arbeit fänden, die Arbeitsunfähigen
sollten in das "Buch der öffentlichen Wohlthätigkeit" eingetragen werden und
eine "Pension" erhalten. Diese Naivität, die zur Folge hatte, daß die be¬
stehenden Wohlthätigkeitsanstalten für überflüssig erachtet, zum National¬
eigentum erklärt und zum Verkauf bestimmt wurden, war zwar nach wenigen
Jahren schon überwunden, da das Elend sehr überHand nahm, nachdem die
bisherigen Träger der Armenpflege beseitigt waren, ohne daß thatsächlich ein
Ersatz geschaffen worden war. Doch war schon weit über die Hälfte der
Spitäler veräußert, als die Regierung an ihre Wiederherstellung und eine
praktische Neuordnung des Unterstützungswesens hinantrat. Nachdem die Frage
des Unterstützungswvhnsitzcs durch das Gesetz vom 24. vöuäönüg.irs II ihre Re¬
gelung gefunden hatte, wurde in kurz aufeinanderfolgenden Gesetzen, unter
denen die vom 16. vsnä. und 7. drin. V als grundlegend zu erachten sind,
die geschlossene und offene Armenpflege einer Reorganisation unterzogen. Diese


Das öffentliche Unterstützungswesen in Llsaß-Lothringen

Dieses gründet sich auf die auf freier Liebesthütigkeit beruhende Anstalts¬
pflege, die den Hauptbestandteil aller Unterstützungen im Mittelalter bildete.
Die viele» barmherzigen Anstalten, wie Kranken- und Siechenhäuser, die
unzähligen Orden und geistlichen Genossenschaften bildeten damals die eigent¬
lichen und einzigen Träger einer halbwegs geordneten Armenpflege. Während
diesem Zustande in den protestantischen Ländern mit der Entziehung seiner
Grundlage ein natürliches Ende bereitet wurde, hat es sich in dem katholischen
Frankreich mit Leichtigkeit erhalten können, wenngleich auch hier die Anstalts¬
pflege ihren stiftungsmäßigen Charakter allmählich abstreifen mußte. Infolge
der Überhandnähme des Vettelunwesens, gegen das alle Bettelverbote nutzlos
blieben, konnte sich der Staat der Überzeugung nicht mehr verschließen, daß
er auch seinerseits für die Beseitigung der Not die erforderliche Fürsorge
treffen müsse, und er suchte die Aufgabe zu erfüllen, nicht indem er das Unter-
stütznngswescn auf eine neue Grundlage zu stellen versuchte, sondern indem er
sich damit begnügte, an die bestehenden der Armenpflege dienenden Anstalten
die revrganisirende Hand zu legen. Er erhob die Spitäler zu den fast aus¬
schließlichen Trügern der Armenfürsorge, entkleidete sie aber gleichzeitig ihres
geistlichen Charakters und wandelte sie in bürgerliche Anstalten um, indem er
die Verwaltung bürgerlichen Organen übertrug und sie gleichmäßigem vom
Staate aufgestellten Regeln unterwarf. In dieser Entwicklung, zu deren Voll¬
endung noch Anstalten der verschiedensten Art ins Leben gerufen wurden, wie
die im Jahre 1740 vom Parlament zu Paris verfügte Einsetzung von Armen¬
räten und die im Jahre 1774 geschaffenen Bettlerdepvts, brach der Sturm
der Revolution über Frankreich herein und warf anch auf diesem Gebiete alle
bestehenden Einrichtungen über den Haufen. In der Erklärung der Menschen¬
rechte wurde die öffentliche Unterstützung der Armen für eine geheiligte Schuld
der Nation erklärt. Für die Arbeitsfähigen sollten in sämtlichen Städten
Werkstätten offen stehen, wo sie jederzeit Arbeit fänden, die Arbeitsunfähigen
sollten in das „Buch der öffentlichen Wohlthätigkeit" eingetragen werden und
eine „Pension" erhalten. Diese Naivität, die zur Folge hatte, daß die be¬
stehenden Wohlthätigkeitsanstalten für überflüssig erachtet, zum National¬
eigentum erklärt und zum Verkauf bestimmt wurden, war zwar nach wenigen
Jahren schon überwunden, da das Elend sehr überHand nahm, nachdem die
bisherigen Träger der Armenpflege beseitigt waren, ohne daß thatsächlich ein
Ersatz geschaffen worden war. Doch war schon weit über die Hälfte der
Spitäler veräußert, als die Regierung an ihre Wiederherstellung und eine
praktische Neuordnung des Unterstützungswesens hinantrat. Nachdem die Frage
des Unterstützungswvhnsitzcs durch das Gesetz vom 24. vöuäönüg.irs II ihre Re¬
gelung gefunden hatte, wurde in kurz aufeinanderfolgenden Gesetzen, unter
denen die vom 16. vsnä. und 7. drin. V als grundlegend zu erachten sind,
die geschlossene und offene Armenpflege einer Reorganisation unterzogen. Diese


