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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Bebels Bäcker-Luqnete

jetzigen Wirtschafts- und Staatsordnung für heilbar halt. Auch legt er ein
verhältnismäßig geringes Gewicht auf die Selbsthilfe und die gewerkschaftliche
Organisation. Und wir können auch hierin ihm beipflichten. Denn weshalb
erst alle Kräfte des Egoismus auf beiden Seiten entfesseln, warum erst einen
Kampf auf Leben und Tod zwischen den beiderseitigen Organisationen in Szene
setzen, um nach Erschöpfung aller Kräfte zum Friedensschluß gezwungen zu
werden -- wenn man die Sache einfacher und bequemer haben kann?

Bebel wendet sich in erster Linie an den heutigen Staat: ,,Da muß die
Gesetzgebung eingreifen." Er erkennt die guten Wirkungen der bisherigen
Sozialgesetzgebung an, indem er z. B. von der Verordnung des Bundesrates
vom 9. Mai zur Regelung der Arbeitsbedingungen in den Zigarren¬
fabriken bekennt: "Diese Verordnung war unzweifelhaft sehr notwendig, und
ihre wohlthätige Wirkung wird heute überall anerkannt." Demgemäß wünscht
er auch für das Bäckereigcwerbe die Festsetzung einer bestimmten täglichem
Arbeitszeit und das Verbot der Sonntagsarbeit und der Nachtarbeit auf dem
Wege des Gesetzes ausgesprochen zu sehen.

Nebenbei bemerkt, würde es in der That vielleicht recht empfehlenswert
sein, nach englischer Art die Verhältnisse der einzelnen Gewerbe dnrch Spezial-
gesetze zu regeln, statt in der Novelle zur Gewerbeordnung zahllose allgemeine
Bestimmungen zu treffen und dann gegenüber den Besonderheiten der Gewerbe
die Regel durch zahlreiche Ausnahmen zu durchbrechen. Die englischen Vor¬
bilder sind ja heute ebenso beliebt, wie zu der Zeit, wo man die allein selig¬
machenden Theorien des Parlamentarismus und des Freihandels ans England
verschrieb.

Freilich kommt alles darauf an, in wessen Hände man die Ausführung
der Gesetze legt. Und da kann man es Bebel nicht verdenken, wenn er den
Versuch der Gewerbevrdnungsnovelle, die gewerberätliche Aufsicht der Betriebe
ihrer Mitglieder den Innungen einzuräumen, statt den Fabrikinspektoren,
abfällig beurteilt. "Entschlösse man sich, in den verschiednen Richtungen mit
Nachdruck vorzugehen, so würden binnen wenigen Jahren im Bäckereigewerbe
Zustände herrschen, die sehr weit von den heutigen verschieden find, aber den
Interessen der Arbeiter wie des Publikums in hohem Maße gerecht würden
und sicher nicht zum Schaden der Unternehmer ausschlügen. Bis jetzt haben
noch alle Reformen in den sozialen Verhältnissen eines Gewerbes dasselbe nur
gehoben und nie geschädigt."

Warum sollte Bebel vergeblich an die heutige Gesetzgebung appelliren?
Wenn er darauf verzichtet, die Phrasen von sozialer Revolution in die That
umzusetzen, wenn er sich mit Reformen begnügt, dann wird er uns alle bereit
finden, bereit, auch die Schäden unsrer Wirtschaft zu heilen, die ein Bebel
aufgedeckt hat. Mag er seiue Enquete sins irg, ot stnäio veranstaltet haben
oder nicht -- wir nehmen sie so!


Bebels Bäcker-Luqnete

jetzigen Wirtschafts- und Staatsordnung für heilbar halt. Auch legt er ein
verhältnismäßig geringes Gewicht auf die Selbsthilfe und die gewerkschaftliche
Organisation. Und wir können auch hierin ihm beipflichten. Denn weshalb
erst alle Kräfte des Egoismus auf beiden Seiten entfesseln, warum erst einen
Kampf auf Leben und Tod zwischen den beiderseitigen Organisationen in Szene
setzen, um nach Erschöpfung aller Kräfte zum Friedensschluß gezwungen zu
werden — wenn man die Sache einfacher und bequemer haben kann?

Bebel wendet sich in erster Linie an den heutigen Staat: ,,Da muß die
Gesetzgebung eingreifen." Er erkennt die guten Wirkungen der bisherigen
Sozialgesetzgebung an, indem er z. B. von der Verordnung des Bundesrates
vom 9. Mai zur Regelung der Arbeitsbedingungen in den Zigarren¬
fabriken bekennt: „Diese Verordnung war unzweifelhaft sehr notwendig, und
ihre wohlthätige Wirkung wird heute überall anerkannt." Demgemäß wünscht
er auch für das Bäckereigcwerbe die Festsetzung einer bestimmten täglichem
Arbeitszeit und das Verbot der Sonntagsarbeit und der Nachtarbeit auf dem
Wege des Gesetzes ausgesprochen zu sehen.

