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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Stückes, das in der That, wie die Aufführung gelehrt hat, auch trotz mancher
Säuberungen gegen die guten Sitten verstößt, eine Handlung von so geringer
Bedeutung, daß sie nicht einmal eine Opposition, eine Gegendemonstration
verlohnt?

Die eine, in erster Linie zuständige Behörde verbietet das Stück, wie wir
aus Achtung vor ihr glauben, aus wohl erwogenen Gründen, und die höhere
Behörde gestattet die Aufführung, wieder aus wohl erwogenen Gründen, und
sie hat Recht behalten, weil durch die Aufführung kein öffentliches Ärgernis
erregt worden ist und die durch die Presse vertretene öffentliche Meinung mit
Ausnahmen, die wenig oder gar nicht in Betracht kommen, das Schauspiel
von ästhetischen wie von moralischen Gesichtspunkten verurteilt hat. Aber der
Öffentlichkeit sind die Begründungen beider Behörden vorenthalten worden,
und das ist ein Fall, der neben vielen andern dazu beitragen muß, die Un¬
sicherheit des öffentlichen Urteils zu erhöhen. Es ist behauptet "ut nicht
amtlich widerlegt worden, daß der Berliner Polizeipräsident bei seinein Verbot
einer Weisung von höchster Stelle gefolgt sei, nach der nicht bloß der einzelne
Fall, sondern die ganze Richtung, die das Sudermannsche Schauspiel vertritt,
beurteilt werden sollte. Andre Erwägungen in Zwischeninstanzen sind an¬
scheinend zu der Meinung gelangt, daß diese Richtung es ist die natura¬
listische, die ihre Aufgabe in der wahrheitsgetreuer Schilderung des Lasters,
angeblich zu seiner Bekämpfung, sielü -- den Keim des Todes in sich trügt,
und daß sie um so schneller zu Grunde gehen wird, je mehr man ihr freien
Lauf läßt. Das ist eine Anschauung, die man gelten lassen kann, und die sich
auch bei den Aufführungen von "Sodoms Ende" als richtig erwiesen hat.
Aber während sich diese ohne aufregende Zwischenfälle um einander reihen,
meldet der "Reichsanzeiger," daß die zur Verteilung des Schillerpreises nieder¬
gesetzte Kommission ihre Entscheidung bis auf weiteres aufgeschoben habe,
und einige Zeitungen sind sogleich bei der Hand, Gründe dafür anzugeben.
Es soll sich in der Kommission eine starke Minderheit dafür ausgesprochen
haben, daß Sudermanns Schauspiel "Die Ehre" dasjenige Stück sei, das in
den letzten Jahren die stärksten und nachhaltigsten Erfolge errungen und die
öffentliche Meinung am lebhaftesten beschäftigt habe, und daß es demnach mit
dem Schillerpreise auszuzeichnen sei. Weil man sich nicht darüber einigen
konnte, sei die Zuerkennung des Preises hinausgeschoben worden. Gegen alles
Herkommen scheuen sich die Zeitungen nicht mehr, bei jeder Kleinigkeit die
Person des Kaisers in die Debatte hineinzuziehen, weil amtliche Widerlegungen
entweder gar nicht mehr erfolgen oder so lange hinausgezogen werden, daß
sich schließlich niemand mehr erinnern kann, wer eigentlich der Betroffene ist,
gegen wen sich die Berichtigung wendet. Es wird jetzt weiter verbreitet, daß
der Kaiser sich nicht dazu entschließen könne, das Lessingtheater zu besuchen
und sich durch eigne Anschauung ein Urteil über das Sudermannsche Schau-


Stückes, das in der That, wie die Aufführung gelehrt hat, auch trotz mancher
Säuberungen gegen die guten Sitten verstößt, eine Handlung von so geringer
Bedeutung, daß sie nicht einmal eine Opposition, eine Gegendemonstration
verlohnt?

