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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Die Kunstausstellungen in München und Dresden

Auch aus dieser lückenhaften und im großen und ganzen wenig beweis¬
kräftigen Ausstellung gewinnt man die Überzeugung, daß die höchste und feinste
Entwicklung des Farbensinnes -- trotz der geheimnisvollen Experimente in
den Hexenküchen der internationalen Ateliers in Paris -- nach wie vor bei
den Italienern zu finden ist. Die Spanier rechnen wir zu ihnen, weil die
Mehrzahl der spanischen Maler, die in den letzten Jahren aus mitteleuropäischen
Ausstellungen unsre Aufmerksamkeit erregt haben, in Rom ihre Bildung voll¬
endet und dort ihren Wohnsitz behalten haben. Mit ihren klassischen Vor¬
fahren haben die modernen italienischen Maler keinen äußern Zusammenhang.
Sie malen keine Heiligen- und Altarbilder, weil die alten Kirchen damit über¬
füllt sind, weil neue Kirchen nicht gebaut werden, da keine nötig sind, ein
moderner Heiligenmalcr also verhungern würde. Sie malen auch nur wenig
in großem Stil, weil auch dafür nur selten ein Bedürfnis vorliegt, und wenn
sie Bildwerke für monumentale Zwecke, öffentliche Denkmäler schaffen, werden
es nur Vergrößerungen kleiner Naturstudien, in denen die unruhige Lebendig¬
keit des ersten Entwurfes in allen Ecken und Enden, in allen Lappen und
Fetzen nachklingt. Aber in einem haben sie doch den Zusammenhang mit ihren
Voreltern lebendig erhalten: sie gucken nicht über ihre Schultern hinweg nach
dem französischen Nachbar, nicht nach Holland, England und Schottland, nicht
nach dein Münchner Naturalismus und der panslawistischen Brutalität, sondern
geradeaus, auf das Volksleben, das sich vor ihren Augen in der geschäftigen
Munterkeit und in der alle Sorgen und Kümmernisse des Einzeldaseins ver¬
schluckenden und übertünchenden Heiterkeit des allgemeinen öffentlichen Lebens
abspielt, das vor Jahrhunderten dasselbe gewesen ist wie heute. Damals war
es die Gevatterschaft der heiligen Familie, der Apostel und der lieben Heiligen,
die liebevolle und die abgeneigte, hente sind es die neapolitanischen Lazzaroni,
die Bettler auf der Piazza ti Spngna in Rom und die Wegelagerer am
Lung' Arno und auf der Riva dei Schiavoni. Die Grundlage der Kunst ist
trotz der veränderten Bedürfnisse dieselbe geblieben, und jede Kunst ist gesund
im Lebensmark, die in ihrem Volke wurzelt.

Das sollten sich die Belgier und die Holländer gesagt sein lassen, die
eine Kunstüberlieferung haben wie kein zweites Volk außer den Italienern.
Aber die Mehrzahl ihrer Maler folgt, wenn die Münchner Ausstellung den
richtigen Maßstab zur Beurteilung bietet, der Lockpfeife des Naturalismus und
sieht die höchsten Aufgaben ihrer Kunst in der naturgroßen Wiedergabe ver¬
kommener Proletarier, mißvergnügter Arbeiter und stumpfsinniger Spittelweiber.
Oder haben sich auch hier die Naturalisten unverhältnismäßig vorgedrängt,
weil sie wissen, daß in München ihr Weizen blüht, und so das wirkliche
Antlitz der belgischen und holländischen Kunst zur Grimasse verkehrt? Jeden¬
falls ist auch in Belgien der Naturalismus kein einheimisches Gewächs, auch
keines, das auf empfänglichen Boden trifft, sondern französischer Import, wobei


Grenzboten IV 1890 47
Die Kunstausstellungen in München und Dresden

Auch aus dieser lückenhaften und im großen und ganzen wenig beweis¬
kräftigen Ausstellung gewinnt man die Überzeugung, daß die höchste und feinste
Entwicklung des Farbensinnes — trotz der geheimnisvollen Experimente in
den Hexenküchen der internationalen Ateliers in Paris — nach wie vor bei
den Italienern zu finden ist. Die Spanier rechnen wir zu ihnen, weil die
Mehrzahl der spanischen Maler, die in den letzten Jahren aus mitteleuropäischen
Ausstellungen unsre Aufmerksamkeit erregt haben, in Rom ihre Bildung voll¬
endet und dort ihren Wohnsitz behalten haben. Mit ihren klassischen Vor¬
fahren haben die modernen italienischen Maler keinen äußern Zusammenhang.
Sie malen keine Heiligen- und Altarbilder, weil die alten Kirchen damit über¬
füllt sind, weil neue Kirchen nicht gebaut werden, da keine nötig sind, ein
moderner Heiligenmalcr also verhungern würde. Sie malen auch nur wenig
in großem Stil, weil auch dafür nur selten ein Bedürfnis vorliegt, und wenn
sie Bildwerke für monumentale Zwecke, öffentliche Denkmäler schaffen, werden
es nur Vergrößerungen kleiner Naturstudien, in denen die unruhige Lebendig¬
keit des ersten Entwurfes in allen Ecken und Enden, in allen Lappen und
Fetzen nachklingt. Aber in einem haben sie doch den Zusammenhang mit ihren
Voreltern lebendig erhalten: sie gucken nicht über ihre Schultern hinweg nach
dem französischen Nachbar, nicht nach Holland, England und Schottland, nicht
nach dein Münchner Naturalismus und der panslawistischen Brutalität, sondern
geradeaus, auf das Volksleben, das sich vor ihren Augen in der geschäftigen
Munterkeit und in der alle Sorgen und Kümmernisse des Einzeldaseins ver¬
schluckenden und übertünchenden Heiterkeit des allgemeinen öffentlichen Lebens
abspielt, das vor Jahrhunderten dasselbe gewesen ist wie heute. Damals war
es die Gevatterschaft der heiligen Familie, der Apostel und der lieben Heiligen,
die liebevolle und die abgeneigte, hente sind es die neapolitanischen Lazzaroni,
die Bettler auf der Piazza ti Spngna in Rom und die Wegelagerer am
Lung' Arno und auf der Riva dei Schiavoni. Die Grundlage der Kunst ist
trotz der veränderten Bedürfnisse dieselbe geblieben, und jede Kunst ist gesund
im Lebensmark, die in ihrem Volke wurzelt.

