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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Der Kampf mit geistigen Waffen gegen die Sozialdemokratie

auszugleichen," für die Mittelklasse vielfach ein Herabdrücken bewirkt, wie
es die Sozialisten gerade wünschen, die auch die den Arbeitern nnchst-
stehenden Schichten zu Proletariern stempeln möchten. In dieser Hinsicht ist
es bezeichnend, daß die Sozialdemokraten in letzter Zeit für ihre Propaganda
ihr Augenmerk besonders auf die Handlungsgehilfen und -Gehilfinnen, Musiker,
Kellner, Schlächter u. s. w. gerichtet haben, d, h. auf solche Berufe, die bisher
mit dem Gros der Arbeiter nicht recht gemeinsame Sache machen wollten;
es ist bemerkenswert, daß sie hierbei keine leichten und schnellen Erfolge hatten:
die Handlungsgehilfen dünken sich mehr zu sein als die "Arbeiter," sie weisen
die Bezeichnung "Proletarier" zurück, die sozialdemokratischen Arbeiterinnen
klagen über den "Dünkel" vieler Kolleginnen, die, weil sie es etwas besser
haben und "mehr verdienen," sich für zu gut halten, sich mit ihnen einzulassen,
und "der Kleinkaufmannsstand, genau so wie das Kleinbürgertum der ganzen
Welt, ist zu verbohrt in seinen kleinlichen Klassenvornrteilen" (Volksblatt,
14. November). Vorsicht ist jedenfalls angebracht, daß man in dem Bemühen,
die "Arbeiter" zu Freunden des Staates zu machen, nicht einen neuen Feind
großzieht. Übrigens brauchen die Übelstände, die Mißvergnügte machen,
durchaus nicht immer und allezeit sehr groß zu sein, zuweilen drückt nicht der
ganze Schuh, sodaß er weggeworfen werden müßte, sondern nur eine Stelle,
die einer verhältnismäßig unbedeutenden Ausbesserung bedarf; "uns Deutschen
allzumal steckt nun einmal die unausrottbare Neigung zum Geuemlisireu,
Theoretisiren, zur möglichst prinzipiellen, philosophischen, tiefsinnigen Auffassung
aller Dinge im Blute." Ein Artikel der "Nation" erwähnte die Kommissare
Friedrichs des Großen, die die Provinzen bereisten, um alle Verhältnisse zu
beobachte" und mit Rücksicht ans die Notwendigkeit von Verbesserungen zu
prüfen. Manches könnte sicher auf dem Wege der Verwaltung statt auf dem
der papierener Gesetzgebung gebessert werden. So haben z. B. selbst Gegner
anerkannt, daß gewisse Mißstände im Bäckergewerbe auf Grund von Bebels
Bäckerenqnete vorhanden sind. So sind auch die Lokalnachrichten oder die
Vermischten Neuigkeiten oder die "Eingesandt" der Tagesblätter oft lehrreicher
als pompöse Leitartikel; es berührt doch seltsam, wenn z. B. Zeitungen mit
vielen Tausenden von Abonnenten jahraus jahrein dieselben kleinen und nicht
unberechtigten Beschwerden enthalten, die ohne großen Aufwand sehr wohl
zu erledigen wären, und wenn die ständige Antwort der Redaktion erfolgt,
daß sie dieselbe Sache schon oft vergeblich angeregt habe. Oder giebt es
keine Behörden, die sich mit der Presse u. s. w. in dieser Beziehung be¬
schäftigen? Wir bemerken in diesem Zusammenhange, daß z. B. der junge
Theologe, der, um das Leben und Denken der Arbeiter zu studiren, in einer
Chemnitzer Fabrik eine Zeit lang selbst den Arbeitskittel getragen hatte, und
dessen Beschreibung seiner Erlebnisse kürzlich durch die Zeitungen ging, so
nachdrücklich wie möglich behauptete, "daß nach allen seineu Erfahrungen die