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[0514] Das öffentliche Unterstützungswesen in Llsaß-Lothringen Dieses gründet sich auf die auf freier Liebesthütigkeit beruhende Anstalts¬ pflege, die den Hauptbestandteil aller Unterstützungen im Mittelalter bildete. Die viele» barmherzigen Anstalten, wie Kranken- und Siechenhäuser, die unzähligen Orden und geistlichen Genossenschaften bildeten damals die eigent¬ lichen und einzigen Träger einer halbwegs geordneten Armenpflege. Während diesem Zustande in den protestantischen Ländern mit der Entziehung seiner Grundlage ein natürliches Ende bereitet wurde, hat es sich in dem katholischen Frankreich mit Leichtigkeit erhalten können, wenngleich auch hier die Anstalts¬ pflege ihren stiftungsmäßigen Charakter allmählich abstreifen mußte. Infolge der Überhandnähme des Vettelunwesens, gegen das alle Bettelverbote nutzlos blieben, konnte sich der Staat der Überzeugung nicht mehr verschließen, daß er auch seinerseits für die Beseitigung der Not die erforderliche Fürsorge treffen müsse, und er suchte die Aufgabe zu erfüllen, nicht indem er das Unter- stütznngswescn auf eine neue Grundlage zu stellen versuchte, sondern indem er sich damit begnügte, an die bestehenden der Armenpflege dienenden Anstalten die revrganisirende Hand zu legen. Er erhob die Spitäler zu den fast aus¬ schließlichen Trügern der Armenfürsorge, entkleidete sie aber gleichzeitig ihres geistlichen Charakters und wandelte sie in bürgerliche Anstalten um, indem er die Verwaltung bürgerlichen Organen übertrug und sie gleichmäßigem vom Staate aufgestellten Regeln unterwarf. In dieser Entwicklung, zu deren Voll¬ endung noch Anstalten der verschiedensten Art ins Leben gerufen wurden, wie die im Jahre 1740 vom Parlament zu Paris verfügte Einsetzung von Armen¬ räten und die im Jahre 1774 geschaffenen Bettlerdepvts, brach der Sturm der Revolution über Frankreich herein und warf anch auf diesem Gebiete alle bestehenden Einrichtungen über den Haufen. In der Erklärung der Menschen¬ rechte wurde die öffentliche Unterstützung der Armen für eine geheiligte Schuld der Nation erklärt. Für die Arbeitsfähigen sollten in sämtlichen Städten Werkstätten offen stehen, wo sie jederzeit Arbeit fänden, die Arbeitsunfähigen sollten in das „Buch der öffentlichen Wohlthätigkeit" eingetragen werden und eine „Pension" erhalten. Diese Naivität, die zur Folge hatte, daß die be¬ stehenden Wohlthätigkeitsanstalten für überflüssig erachtet, zum National¬ eigentum erklärt und zum Verkauf bestimmt wurden, war zwar nach wenigen Jahren schon überwunden, da das Elend sehr überHand nahm, nachdem die bisherigen Träger der Armenpflege beseitigt waren, ohne daß thatsächlich ein Ersatz geschaffen worden war. Doch war schon weit über die Hälfte der Spitäler veräußert, als die Regierung an ihre Wiederherstellung und eine praktische Neuordnung des Unterstützungswesens hinantrat. Nachdem die Frage des Unterstützungswvhnsitzcs durch das Gesetz vom 24. vöuäönüg.irs II ihre Re¬ gelung gefunden hatte, wurde in kurz aufeinanderfolgenden Gesetzen, unter denen die vom 16. vsnä. und 7. drin. V als grundlegend zu erachten sind, die geschlossene und offene Armenpflege einer Reorganisation unterzogen. Diese

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/514>, abgerufen am 23.07.2024.