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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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er von seinem eigne" Standpunkt aus schuldig wird. Und um im dritten
Bande folgt die "Lektion/' die ihm der Physikus von seinem und der Dichter
von einem höhern Standpunkte erteilt, sodaß die Strafe poetische Bedeutung
erhalt, ohne daß sie in der Wirkung zu dem wird, was der Physikus gewollt
hat: zu einer wirklichen Verhöhnung des Rittmeisters; im Gegenteil, er tritt
ans der furchtbaren Erschütterung, die er erlebt, wirklich geläutert hervor,
jetzt erst ist er das Original geworden, worüber wir lächeln können, ohne ihm
im geringsten unsre Achtung zu versagen. Diese Anlage der Dichtung muß
mau als eine große Schönheit anerkennen, lind nicht bloß der Rittmeister,
sondern auch der Physikus, die drei Frauen und die zwei andern Männer,
Ulrich Sehbold nud Hartmut Hammer, macheu vor unsern Augen eine liefe
innere Wandlung durch, und das Interesse an den äußern Vorgängen wird
durch diese Prozesse in dem Innern der Menschen mächtig gesteigert. Am
Ende des Romans verlassen wir sie alle teils klarer über sich selbst und die
Richtung ihres Wolle"?, teils im Besitze ihres mit Sehnsucht erstrebten Zieles.

Der Rittmeister muß zu der Erkenntnis gelangen, daß der kategorische
Imperativ nicht immer durchführbar ist, daß des Menschen Wille allein durchaus
nicht zu jeder That genügt, denn die Nnsführnng liegt oft gar nicht in seiner
Macht, Das erfährt er zum erstenmale im Streite mit einem bessern Philo¬
sophen, als er einer ist. or. Hartmut Hammer, Privatdozent an der Heidelberger
Universität, ist zwar ein Nheiubüudler, aber doch el" Anhänger der kantischen
Philosophie, was den preußischen Rittmeister, der die Nheinbündler aufs tiefste
verachtet, nach und nach für ihn gewinnt. Dieser l^r. Hammer ist mit seiner
an die Königin Luise erinnernden Schwester Hildcgarde aus Frankfurt a, M.
nach dem fernen Ostpreußen gefahren, um ihr zum Besitz ihres geliebten Ulrich
Seybvld, Jageteufels Mündel, zu verhelfen; nebenbei will er einen Vortrag
über Kants Schrift "Von der Macht des Gemütes" halten. Dieser Hartmut
ist ein anziehender Charakter für sich lind erlebt eine Reihe von Geschichten,
die nicht minder interessant sind als die des Rittmeisters. Aber darauf können
wir hier nicht eingehen; wir wollen nur sagen, daß er die echte Philosophcu-
nntnr vorstellt: er besitzt die wahre Beschaulichkeit, er ist der richtige Träumer
und Denker, der so tief in sich selbst vergraben ist, daß er wie Sokrates an einem
Orte tagelang stehen bleiben kann, um einem Gedanken nachzuhängen, ganz
verschlossen für jeden äußern Eindruck, darum im Verkehr und Auftreten
schüchtern, scheu, zaghaft, darum mit den Gedanken kühn wie eine Armee, aber
körperlich feig. Dieser Dr. Hammer will also in des Rittmeisters eignem Nest
einen Bortrag über Kant halten, was natürlich den Spott des Eisernen Hervor¬
luft. Und nnn die köstliche Szene, wo Hammer den Vortrug zur Begeisterung
des ganzen Publikums und des Rittmeisters selbst hält, und dieser dann, seinem
Versprechen gemäß, selbst aufs Katheder steigt, um zu beweisen, daß er auch
reden kann und -- nnter jämmerlichem Ächzen und Stöhnen und zahllosen


er von seinem eigne» Standpunkt aus schuldig wird. Und um im dritten
Bande folgt die „Lektion/' die ihm der Physikus von seinem und der Dichter
von einem höhern Standpunkte erteilt, sodaß die Strafe poetische Bedeutung
erhalt, ohne daß sie in der Wirkung zu dem wird, was der Physikus gewollt
hat: zu einer wirklichen Verhöhnung des Rittmeisters; im Gegenteil, er tritt
ans der furchtbaren Erschütterung, die er erlebt, wirklich geläutert hervor,
jetzt erst ist er das Original geworden, worüber wir lächeln können, ohne ihm
im geringsten unsre Achtung zu versagen. Diese Anlage der Dichtung muß
mau als eine große Schönheit anerkennen, lind nicht bloß der Rittmeister,
sondern auch der Physikus, die drei Frauen und die zwei andern Männer,
Ulrich Sehbold nud Hartmut Hammer, macheu vor unsern Augen eine liefe
innere Wandlung durch, und das Interesse an den äußern Vorgängen wird
durch diese Prozesse in dem Innern der Menschen mächtig gesteigert. Am
Ende des Romans verlassen wir sie alle teils klarer über sich selbst und die
Richtung ihres Wolle»?, teils im Besitze ihres mit Sehnsucht erstrebten Zieles.

