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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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damals aber auch ehrwürdige Gestatte" an den Grachten der Amstelstadt umher;
so der prächtige Alte mit der Pelzmütze oder der oft von dem Meister und
seinen Schillern als Modell benutzte Orientale mit dem kurzen struppigen Bart.
Auch unter den Frauengestalten wählt der Künstler sich meist alte aus, wie
die köstlich beobachtete Schläferin, die über dem Buch, in dem sie gelesen hat,
eingenickt ist. Daneben eine Unzahl von Bettlern und Straßenfiguren, von denen
die Ausstellung nur eine bescheidne Auswahl bietet. Nicht weniger als vier ver-
schiedne Zustände zählt man von dem kleinen blöden Bettlerkopf mit der Platt¬
nase und der hohen Pelzmütze; immer wieder felle der Künstler an dem so
unscheinbaren und doch so scharf charakterisirten Kopfe. Fast scheint es, wenn
wir diese Einzelstudien der ersten Jugendzeit überblicken, als bildeten sie alle
nur Vorstufen, als fehlte es dem Künstler noch an der Kraft zu einer gröhlen
geschlossenen Komposition.

Wie eine plötzliche Offenbarung treten uns da die Leistungen des Jahres
1633 entgegen: der gute Samariter und die Auferweckung des Lazarus. Es
ist begreiflich, daß Kenner vor diesem plötzlichen Umschlag in der künstlerischen
Auffassung stutzten, zumal dn sich auch in technischer Beziehung nicht alles
glatt mit den vorhergehenden Leistungen vereinigen läßt. Dazu kommt, daß
die Kompvsitionsmvtive dieser beiden Radirungen trotz der Bezeichnung Uvm-
di-Welt wvöntor nicht Rembrandt allein angehören: den barmherzigen Sama¬
riter kennen wir ans einer Nadirung des Jan van de Velde, die Auferweckung
des Lazarus aus einem Gemälde des de Wedt in Darmstadt. Ich glaube,
man wird hier die Sonde der Kritik sehr tief einzulegen haben, ehe man zu
einem endgiltigen Urteil über die Echtheit oder Unechtheit beider Blätter
kommen kann. Einzelheiten, wie der gänzlich mißglückte rechte Bvrderfuß des
Pferdes, von dein ein Diener des Samariters seinen kranken Pflegling hebt,
werden sicherlich auch dem Laien Bedenken erregen über die Eigenhändigkeit
dieser Arbeiten, die von Sehmvur Haben und Gonse lebhaft bestritten wird.
Ein Vergleich des barmherzigen Samariters mit den sicher echten Arbeiten
Rembrandts in der nächsten Umgebung, den sogenannten "kleinen" Jüngern
zu Emaus vom Jahre 1634 oder der entzückenden kleinen ,,Flucht nach
Ägypten" aus demselben Jahre, sowie der VisrZs s.u UnAv spricht auch uicht
gerade zu Gunsten der angezweifelten großen Kompositionen. Doch überlassen
nur diesen Streit den Kennern und freuen uus an der trotzdem noch recht
bedeutenden Zahl unbezweifelbarer Schöpfungen des Meisters. Im Gegensatz
zu dem Reichtum früherer Jahre zählen wir allerdings 1633 nur elf Radirungen,
was wohl mit daraus zu erkläre:? ist, daß Nembrnudt gerade in dieser Zeit
in Amsterdam als Bildnismaler überreich beschäftigt war, wie uns die
vielen, aber ungleichen Gemälde aus dieser Zeit beweisen. Bei diesen Ver¬
suchen, die sich anfangs noch stark an seinen berühmten Meister Thomas de
Kayser anlehnen, sehen wir ihn allmählich zu immer größerer Selbständigkeit


damals aber auch ehrwürdige Gestatte» an den Grachten der Amstelstadt umher;
so der prächtige Alte mit der Pelzmütze oder der oft von dem Meister und
seinen Schillern als Modell benutzte Orientale mit dem kurzen struppigen Bart.
Auch unter den Frauengestalten wählt der Künstler sich meist alte aus, wie
die köstlich beobachtete Schläferin, die über dem Buch, in dem sie gelesen hat,
eingenickt ist. Daneben eine Unzahl von Bettlern und Straßenfiguren, von denen
die Ausstellung nur eine bescheidne Auswahl bietet. Nicht weniger als vier ver-
schiedne Zustände zählt man von dem kleinen blöden Bettlerkopf mit der Platt¬
nase und der hohen Pelzmütze; immer wieder felle der Künstler an dem so
unscheinbaren und doch so scharf charakterisirten Kopfe. Fast scheint es, wenn
wir diese Einzelstudien der ersten Jugendzeit überblicken, als bildeten sie alle
nur Vorstufen, als fehlte es dem Künstler noch an der Kraft zu einer gröhlen
geschlossenen Komposition.

Wie eine plötzliche Offenbarung treten uns da die Leistungen des Jahres
1633 entgegen: der gute Samariter und die Auferweckung des Lazarus. Es
ist begreiflich, daß Kenner vor diesem plötzlichen Umschlag in der künstlerischen
Auffassung stutzten, zumal dn sich auch in technischer Beziehung nicht alles
glatt mit den vorhergehenden Leistungen vereinigen läßt. Dazu kommt, daß
die Kompvsitionsmvtive dieser beiden Radirungen trotz der Bezeichnung Uvm-
di-Welt wvöntor nicht Rembrandt allein angehören: den barmherzigen Sama¬
riter kennen wir ans einer Nadirung des Jan van de Velde, die Auferweckung
des Lazarus aus einem Gemälde des de Wedt in Darmstadt. Ich glaube,
man wird hier die Sonde der Kritik sehr tief einzulegen haben, ehe man zu
einem endgiltigen Urteil über die Echtheit oder Unechtheit beider Blätter
kommen kann. Einzelheiten, wie der gänzlich mißglückte rechte Bvrderfuß des
Pferdes, von dein ein Diener des Samariters seinen kranken Pflegling hebt,
werden sicherlich auch dem Laien Bedenken erregen über die Eigenhändigkeit
dieser Arbeiten, die von Sehmvur Haben und Gonse lebhaft bestritten wird.
Ein Vergleich des barmherzigen Samariters mit den sicher echten Arbeiten
Rembrandts in der nächsten Umgebung, den sogenannten „kleinen" Jüngern
zu Emaus vom Jahre 1634 oder der entzückenden kleinen ,,Flucht nach
Ägypten" aus demselben Jahre, sowie der VisrZs s.u UnAv spricht auch uicht
gerade zu Gunsten der angezweifelten großen Kompositionen. Doch überlassen
nur diesen Streit den Kennern und freuen uus an der trotzdem noch recht
bedeutenden Zahl unbezweifelbarer Schöpfungen des Meisters. Im Gegensatz
zu dem Reichtum früherer Jahre zählen wir allerdings 1633 nur elf Radirungen,
was wohl mit daraus zu erkläre:? ist, daß Nembrnudt gerade in dieser Zeit
in Amsterdam als Bildnismaler überreich beschäftigt war, wie uns die
vielen, aber ungleichen Gemälde aus dieser Zeit beweisen. Bei diesen Ver¬
suchen, die sich anfangs noch stark an seinen berühmten Meister Thomas de
Kayser anlehnen, sehen wir ihn allmählich zu immer größerer Selbständigkeit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/245>, abgerufen am 25.08.2024.