Die eine, in erster Linie zuständige Behörde verbietet das Stück, wie wir
aus Achtung vor ihr glauben, aus wohl erwogenen Gründen, und die höhere
Behörde gestattet die Aufführung, wieder aus wohl erwogenen Gründen, und
sie hat Recht behalten, weil durch die Aufführung kein öffentliches Ärgernis
erregt worden ist und die durch die Presse vertretene öffentliche Meinung mit
Ausnahmen, die wenig oder gar nicht in Betracht kommen, das Schauspiel
von ästhetischen wie von moralischen Gesichtspunkten verurteilt hat. Aber der
Öffentlichkeit sind die Begründungen beider Behörden vorenthalten worden,
und das ist ein Fall, der neben vielen andern dazu beitragen muß, die Un¬
sicherheit des öffentlichen Urteils zu erhöhen. Es ist behauptet »ut nicht
amtlich widerlegt worden, daß der Berliner Polizeipräsident bei seinein Verbot
einer Weisung von höchster Stelle gefolgt sei, nach der nicht bloß der einzelne
Fall, sondern die ganze Richtung, die das Sudermannsche Schauspiel vertritt,
beurteilt werden sollte. Andre Erwägungen in Zwischeninstanzen sind an¬
scheinend zu der Meinung gelangt, daß diese Richtung es ist die natura¬
listische, die ihre Aufgabe in der wahrheitsgetreuer Schilderung des Lasters,
angeblich zu seiner Bekämpfung, sielü — den Keim des Todes in sich trügt,
und daß sie um so schneller zu Grunde gehen wird, je mehr man ihr freien
Lauf läßt. Das ist eine Anschauung, die man gelten lassen kann, und die sich
auch bei den Aufführungen von „Sodoms Ende" als richtig erwiesen hat.
Aber während sich diese ohne aufregende Zwischenfälle um einander reihen,
meldet der „Reichsanzeiger," daß die zur Verteilung des Schillerpreises nieder¬
gesetzte Kommission ihre Entscheidung bis auf weiteres aufgeschoben habe,
und einige Zeitungen sind sogleich bei der Hand, Gründe dafür anzugeben.
Es soll sich in der Kommission eine starke Minderheit dafür ausgesprochen
haben, daß Sudermanns Schauspiel „Die Ehre" dasjenige Stück sei, das in
den letzten Jahren die stärksten und nachhaltigsten Erfolge errungen und die
öffentliche Meinung am lebhaftesten beschäftigt habe, und daß es demnach mit
dem Schillerpreise auszuzeichnen sei. Weil man sich nicht darüber einigen
konnte, sei die Zuerkennung des Preises hinausgeschoben worden. Gegen alles
Herkommen scheuen sich die Zeitungen nicht mehr, bei jeder Kleinigkeit die
Person des Kaisers in die Debatte hineinzuziehen, weil amtliche Widerlegungen
entweder gar nicht mehr erfolgen oder so lange hinausgezogen werden, daß
sich schließlich niemand mehr erinnern kann, wer eigentlich der Betroffene ist,
gegen wen sich die Berichtigung wendet. Es wird jetzt weiter verbreitet, daß
der Kaiser sich nicht dazu entschließen könne, das Lessingtheater zu besuchen
und sich durch eigne Anschauung ein Urteil über das Sudermannsche Schau-


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[0423] Stückes, das in der That, wie die Aufführung gelehrt hat, auch trotz mancher Säuberungen gegen die guten Sitten verstößt, eine Handlung von so geringer Bedeutung, daß sie nicht einmal eine Opposition, eine Gegendemonstration verlohnt? Die eine, in erster Linie zuständige Behörde verbietet das Stück, wie wir aus Achtung vor ihr glauben, aus wohl erwogenen Gründen, und die höhere Behörde gestattet die Aufführung, wieder aus wohl erwogenen Gründen, und sie hat Recht behalten, weil durch die Aufführung kein öffentliches Ärgernis erregt worden ist und die durch die Presse vertretene öffentliche Meinung mit Ausnahmen, die wenig oder gar nicht in Betracht kommen, das Schauspiel von ästhetischen wie von moralischen Gesichtspunkten verurteilt hat. Aber der Öffentlichkeit sind die Begründungen beider Behörden vorenthalten worden, und das ist ein Fall, der neben vielen andern dazu beitragen muß, die Un¬ sicherheit des öffentlichen Urteils zu erhöhen. Es ist behauptet »ut nicht amtlich widerlegt worden, daß der Berliner Polizeipräsident bei seinein Verbot einer Weisung von höchster Stelle gefolgt sei, nach der nicht bloß der einzelne Fall, sondern die ganze Richtung, die das Sudermannsche Schauspiel vertritt, beurteilt werden sollte. Andre Erwägungen in Zwischeninstanzen sind an¬ scheinend zu der Meinung gelangt, daß diese Richtung es ist die natura¬ listische, die ihre Aufgabe in der wahrheitsgetreuer Schilderung des Lasters, angeblich zu seiner Bekämpfung, sielü — den Keim des Todes in sich trügt, und daß sie um so schneller zu Grunde gehen wird, je mehr man ihr freien Lauf läßt. Das ist eine Anschauung, die man gelten lassen kann, und die sich auch bei den Aufführungen von „Sodoms Ende" als richtig erwiesen hat. Aber während sich diese ohne aufregende Zwischenfälle um einander reihen, meldet der „Reichsanzeiger," daß die zur Verteilung des Schillerpreises nieder¬ gesetzte Kommission ihre Entscheidung bis auf weiteres aufgeschoben habe, und einige Zeitungen sind sogleich bei der Hand, Gründe dafür anzugeben. Es soll sich in der Kommission eine starke Minderheit dafür ausgesprochen haben, daß Sudermanns Schauspiel „Die Ehre" dasjenige Stück sei, das in den letzten Jahren die stärksten und nachhaltigsten Erfolge errungen und die öffentliche Meinung am lebhaftesten beschäftigt habe, und daß es demnach mit dem Schillerpreise auszuzeichnen sei. Weil man sich nicht darüber einigen konnte, sei die Zuerkennung des Preises hinausgeschoben worden. Gegen alles Herkommen scheuen sich die Zeitungen nicht mehr, bei jeder Kleinigkeit die Person des Kaisers in die Debatte hineinzuziehen, weil amtliche Widerlegungen entweder gar nicht mehr erfolgen oder so lange hinausgezogen werden, daß sich schließlich niemand mehr erinnern kann, wer eigentlich der Betroffene ist, gegen wen sich die Berichtigung wendet. Es wird jetzt weiter verbreitet, daß der Kaiser sich nicht dazu entschließen könne, das Lessingtheater zu besuchen und sich durch eigne Anschauung ein Urteil über das Sudermannsche Schau-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/423>, abgerufen am 23.07.2024.