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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Die natürliche Sprachentwicklung und unsre heutige Geineinsprache

für ihn besorgten. Die großen Dichtungen des Mittelalters sind nicht ans
dem Papier oder Pergament entstanden, wenn sie auch gleich niederge¬
schrieben wurden, und das merkt man ihnen an.

An der Wiege unsrer neuhochdeutschen Gemeinsprache hat die Schrift als
hohe Gönnerin und Beschützerin Gevatter gestanden, und so steht denn auch
ihre ganze Entwicklung und Ausbildung unter dem Einfluß der Pate. Das
wollen wir nicht beklagen, es konnte nicht anders sein. Ohne die mächtige
Hilfe der Schrift und die neuhinzutreteude Vervielfältigung durch den Druck
hätten Nur dieses gemeinsame, alle Stämme umschlingende Band nicht, das die
Zersplitterung des allgemeinen deutschen Geisteslebens verhindert und eine
zweite Blüte unsrer Dichtung möglich gemacht hat. Wir müssen aber die
Thatsache hervorhebe", daß von nun an jede Art höherer Bildung untrennbar
mit der Kunst des Lesens verbunden ist. Niemand kann sich also dem un¬
mittelbaren Einfluß des geschriebenen Wortes ganz entziehen, so verschieden
mich das Maß, der Grad der Einwirkung auf seine Haus- und Verkehrssprache
sein mag. Denken wir doch einmal darüber nach, wie viel von dem, was wir
unser geistiges Eigentum nennen, uns zuerst durch das Auge auf dem Papier
zugeführt worden ist! Und in ähnlicher Lage wie der Einzelne befindet sich
die ganze Sprache. Einst wurde das Fremde zuerst im persönlichen Verkehr
aufgenommen, in mündlicher Sprache verarbeitet und angeeignet, dann erst
wurde das schon Vorhandene durch die Schrift wiedergegeben. Jetzt ist das
Papier fast der einzige Weg, ans dem wir unsre ganze geistige Zufuhr von
auswärts bekommen. So erklärt sich auch der durchgreifende Unterschied
zwischen Lehn- und Fremdwörtern. Die Lehnwörter wurden zuerst gesprochen,
mündlich angeeignet und viel später, nachdem sie schon eine neue feste Gestalt
gewonnen hatten, anch niedergeschrieben, die Fremdwörter dagegen wurden erst
geschrieben und drangen dann ans der Schrift in die mündliche Sprache ein.
Nicht das Erlöschen der Triebkraft der Sprache wie Gildemeister will
hat die Angleichung verhindert, sondern die Art ihres ersten Auftretens.

Sollen wir uns wundern, wenn unter diesen Umständen unsre gebildete
Umgangssprache durchaus in das Verhältnis der Abhängigkeit von der Schrift,
die einst ihre bescheidne Dienerin war, hineingeraten ist? Doch man wird mir
vielleicht im Stillen längst den Einwand gemacht haben: "Der junge Weltbürger
beginnt doch glücklicherweise auch heutzutage seine Sprachthätigkeit nicht mit der
Kunst des Lesens. Den größten und wichtigsten Teil seiner Sprache lernt er
genau so, wie die Kinder der Naturvölker von seiner nächsten Umgebung. Ehe
die gefährliche Schrift an ihn hinantritt, hat er sich auf dem alten Wege der
Natur ein sicheres Besitztum erworben, und er erwirbt auf diesem auch später
noch viel -- trotz Schule und Buch, denn der mündliche Verkehr im engen
Kreise bleibt für sein inneres Leben zunächst noch die Hauptsache." Das ist
gewiß richtig, aber ich frage: Was ist denn das für eine Sprache, die er


Grenzboten IV 1890 4ö
Die natürliche Sprachentwicklung und unsre heutige Geineinsprache

für ihn besorgten. Die großen Dichtungen des Mittelalters sind nicht ans
dem Papier oder Pergament entstanden, wenn sie auch gleich niederge¬
schrieben wurden, und das merkt man ihnen an.

An der Wiege unsrer neuhochdeutschen Gemeinsprache hat die Schrift als
hohe Gönnerin und Beschützerin Gevatter gestanden, und so steht denn auch
ihre ganze Entwicklung und Ausbildung unter dem Einfluß der Pate. Das
wollen wir nicht beklagen, es konnte nicht anders sein. Ohne die mächtige
Hilfe der Schrift und die neuhinzutreteude Vervielfältigung durch den Druck
hätten Nur dieses gemeinsame, alle Stämme umschlingende Band nicht, das die
Zersplitterung des allgemeinen deutschen Geisteslebens verhindert und eine
zweite Blüte unsrer Dichtung möglich gemacht hat. Wir müssen aber die
Thatsache hervorhebe», daß von nun an jede Art höherer Bildung untrennbar
mit der Kunst des Lesens verbunden ist. Niemand kann sich also dem un¬
mittelbaren Einfluß des geschriebenen Wortes ganz entziehen, so verschieden
mich das Maß, der Grad der Einwirkung auf seine Haus- und Verkehrssprache
sein mag. Denken wir doch einmal darüber nach, wie viel von dem, was wir
unser geistiges Eigentum nennen, uns zuerst durch das Auge auf dem Papier
zugeführt worden ist! Und in ähnlicher Lage wie der Einzelne befindet sich
die ganze Sprache. Einst wurde das Fremde zuerst im persönlichen Verkehr
aufgenommen, in mündlicher Sprache verarbeitet und angeeignet, dann erst
wurde das schon Vorhandene durch die Schrift wiedergegeben. Jetzt ist das
Papier fast der einzige Weg, ans dem wir unsre ganze geistige Zufuhr von
auswärts bekommen. So erklärt sich auch der durchgreifende Unterschied
zwischen Lehn- und Fremdwörtern. Die Lehnwörter wurden zuerst gesprochen,
mündlich angeeignet und viel später, nachdem sie schon eine neue feste Gestalt
gewonnen hatten, anch niedergeschrieben, die Fremdwörter dagegen wurden erst
geschrieben und drangen dann ans der Schrift in die mündliche Sprache ein.
Nicht das Erlöschen der Triebkraft der Sprache wie Gildemeister will
hat die Angleichung verhindert, sondern die Art ihres ersten Auftretens.

