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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Mädchenerziehung in Frankreich

teilen zu können, so sind wir doch gewohnt, sie vorherrschend als Trägerin
des Gemütslebens zu betrachten. Der Mädchenschule muß daher jeder Unter¬
richtsgegenstand, der die Gemütsbildung zu fördern geeignet ist, besonders
willkommen sein. Wenn man in Frankreich die Religion als Unterrichts¬
gegenstand von dem Lehrplan der Mädchenschule gestrichen hat, so hat man
nicht nur der religiösen Bildung eine von Alters her gewohnte Pflegstätte
entzogen, man hat der Schule vor allein ein Vildungsmittel geraubt, das, recht
gehandhabt, wie kein andres geeignet ist, die Gemütsbildung zu vertiefen und
dadurch ein Gegengewicht zu unsrer vorherrschend den Verstand, die Klugheit
entwickelnden höhern Bildung zu schaffen. Ein in religiösen Dingen sehr weit
links stehender deutscher Dichter sagt einmal: "Schöne Frauen, die keine Reli¬
gion haben, sind wie Blumen ohne Duft; sie gleichen jenen kalten, nüchternen
Tulpen, die uns aus ihren chinesischen Porzellantöpfen so porzellanhaft
ansehen."

Die Verdrängung des kirchlichen Elements und der positiven Religion
ans der französischen Schule aller Stufen, wie sie schon während der ersten
Republik bemerkbar ist, läßt sich auf Rousseau, den echten Vertreter des
modernen Radikalismus zurückführen. In seinem OcmtiÄt soviel (IV, 8) spricht
er von einer relMon oivile, die der Staat von jedem Bürger zu verlangen
das Recht haben soll. Bei der Wichtigkeit des Gegenstandes, zumal in der
jetzigen Zeit, führen wir einige Stellen aus dem erwähnten Kapitel an.

Die Religion in ihrer Beziehung zur Gesellschaft betrachtet, läßt sich
in zwei Abteilungen teilen, nämlich in die Religion des Menschen und die
des Bürgers. Die erstere ohne Tempel, Altäre, Ritus, beschränkt auf die
rein innere Verehrung des höchsten Gottes und ans die ewigen Pflichten der
Sittenlehre (inoricko), ist die reine und einfache Religion des Evangeliums,
der wahre Gottesglaube (ldsisine) und das, was man das göttliche natür¬
liche Recht (1s etroit Alpin nlcknröl) nenneu kann, die andre, herrschend (insoriw)
in einem einzelnen Lande, giebt ihm seine Götter, seine Schutzherren (patrons)
und Schutzheiligen (wtölmrss); sie hat ihre Dogmen, ihre Gebräuche (riefs),
ihren durch Gesetze bestimmten äußern .Kultus. Außer der einzelnen Nation,
die ihr folgt, ist für sie alles ungläubig (inliclvle), fremd, barbarisch; sie
dehnt die Pflichten und Rechte des Menschen nur so weit, wie ihre Altäre
aus. Derart waren die Religionen der UrVölker (Premiers v<zupl"8); man
kann ihnen den Namen des göttlichen bürgerlichen oder positiven Rechtes
(atrait äivin civil on xo8nit') geben.

Das Recht, das der Gesellschaftsvertrag dem Souverän über die Unterthanen
gewährt, ist durch die Rücksicht auf die gemeine Wohlfahrt begrenzt. Die Unter¬
thanen haben daher nur insoweit von ihren religiösen Meinungen Rechenschaft zu
geben, als diese für die Gemeinschaft wichtig sind. Für den Staat ist es von
Bedeutung, daß jeder Bürger eine Religion habe, die ihn seine Pflichten lieben


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Mädchenerziehung in Frankreich

teilen zu können, so sind wir doch gewohnt, sie vorherrschend als Trägerin
des Gemütslebens zu betrachten. Der Mädchenschule muß daher jeder Unter¬
richtsgegenstand, der die Gemütsbildung zu fördern geeignet ist, besonders
willkommen sein. Wenn man in Frankreich die Religion als Unterrichts¬
gegenstand von dem Lehrplan der Mädchenschule gestrichen hat, so hat man
nicht nur der religiösen Bildung eine von Alters her gewohnte Pflegstätte
entzogen, man hat der Schule vor allein ein Vildungsmittel geraubt, das, recht
gehandhabt, wie kein andres geeignet ist, die Gemütsbildung zu vertiefen und
dadurch ein Gegengewicht zu unsrer vorherrschend den Verstand, die Klugheit
entwickelnden höhern Bildung zu schaffen. Ein in religiösen Dingen sehr weit
links stehender deutscher Dichter sagt einmal: „Schöne Frauen, die keine Reli¬
gion haben, sind wie Blumen ohne Duft; sie gleichen jenen kalten, nüchternen
Tulpen, die uns aus ihren chinesischen Porzellantöpfen so porzellanhaft
ansehen."

Die Verdrängung des kirchlichen Elements und der positiven Religion
ans der französischen Schule aller Stufen, wie sie schon während der ersten
Republik bemerkbar ist, läßt sich auf Rousseau, den echten Vertreter des
modernen Radikalismus zurückführen. In seinem OcmtiÄt soviel (IV, 8) spricht
er von einer relMon oivile, die der Staat von jedem Bürger zu verlangen
das Recht haben soll. Bei der Wichtigkeit des Gegenstandes, zumal in der
jetzigen Zeit, führen wir einige Stellen aus dem erwähnten Kapitel an.

