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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Der deutsche Rlcisstker des Sozialismiis

graben, so mußtest du vor allem nachweisen, daß die zur Steuererhebung vor¬
genommenen Einschätzungen hinter der Wirklichkeit weit zurückbleiben, daß wir
Deutschen viel reicher sind, als die nachsichtigen oder Schwachsichtigen Ein-
schützungskommissionen uns erscheinen lassen, und daß auch ohne Beraubung
der Reichen die ärmern Familien durchschnittlich mehr als 842 Mark ein¬
nehmen." Der wissenschaftliche Sozialist aber wird sagen: "Das ists ja eben,
was wir an der jetzigen Einrichtung tadeln, daß nnter ihrer Herrschaft, mit
jenem Franzosen zu reden, bei gleicher Verteilung des Nationaleinkommens
jeder Franzose eben nur ein Lump sein würde. Daß diese Einrichtung einzelne
Leute sehr reich werden läßt, dagegen hätten wir nicht das geringste einzu-
wenden, wenn sie nicht die Nationen im ganzen arm machte. Bei der gegen¬
wärtigen Vollkommenheit der Arbcitswerkzeuge muß die Menschheit imstande
sein, mit mäßiger Arbeit einen solchen Reichtum an Gütern herzustellen, daß
nicht allein jeder, der arbeitet, samt Weib und Kind mit allein Nötigen und
einigem Angenehmen versorgt wird, sondern auch noch dieselbe und eine größere
Masse von Luxusgegenständen, als jetzt für die übrig bleibt, die durch Glück,
Geschick oder Verdienst über die Masse emporgehoben werden, und Hütte die
Masse jenes Nötige zur Genüge, so würde sie den Hervorragenden dieses Mehr
nicht mißgönnen, und es würde keinem Menschen einfalle", sozialistische Systeme
nuszudifteln. Da nun aber trotz reichlich vorhandner Bedingungen die not¬
wendige Gütermasse nicht hervorgebracht wird, so sind wir berechtigt, die
gegenwärtige Einrichtung der Gtttererzeugung sür fehlerhaft zu halten. Sie
macht den Eindruck eines Hauswesens, worin sechs liebliche Töchter blühen,
und nicht bloß blühen, sondern von früh bis abends alle Hände voll zu thun
haben, trotzdem aber nichts fertig bringen, sodaß ihre zwölfhändige Geschäftigkeit
nicht imstande ist, dem Papa zur richtigen Zeit auf den richtig gedeckten Tisch
ein richtiges Mittagessen zu setzen und ihm die zerrissenen Strümpfe anzustricken.
Entscheide doch selbst, lieber Eugen, ob es mehr zum Totlachen oder mehr zum
Weinen ist, wenn die böhmischen Fabrikanten ihre Leinwand nicht los werden,
die Arbeiter aber, die diese Leinwand herstellen, kein Hemd unterm Rocke haben,
und sage, ob nicht ein Leiter des Gewerbcwesens, der die Sache absichtlich so
eingerichtet hätte, unbedingt ins Narrenhaus gesperrt werden müßte. Bei so
bewandten Umständen wird es wohl nicht bloß erlaubt, sondern Pflicht sein,
nachzusehen, wo eigentlich der Fehler steckt, und über eine bessere Einrichtung
nachzudenken. Die Kritik der bestehenden Einrichtung zusammen mit den Ent¬
würfen einer neuen macht eben den Sozialismus aus. Daß unter seinen Ent¬
würfen sich schon ein ausführbarer befände, oder daß die Gütererzeugung und
-Verteilung überhaupt einmal nach einem vorbedachten Plane werde umgestaltet
werden können, das ist ja damit noch nicht gesagt."

Die zweite Art von Beweisführung der kapitalistischen Schule dreht sich
um die wunderliche Vorstellung, daß das Kapital durch seine Verstaatlichung


Der deutsche Rlcisstker des Sozialismiis

graben, so mußtest du vor allem nachweisen, daß die zur Steuererhebung vor¬
genommenen Einschätzungen hinter der Wirklichkeit weit zurückbleiben, daß wir
Deutschen viel reicher sind, als die nachsichtigen oder Schwachsichtigen Ein-
schützungskommissionen uns erscheinen lassen, und daß auch ohne Beraubung
der Reichen die ärmern Familien durchschnittlich mehr als 842 Mark ein¬
nehmen." Der wissenschaftliche Sozialist aber wird sagen: „Das ists ja eben,
was wir an der jetzigen Einrichtung tadeln, daß nnter ihrer Herrschaft, mit
jenem Franzosen zu reden, bei gleicher Verteilung des Nationaleinkommens
jeder Franzose eben nur ein Lump sein würde. Daß diese Einrichtung einzelne
Leute sehr reich werden läßt, dagegen hätten wir nicht das geringste einzu-
wenden, wenn sie nicht die Nationen im ganzen arm machte. Bei der gegen¬
wärtigen Vollkommenheit der Arbcitswerkzeuge muß die Menschheit imstande
sein, mit mäßiger Arbeit einen solchen Reichtum an Gütern herzustellen, daß
nicht allein jeder, der arbeitet, samt Weib und Kind mit allein Nötigen und
einigem Angenehmen versorgt wird, sondern auch noch dieselbe und eine größere
Masse von Luxusgegenständen, als jetzt für die übrig bleibt, die durch Glück,
Geschick oder Verdienst über die Masse emporgehoben werden, und Hütte die
Masse jenes Nötige zur Genüge, so würde sie den Hervorragenden dieses Mehr
nicht mißgönnen, und es würde keinem Menschen einfalle«, sozialistische Systeme
nuszudifteln. Da nun aber trotz reichlich vorhandner Bedingungen die not¬
wendige Gütermasse nicht hervorgebracht wird, so sind wir berechtigt, die
gegenwärtige Einrichtung der Gtttererzeugung sür fehlerhaft zu halten. Sie
macht den Eindruck eines Hauswesens, worin sechs liebliche Töchter blühen,
und nicht bloß blühen, sondern von früh bis abends alle Hände voll zu thun
haben, trotzdem aber nichts fertig bringen, sodaß ihre zwölfhändige Geschäftigkeit
nicht imstande ist, dem Papa zur richtigen Zeit auf den richtig gedeckten Tisch
ein richtiges Mittagessen zu setzen und ihm die zerrissenen Strümpfe anzustricken.
Entscheide doch selbst, lieber Eugen, ob es mehr zum Totlachen oder mehr zum
Weinen ist, wenn die böhmischen Fabrikanten ihre Leinwand nicht los werden,
die Arbeiter aber, die diese Leinwand herstellen, kein Hemd unterm Rocke haben,
und sage, ob nicht ein Leiter des Gewerbcwesens, der die Sache absichtlich so
eingerichtet hätte, unbedingt ins Narrenhaus gesperrt werden müßte. Bei so
bewandten Umständen wird es wohl nicht bloß erlaubt, sondern Pflicht sein,
nachzusehen, wo eigentlich der Fehler steckt, und über eine bessere Einrichtung
nachzudenken. Die Kritik der bestehenden Einrichtung zusammen mit den Ent¬
würfen einer neuen macht eben den Sozialismus aus. Daß unter seinen Ent¬
würfen sich schon ein ausführbarer befände, oder daß die Gütererzeugung und
-Verteilung überhaupt einmal nach einem vorbedachten Plane werde umgestaltet
werden können, das ist ja damit noch nicht gesagt."