Sollen wir uns wundern, wenn unter diesen Umständen unsre gebildete
Umgangssprache durchaus in das Verhältnis der Abhängigkeit von der Schrift,
die einst ihre bescheidne Dienerin war, hineingeraten ist? Doch man wird mir
vielleicht im Stillen längst den Einwand gemacht haben: „Der junge Weltbürger
beginnt doch glücklicherweise auch heutzutage seine Sprachthätigkeit nicht mit der
Kunst des Lesens. Den größten und wichtigsten Teil seiner Sprache lernt er
genau so, wie die Kinder der Naturvölker von seiner nächsten Umgebung. Ehe
die gefährliche Schrift an ihn hinantritt, hat er sich auf dem alten Wege der
Natur ein sicheres Besitztum erworben, und er erwirbt auf diesem auch später
noch viel — trotz Schule und Buch, denn der mündliche Verkehr im engen
Kreise bleibt für sein inneres Leben zunächst noch die Hauptsache." Das ist
gewiß richtig, aber ich frage: Was ist denn das für eine Sprache, die er


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[0369] Die natürliche Sprachentwicklung und unsre heutige Geineinsprache für ihn besorgten. Die großen Dichtungen des Mittelalters sind nicht ans dem Papier oder Pergament entstanden, wenn sie auch gleich niederge¬ schrieben wurden, und das merkt man ihnen an. An der Wiege unsrer neuhochdeutschen Gemeinsprache hat die Schrift als hohe Gönnerin und Beschützerin Gevatter gestanden, und so steht denn auch ihre ganze Entwicklung und Ausbildung unter dem Einfluß der Pate. Das wollen wir nicht beklagen, es konnte nicht anders sein. Ohne die mächtige Hilfe der Schrift und die neuhinzutreteude Vervielfältigung durch den Druck hätten Nur dieses gemeinsame, alle Stämme umschlingende Band nicht, das die Zersplitterung des allgemeinen deutschen Geisteslebens verhindert und eine zweite Blüte unsrer Dichtung möglich gemacht hat. Wir müssen aber die Thatsache hervorhebe», daß von nun an jede Art höherer Bildung untrennbar mit der Kunst des Lesens verbunden ist. Niemand kann sich also dem un¬ mittelbaren Einfluß des geschriebenen Wortes ganz entziehen, so verschieden mich das Maß, der Grad der Einwirkung auf seine Haus- und Verkehrssprache sein mag. Denken wir doch einmal darüber nach, wie viel von dem, was wir unser geistiges Eigentum nennen, uns zuerst durch das Auge auf dem Papier zugeführt worden ist! Und in ähnlicher Lage wie der Einzelne befindet sich die ganze Sprache. Einst wurde das Fremde zuerst im persönlichen Verkehr aufgenommen, in mündlicher Sprache verarbeitet und angeeignet, dann erst wurde das schon Vorhandene durch die Schrift wiedergegeben. Jetzt ist das Papier fast der einzige Weg, ans dem wir unsre ganze geistige Zufuhr von auswärts bekommen. So erklärt sich auch der durchgreifende Unterschied zwischen Lehn- und Fremdwörtern. Die Lehnwörter wurden zuerst gesprochen, mündlich angeeignet und viel später, nachdem sie schon eine neue feste Gestalt gewonnen hatten, anch niedergeschrieben, die Fremdwörter dagegen wurden erst geschrieben und drangen dann ans der Schrift in die mündliche Sprache ein. Nicht das Erlöschen der Triebkraft der Sprache wie Gildemeister will hat die Angleichung verhindert, sondern die Art ihres ersten Auftretens. Sollen wir uns wundern, wenn unter diesen Umständen unsre gebildete Umgangssprache durchaus in das Verhältnis der Abhängigkeit von der Schrift, die einst ihre bescheidne Dienerin war, hineingeraten ist? Doch man wird mir vielleicht im Stillen längst den Einwand gemacht haben: „Der junge Weltbürger beginnt doch glücklicherweise auch heutzutage seine Sprachthätigkeit nicht mit der Kunst des Lesens. Den größten und wichtigsten Teil seiner Sprache lernt er genau so, wie die Kinder der Naturvölker von seiner nächsten Umgebung. Ehe die gefährliche Schrift an ihn hinantritt, hat er sich auf dem alten Wege der Natur ein sicheres Besitztum erworben, und er erwirbt auf diesem auch später noch viel — trotz Schule und Buch, denn der mündliche Verkehr im engen Kreise bleibt für sein inneres Leben zunächst noch die Hauptsache." Das ist gewiß richtig, aber ich frage: Was ist denn das für eine Sprache, die er Grenzboten IV 1890 4ö

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/369>, abgerufen am 01.10.2024.