Das sollten sich die Belgier und die Holländer gesagt sein lassen, die
eine Kunstüberlieferung haben wie kein zweites Volk außer den Italienern.
Aber die Mehrzahl ihrer Maler folgt, wenn die Münchner Ausstellung den
richtigen Maßstab zur Beurteilung bietet, der Lockpfeife des Naturalismus und
sieht die höchsten Aufgaben ihrer Kunst in der naturgroßen Wiedergabe ver¬
kommener Proletarier, mißvergnügter Arbeiter und stumpfsinniger Spittelweiber.
Oder haben sich auch hier die Naturalisten unverhältnismäßig vorgedrängt,
weil sie wissen, daß in München ihr Weizen blüht, und so das wirkliche
Antlitz der belgischen und holländischen Kunst zur Grimasse verkehrt? Jeden¬
falls ist auch in Belgien der Naturalismus kein einheimisches Gewächs, auch
keines, das auf empfänglichen Boden trifft, sondern französischer Import, wobei


Grenzboten IV 1890 47
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[0377] Die Kunstausstellungen in München und Dresden Auch aus dieser lückenhaften und im großen und ganzen wenig beweis¬ kräftigen Ausstellung gewinnt man die Überzeugung, daß die höchste und feinste Entwicklung des Farbensinnes — trotz der geheimnisvollen Experimente in den Hexenküchen der internationalen Ateliers in Paris — nach wie vor bei den Italienern zu finden ist. Die Spanier rechnen wir zu ihnen, weil die Mehrzahl der spanischen Maler, die in den letzten Jahren aus mitteleuropäischen Ausstellungen unsre Aufmerksamkeit erregt haben, in Rom ihre Bildung voll¬ endet und dort ihren Wohnsitz behalten haben. Mit ihren klassischen Vor¬ fahren haben die modernen italienischen Maler keinen äußern Zusammenhang. Sie malen keine Heiligen- und Altarbilder, weil die alten Kirchen damit über¬ füllt sind, weil neue Kirchen nicht gebaut werden, da keine nötig sind, ein moderner Heiligenmalcr also verhungern würde. Sie malen auch nur wenig in großem Stil, weil auch dafür nur selten ein Bedürfnis vorliegt, und wenn sie Bildwerke für monumentale Zwecke, öffentliche Denkmäler schaffen, werden es nur Vergrößerungen kleiner Naturstudien, in denen die unruhige Lebendig¬ keit des ersten Entwurfes in allen Ecken und Enden, in allen Lappen und Fetzen nachklingt. Aber in einem haben sie doch den Zusammenhang mit ihren Voreltern lebendig erhalten: sie gucken nicht über ihre Schultern hinweg nach dem französischen Nachbar, nicht nach Holland, England und Schottland, nicht nach dein Münchner Naturalismus und der panslawistischen Brutalität, sondern geradeaus, auf das Volksleben, das sich vor ihren Augen in der geschäftigen Munterkeit und in der alle Sorgen und Kümmernisse des Einzeldaseins ver¬ schluckenden und übertünchenden Heiterkeit des allgemeinen öffentlichen Lebens abspielt, das vor Jahrhunderten dasselbe gewesen ist wie heute. Damals war es die Gevatterschaft der heiligen Familie, der Apostel und der lieben Heiligen, die liebevolle und die abgeneigte, hente sind es die neapolitanischen Lazzaroni, die Bettler auf der Piazza ti Spngna in Rom und die Wegelagerer am Lung' Arno und auf der Riva dei Schiavoni. Die Grundlage der Kunst ist trotz der veränderten Bedürfnisse dieselbe geblieben, und jede Kunst ist gesund im Lebensmark, die in ihrem Volke wurzelt. Das sollten sich die Belgier und die Holländer gesagt sein lassen, die eine Kunstüberlieferung haben wie kein zweites Volk außer den Italienern. Aber die Mehrzahl ihrer Maler folgt, wenn die Münchner Ausstellung den richtigen Maßstab zur Beurteilung bietet, der Lockpfeife des Naturalismus und sieht die höchsten Aufgaben ihrer Kunst in der naturgroßen Wiedergabe ver¬ kommener Proletarier, mißvergnügter Arbeiter und stumpfsinniger Spittelweiber. Oder haben sich auch hier die Naturalisten unverhältnismäßig vorgedrängt, weil sie wissen, daß in München ihr Weizen blüht, und so das wirkliche Antlitz der belgischen und holländischen Kunst zur Grimasse verkehrt? Jeden¬ falls ist auch in Belgien der Naturalismus kein einheimisches Gewächs, auch keines, das auf empfänglichen Boden trifft, sondern französischer Import, wobei Grenzboten IV 1890 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/377>, abgerufen am 23.07.2024.