Der Kampf mit geistigen Waffen gegen die Sozialdemokratie

auszugleichen," für die Mittelklasse vielfach ein Herabdrücken bewirkt, wie
es die Sozialisten gerade wünschen, die auch die den Arbeitern nnchst-
stehenden Schichten zu Proletariern stempeln möchten. In dieser Hinsicht ist
es bezeichnend, daß die Sozialdemokraten in letzter Zeit für ihre Propaganda
ihr Augenmerk besonders auf die Handlungsgehilfen und -Gehilfinnen, Musiker,
Kellner, Schlächter u. s. w. gerichtet haben, d, h. auf solche Berufe, die bisher
mit dem Gros der Arbeiter nicht recht gemeinsame Sache machen wollten;
es ist bemerkenswert, daß sie hierbei keine leichten und schnellen Erfolge hatten:
die Handlungsgehilfen dünken sich mehr zu sein als die „Arbeiter," sie weisen
die Bezeichnung „Proletarier" zurück, die sozialdemokratischen Arbeiterinnen
klagen über den „Dünkel" vieler Kolleginnen, die, weil sie es etwas besser
haben und „mehr verdienen," sich für zu gut halten, sich mit ihnen einzulassen,
und „der Kleinkaufmannsstand, genau so wie das Kleinbürgertum der ganzen
Welt, ist zu verbohrt in seinen kleinlichen Klassenvornrteilen" (Volksblatt,
14. November). Vorsicht ist jedenfalls angebracht, daß man in dem Bemühen,
die „Arbeiter" zu Freunden des Staates zu machen, nicht einen neuen Feind
großzieht. Übrigens brauchen die Übelstände, die Mißvergnügte machen,
durchaus nicht immer und allezeit sehr groß zu sein, zuweilen drückt nicht der
ganze Schuh, sodaß er weggeworfen werden müßte, sondern nur eine Stelle,
die einer verhältnismäßig unbedeutenden Ausbesserung bedarf; „uns Deutschen
allzumal steckt nun einmal die unausrottbare Neigung zum Geuemlisireu,
Theoretisiren, zur möglichst prinzipiellen, philosophischen, tiefsinnigen Auffassung
aller Dinge im Blute." Ein Artikel der „Nation" erwähnte die Kommissare
Friedrichs des Großen, die die Provinzen bereisten, um alle Verhältnisse zu
beobachte» und mit Rücksicht ans die Notwendigkeit von Verbesserungen zu
prüfen. Manches könnte sicher auf dem Wege der Verwaltung statt auf dem
der papierener Gesetzgebung gebessert werden. So haben z. B. selbst Gegner
anerkannt, daß gewisse Mißstände im Bäckergewerbe auf Grund von Bebels
Bäckerenqnete vorhanden sind. So sind auch die Lokalnachrichten oder die
Vermischten Neuigkeiten oder die „Eingesandt" der Tagesblätter oft lehrreicher
als pompöse Leitartikel; es berührt doch seltsam, wenn z. B. Zeitungen mit
vielen Tausenden von Abonnenten jahraus jahrein dieselben kleinen und nicht
unberechtigten Beschwerden enthalten, die ohne großen Aufwand sehr wohl
zu erledigen wären, und wenn die ständige Antwort der Redaktion erfolgt,
daß sie dieselbe Sache schon oft vergeblich angeregt habe. Oder giebt es
keine Behörden, die sich mit der Presse u. s. w. in dieser Beziehung be¬
schäftigen? Wir bemerken in diesem Zusammenhange, daß z. B. der junge
Theologe, der, um das Leben und Denken der Arbeiter zu studiren, in einer
Chemnitzer Fabrik eine Zeit lang selbst den Arbeitskittel getragen hatte, und
dessen Beschreibung seiner Erlebnisse kürzlich durch die Zeitungen ging, so
nachdrücklich wie möglich behauptete, „daß nach allen seineu Erfahrungen die