Die zweite Art von Beweisführung der kapitalistischen Schule dreht sich
um die wunderliche Vorstellung, daß das Kapital durch seine Verstaatlichung


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[0262] Der deutsche Rlcisstker des Sozialismiis graben, so mußtest du vor allem nachweisen, daß die zur Steuererhebung vor¬ genommenen Einschätzungen hinter der Wirklichkeit weit zurückbleiben, daß wir Deutschen viel reicher sind, als die nachsichtigen oder Schwachsichtigen Ein- schützungskommissionen uns erscheinen lassen, und daß auch ohne Beraubung der Reichen die ärmern Familien durchschnittlich mehr als 842 Mark ein¬ nehmen." Der wissenschaftliche Sozialist aber wird sagen: „Das ists ja eben, was wir an der jetzigen Einrichtung tadeln, daß nnter ihrer Herrschaft, mit jenem Franzosen zu reden, bei gleicher Verteilung des Nationaleinkommens jeder Franzose eben nur ein Lump sein würde. Daß diese Einrichtung einzelne Leute sehr reich werden läßt, dagegen hätten wir nicht das geringste einzu- wenden, wenn sie nicht die Nationen im ganzen arm machte. Bei der gegen¬ wärtigen Vollkommenheit der Arbcitswerkzeuge muß die Menschheit imstande sein, mit mäßiger Arbeit einen solchen Reichtum an Gütern herzustellen, daß nicht allein jeder, der arbeitet, samt Weib und Kind mit allein Nötigen und einigem Angenehmen versorgt wird, sondern auch noch dieselbe und eine größere Masse von Luxusgegenständen, als jetzt für die übrig bleibt, die durch Glück, Geschick oder Verdienst über die Masse emporgehoben werden, und Hütte die Masse jenes Nötige zur Genüge, so würde sie den Hervorragenden dieses Mehr nicht mißgönnen, und es würde keinem Menschen einfalle«, sozialistische Systeme nuszudifteln. Da nun aber trotz reichlich vorhandner Bedingungen die not¬ wendige Gütermasse nicht hervorgebracht wird, so sind wir berechtigt, die gegenwärtige Einrichtung der Gtttererzeugung sür fehlerhaft zu halten. Sie macht den Eindruck eines Hauswesens, worin sechs liebliche Töchter blühen, und nicht bloß blühen, sondern von früh bis abends alle Hände voll zu thun haben, trotzdem aber nichts fertig bringen, sodaß ihre zwölfhändige Geschäftigkeit nicht imstande ist, dem Papa zur richtigen Zeit auf den richtig gedeckten Tisch ein richtiges Mittagessen zu setzen und ihm die zerrissenen Strümpfe anzustricken. Entscheide doch selbst, lieber Eugen, ob es mehr zum Totlachen oder mehr zum Weinen ist, wenn die böhmischen Fabrikanten ihre Leinwand nicht los werden, die Arbeiter aber, die diese Leinwand herstellen, kein Hemd unterm Rocke haben, und sage, ob nicht ein Leiter des Gewerbcwesens, der die Sache absichtlich so eingerichtet hätte, unbedingt ins Narrenhaus gesperrt werden müßte. Bei so bewandten Umständen wird es wohl nicht bloß erlaubt, sondern Pflicht sein, nachzusehen, wo eigentlich der Fehler steckt, und über eine bessere Einrichtung nachzudenken. Die Kritik der bestehenden Einrichtung zusammen mit den Ent¬ würfen einer neuen macht eben den Sozialismus aus. Daß unter seinen Ent¬ würfen sich schon ein ausführbarer befände, oder daß die Gütererzeugung und -Verteilung überhaupt einmal nach einem vorbedachten Plane werde umgestaltet werden können, das ist ja damit noch nicht gesagt." Die zweite Art von Beweisführung der kapitalistischen Schule dreht sich um die wunderliche Vorstellung, daß das Kapital durch seine Verstaatlichung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/262>, abgerufen am 23.07.2024.