Der Rittmeister muß zu der Erkenntnis gelangen, daß der kategorische
Imperativ nicht immer durchführbar ist, daß des Menschen Wille allein durchaus
nicht zu jeder That genügt, denn die Nnsführnng liegt oft gar nicht in seiner
Macht, Das erfährt er zum erstenmale im Streite mit einem bessern Philo¬
sophen, als er einer ist. or. Hartmut Hammer, Privatdozent an der Heidelberger
Universität, ist zwar ein Nheiubüudler, aber doch el» Anhänger der kantischen
Philosophie, was den preußischen Rittmeister, der die Nheinbündler aufs tiefste
verachtet, nach und nach für ihn gewinnt. Dieser l^r. Hammer ist mit seiner
an die Königin Luise erinnernden Schwester Hildcgarde aus Frankfurt a, M.
nach dem fernen Ostpreußen gefahren, um ihr zum Besitz ihres geliebten Ulrich
Seybvld, Jageteufels Mündel, zu verhelfen; nebenbei will er einen Vortrag
über Kants Schrift „Von der Macht des Gemütes" halten. Dieser Hartmut
ist ein anziehender Charakter für sich lind erlebt eine Reihe von Geschichten,
die nicht minder interessant sind als die des Rittmeisters. Aber darauf können
wir hier nicht eingehen; wir wollen nur sagen, daß er die echte Philosophcu-
nntnr vorstellt: er besitzt die wahre Beschaulichkeit, er ist der richtige Träumer
und Denker, der so tief in sich selbst vergraben ist, daß er wie Sokrates an einem
Orte tagelang stehen bleiben kann, um einem Gedanken nachzuhängen, ganz
verschlossen für jeden äußern Eindruck, darum im Verkehr und Auftreten
schüchtern, scheu, zaghaft, darum mit den Gedanken kühn wie eine Armee, aber
körperlich feig. Dieser Dr. Hammer will also in des Rittmeisters eignem Nest
einen Bortrag über Kant halten, was natürlich den Spott des Eisernen Hervor¬
luft. Und nnn die köstliche Szene, wo Hammer den Vortrug zur Begeisterung
des ganzen Publikums und des Rittmeisters selbst hält, und dieser dann, seinem
Versprechen gemäß, selbst aufs Katheder steigt, um zu beweisen, daß er auch
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[0339] er von seinem eigne» Standpunkt aus schuldig wird. Und um im dritten Bande folgt die „Lektion/' die ihm der Physikus von seinem und der Dichter von einem höhern Standpunkte erteilt, sodaß die Strafe poetische Bedeutung erhalt, ohne daß sie in der Wirkung zu dem wird, was der Physikus gewollt hat: zu einer wirklichen Verhöhnung des Rittmeisters; im Gegenteil, er tritt ans der furchtbaren Erschütterung, die er erlebt, wirklich geläutert hervor, jetzt erst ist er das Original geworden, worüber wir lächeln können, ohne ihm im geringsten unsre Achtung zu versagen. Diese Anlage der Dichtung muß mau als eine große Schönheit anerkennen, lind nicht bloß der Rittmeister, sondern auch der Physikus, die drei Frauen und die zwei andern Männer, Ulrich Sehbold nud Hartmut Hammer, macheu vor unsern Augen eine liefe innere Wandlung durch, und das Interesse an den äußern Vorgängen wird durch diese Prozesse in dem Innern der Menschen mächtig gesteigert. Am Ende des Romans verlassen wir sie alle teils klarer über sich selbst und die Richtung ihres Wolle»?, teils im Besitze ihres mit Sehnsucht erstrebten Zieles. Der Rittmeister muß zu der Erkenntnis gelangen, daß der kategorische Imperativ nicht immer durchführbar ist, daß des Menschen Wille allein durchaus nicht zu jeder That genügt, denn die Nnsführnng liegt oft gar nicht in seiner Macht, Das erfährt er zum erstenmale im Streite mit einem bessern Philo¬ sophen, als er einer ist. or. Hartmut Hammer, Privatdozent an der Heidelberger Universität, ist zwar ein Nheiubüudler, aber doch el» Anhänger der kantischen Philosophie, was den preußischen Rittmeister, der die Nheinbündler aufs tiefste verachtet, nach und nach für ihn gewinnt. Dieser l^r. Hammer ist mit seiner an die Königin Luise erinnernden Schwester Hildcgarde aus Frankfurt a, M. nach dem fernen Ostpreußen gefahren, um ihr zum Besitz ihres geliebten Ulrich Seybvld, Jageteufels Mündel, zu verhelfen; nebenbei will er einen Vortrag über Kants Schrift „Von der Macht des Gemütes" halten. Dieser Hartmut ist ein anziehender Charakter für sich lind erlebt eine Reihe von Geschichten, die nicht minder interessant sind als die des Rittmeisters. Aber darauf können wir hier nicht eingehen; wir wollen nur sagen, daß er die echte Philosophcu- nntnr vorstellt: er besitzt die wahre Beschaulichkeit, er ist der richtige Träumer und Denker, der so tief in sich selbst vergraben ist, daß er wie Sokrates an einem Orte tagelang stehen bleiben kann, um einem Gedanken nachzuhängen, ganz verschlossen für jeden äußern Eindruck, darum im Verkehr und Auftreten schüchtern, scheu, zaghaft, darum mit den Gedanken kühn wie eine Armee, aber körperlich feig. Dieser Dr. Hammer will also in des Rittmeisters eignem Nest einen Bortrag über Kant halten, was natürlich den Spott des Eisernen Hervor¬ luft. Und nnn die köstliche Szene, wo Hammer den Vortrug zur Begeisterung des ganzen Publikums und des Rittmeisters selbst hält, und dieser dann, seinem Versprechen gemäß, selbst aufs Katheder steigt, um zu beweisen, daß er auch reden kann und — nnter jämmerlichem Ächzen und Stöhnen und zahllosen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/339>, abgerufen am 23.07.2024.