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[0507] Der Kampf mit geistigen Waffen gegen die Sozialdemokratie auszugleichen," für die Mittelklasse vielfach ein Herabdrücken bewirkt, wie es die Sozialisten gerade wünschen, die auch die den Arbeitern nnchst- stehenden Schichten zu Proletariern stempeln möchten. In dieser Hinsicht ist es bezeichnend, daß die Sozialdemokraten in letzter Zeit für ihre Propaganda ihr Augenmerk besonders auf die Handlungsgehilfen und -Gehilfinnen, Musiker, Kellner, Schlächter u. s. w. gerichtet haben, d, h. auf solche Berufe, die bisher mit dem Gros der Arbeiter nicht recht gemeinsame Sache machen wollten; es ist bemerkenswert, daß sie hierbei keine leichten und schnellen Erfolge hatten: die Handlungsgehilfen dünken sich mehr zu sein als die „Arbeiter," sie weisen die Bezeichnung „Proletarier" zurück, die sozialdemokratischen Arbeiterinnen klagen über den „Dünkel" vieler Kolleginnen, die, weil sie es etwas besser haben und „mehr verdienen," sich für zu gut halten, sich mit ihnen einzulassen, und „der Kleinkaufmannsstand, genau so wie das Kleinbürgertum der ganzen Welt, ist zu verbohrt in seinen kleinlichen Klassenvornrteilen" (Volksblatt, 14. November). Vorsicht ist jedenfalls angebracht, daß man in dem Bemühen, die „Arbeiter" zu Freunden des Staates zu machen, nicht einen neuen Feind großzieht. Übrigens brauchen die Übelstände, die Mißvergnügte machen, durchaus nicht immer und allezeit sehr groß zu sein, zuweilen drückt nicht der ganze Schuh, sodaß er weggeworfen werden müßte, sondern nur eine Stelle, die einer verhältnismäßig unbedeutenden Ausbesserung bedarf; „uns Deutschen allzumal steckt nun einmal die unausrottbare Neigung zum Geuemlisireu, Theoretisiren, zur möglichst prinzipiellen, philosophischen, tiefsinnigen Auffassung aller Dinge im Blute." Ein Artikel der „Nation" erwähnte die Kommissare Friedrichs des Großen, die die Provinzen bereisten, um alle Verhältnisse zu beobachte» und mit Rücksicht ans die Notwendigkeit von Verbesserungen zu prüfen. Manches könnte sicher auf dem Wege der Verwaltung statt auf dem der papierener Gesetzgebung gebessert werden. So haben z. B. selbst Gegner anerkannt, daß gewisse Mißstände im Bäckergewerbe auf Grund von Bebels Bäckerenqnete vorhanden sind. So sind auch die Lokalnachrichten oder die Vermischten Neuigkeiten oder die „Eingesandt" der Tagesblätter oft lehrreicher als pompöse Leitartikel; es berührt doch seltsam, wenn z. B. Zeitungen mit vielen Tausenden von Abonnenten jahraus jahrein dieselben kleinen und nicht unberechtigten Beschwerden enthalten, die ohne großen Aufwand sehr wohl zu erledigen wären, und wenn die ständige Antwort der Redaktion erfolgt, daß sie dieselbe Sache schon oft vergeblich angeregt habe. Oder giebt es keine Behörden, die sich mit der Presse u. s. w. in dieser Beziehung be¬ schäftigen? Wir bemerken in diesem Zusammenhange, daß z. B. der junge Theologe, der, um das Leben und Denken der Arbeiter zu studiren, in einer Chemnitzer Fabrik eine Zeit lang selbst den Arbeitskittel getragen hatte, und dessen Beschreibung seiner Erlebnisse kürzlich durch die Zeitungen ging, so nachdrücklich wie möglich behauptete, „daß nach allen seineu Erfahrungen die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/507>, abgerufen am 25.08.2024.