Die Religion in ihrer Beziehung zur Gesellschaft betrachtet, läßt sich
in zwei Abteilungen teilen, nämlich in die Religion des Menschen und die
des Bürgers. Die erstere ohne Tempel, Altäre, Ritus, beschränkt auf die
rein innere Verehrung des höchsten Gottes und ans die ewigen Pflichten der
Sittenlehre (inoricko), ist die reine und einfache Religion des Evangeliums,
der wahre Gottesglaube (ldsisine) und das, was man das göttliche natür¬
liche Recht (1s etroit Alpin nlcknröl) nenneu kann, die andre, herrschend (insoriw)
in einem einzelnen Lande, giebt ihm seine Götter, seine Schutzherren (patrons)
und Schutzheiligen (wtölmrss); sie hat ihre Dogmen, ihre Gebräuche (riefs),
ihren durch Gesetze bestimmten äußern .Kultus. Außer der einzelnen Nation,
die ihr folgt, ist für sie alles ungläubig (inliclvle), fremd, barbarisch; sie
dehnt die Pflichten und Rechte des Menschen nur so weit, wie ihre Altäre
aus. Derart waren die Religionen der UrVölker (Premiers v<zupl«8); man
kann ihnen den Namen des göttlichen bürgerlichen oder positiven Rechtes
(atrait äivin civil on xo8nit') geben.

Das Recht, das der Gesellschaftsvertrag dem Souverän über die Unterthanen
gewährt, ist durch die Rücksicht auf die gemeine Wohlfahrt begrenzt. Die Unter¬
thanen haben daher nur insoweit von ihren religiösen Meinungen Rechenschaft zu
geben, als diese für die Gemeinschaft wichtig sind. Für den Staat ist es von
Bedeutung, daß jeder Bürger eine Religion habe, die ihn seine Pflichten lieben


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[0361] Mädchenerziehung in Frankreich teilen zu können, so sind wir doch gewohnt, sie vorherrschend als Trägerin des Gemütslebens zu betrachten. Der Mädchenschule muß daher jeder Unter¬ richtsgegenstand, der die Gemütsbildung zu fördern geeignet ist, besonders willkommen sein. Wenn man in Frankreich die Religion als Unterrichts¬ gegenstand von dem Lehrplan der Mädchenschule gestrichen hat, so hat man nicht nur der religiösen Bildung eine von Alters her gewohnte Pflegstätte entzogen, man hat der Schule vor allein ein Vildungsmittel geraubt, das, recht gehandhabt, wie kein andres geeignet ist, die Gemütsbildung zu vertiefen und dadurch ein Gegengewicht zu unsrer vorherrschend den Verstand, die Klugheit entwickelnden höhern Bildung zu schaffen. Ein in religiösen Dingen sehr weit links stehender deutscher Dichter sagt einmal: „Schöne Frauen, die keine Reli¬ gion haben, sind wie Blumen ohne Duft; sie gleichen jenen kalten, nüchternen Tulpen, die uns aus ihren chinesischen Porzellantöpfen so porzellanhaft ansehen." Die Verdrängung des kirchlichen Elements und der positiven Religion ans der französischen Schule aller Stufen, wie sie schon während der ersten Republik bemerkbar ist, läßt sich auf Rousseau, den echten Vertreter des modernen Radikalismus zurückführen. In seinem OcmtiÄt soviel (IV, 8) spricht er von einer relMon oivile, die der Staat von jedem Bürger zu verlangen das Recht haben soll. Bei der Wichtigkeit des Gegenstandes, zumal in der jetzigen Zeit, führen wir einige Stellen aus dem erwähnten Kapitel an. Die Religion in ihrer Beziehung zur Gesellschaft betrachtet, läßt sich in zwei Abteilungen teilen, nämlich in die Religion des Menschen und die des Bürgers. Die erstere ohne Tempel, Altäre, Ritus, beschränkt auf die rein innere Verehrung des höchsten Gottes und ans die ewigen Pflichten der Sittenlehre (inoricko), ist die reine und einfache Religion des Evangeliums, der wahre Gottesglaube (ldsisine) und das, was man das göttliche natür¬ liche Recht (1s etroit Alpin nlcknröl) nenneu kann, die andre, herrschend (insoriw) in einem einzelnen Lande, giebt ihm seine Götter, seine Schutzherren (patrons) und Schutzheiligen (wtölmrss); sie hat ihre Dogmen, ihre Gebräuche (riefs), ihren durch Gesetze bestimmten äußern .Kultus. Außer der einzelnen Nation, die ihr folgt, ist für sie alles ungläubig (inliclvle), fremd, barbarisch; sie dehnt die Pflichten und Rechte des Menschen nur so weit, wie ihre Altäre aus. Derart waren die Religionen der UrVölker (Premiers v<zupl«8); man kann ihnen den Namen des göttlichen bürgerlichen oder positiven Rechtes (atrait äivin civil on xo8nit') geben. Das Recht, das der Gesellschaftsvertrag dem Souverän über die Unterthanen gewährt, ist durch die Rücksicht auf die gemeine Wohlfahrt begrenzt. Die Unter¬ thanen haben daher nur insoweit von ihren religiösen Meinungen Rechenschaft zu geben, als diese für die Gemeinschaft wichtig sind. Für den Staat ist es von Bedeutung, daß jeder Bürger eine Religion habe, die ihn seine Pflichten lieben Grenzboten IV 1»90 45

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/361>, abgerufen am 25.08.2024.