Nebenbei bemerkt, würde es in der That vielleicht recht empfehlenswert
sein, nach englischer Art die Verhältnisse der einzelnen Gewerbe dnrch Spezial-
gesetze zu regeln, statt in der Novelle zur Gewerbeordnung zahllose allgemeine
Bestimmungen zu treffen und dann gegenüber den Besonderheiten der Gewerbe
die Regel durch zahlreiche Ausnahmen zu durchbrechen. Die englischen Vor¬
bilder sind ja heute ebenso beliebt, wie zu der Zeit, wo man die allein selig¬
machenden Theorien des Parlamentarismus und des Freihandels ans England
verschrieb.

Freilich kommt alles darauf an, in wessen Hände man die Ausführung
der Gesetze legt. Und da kann man es Bebel nicht verdenken, wenn er den
Versuch der Gewerbevrdnungsnovelle, die gewerberätliche Aufsicht der Betriebe
ihrer Mitglieder den Innungen einzuräumen, statt den Fabrikinspektoren,
abfällig beurteilt. „Entschlösse man sich, in den verschiednen Richtungen mit
Nachdruck vorzugehen, so würden binnen wenigen Jahren im Bäckereigewerbe
Zustände herrschen, die sehr weit von den heutigen verschieden find, aber den
Interessen der Arbeiter wie des Publikums in hohem Maße gerecht würden
und sicher nicht zum Schaden der Unternehmer ausschlügen. Bis jetzt haben
noch alle Reformen in den sozialen Verhältnissen eines Gewerbes dasselbe nur
gehoben und nie geschädigt."

Warum sollte Bebel vergeblich an die heutige Gesetzgebung appelliren?
Wenn er darauf verzichtet, die Phrasen von sozialer Revolution in die That
umzusetzen, wenn er sich mit Reformen begnügt, dann wird er uns alle bereit
finden, bereit, auch die Schäden unsrer Wirtschaft zu heilen, die ein Bebel
aufgedeckt hat. Mag er seiue Enquete sins irg, ot stnäio veranstaltet haben
oder nicht — wir nehmen sie so!


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[0235] Bebels Bäcker-Luqnete jetzigen Wirtschafts- und Staatsordnung für heilbar halt. Auch legt er ein verhältnismäßig geringes Gewicht auf die Selbsthilfe und die gewerkschaftliche Organisation. Und wir können auch hierin ihm beipflichten. Denn weshalb erst alle Kräfte des Egoismus auf beiden Seiten entfesseln, warum erst einen Kampf auf Leben und Tod zwischen den beiderseitigen Organisationen in Szene setzen, um nach Erschöpfung aller Kräfte zum Friedensschluß gezwungen zu werden — wenn man die Sache einfacher und bequemer haben kann? Bebel wendet sich in erster Linie an den heutigen Staat: ,,Da muß die Gesetzgebung eingreifen." Er erkennt die guten Wirkungen der bisherigen Sozialgesetzgebung an, indem er z. B. von der Verordnung des Bundesrates vom 9. Mai zur Regelung der Arbeitsbedingungen in den Zigarren¬ fabriken bekennt: „Diese Verordnung war unzweifelhaft sehr notwendig, und ihre wohlthätige Wirkung wird heute überall anerkannt." Demgemäß wünscht er auch für das Bäckereigcwerbe die Festsetzung einer bestimmten täglichem Arbeitszeit und das Verbot der Sonntagsarbeit und der Nachtarbeit auf dem Wege des Gesetzes ausgesprochen zu sehen. Nebenbei bemerkt, würde es in der That vielleicht recht empfehlenswert sein, nach englischer Art die Verhältnisse der einzelnen Gewerbe dnrch Spezial- gesetze zu regeln, statt in der Novelle zur Gewerbeordnung zahllose allgemeine Bestimmungen zu treffen und dann gegenüber den Besonderheiten der Gewerbe die Regel durch zahlreiche Ausnahmen zu durchbrechen. Die englischen Vor¬ bilder sind ja heute ebenso beliebt, wie zu der Zeit, wo man die allein selig¬ machenden Theorien des Parlamentarismus und des Freihandels ans England verschrieb. Freilich kommt alles darauf an, in wessen Hände man die Ausführung der Gesetze legt. Und da kann man es Bebel nicht verdenken, wenn er den Versuch der Gewerbevrdnungsnovelle, die gewerberätliche Aufsicht der Betriebe ihrer Mitglieder den Innungen einzuräumen, statt den Fabrikinspektoren, abfällig beurteilt. „Entschlösse man sich, in den verschiednen Richtungen mit Nachdruck vorzugehen, so würden binnen wenigen Jahren im Bäckereigewerbe Zustände herrschen, die sehr weit von den heutigen verschieden find, aber den Interessen der Arbeiter wie des Publikums in hohem Maße gerecht würden und sicher nicht zum Schaden der Unternehmer ausschlügen. Bis jetzt haben noch alle Reformen in den sozialen Verhältnissen eines Gewerbes dasselbe nur gehoben und nie geschädigt." Warum sollte Bebel vergeblich an die heutige Gesetzgebung appelliren? Wenn er darauf verzichtet, die Phrasen von sozialer Revolution in die That umzusetzen, wenn er sich mit Reformen begnügt, dann wird er uns alle bereit finden, bereit, auch die Schäden unsrer Wirtschaft zu heilen, die ein Bebel aufgedeckt hat. Mag er seiue Enquete sins irg, ot stnäio veranstaltet haben oder nicht — wir nehmen sie so!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/235>, abgerufen am 23.07.2024.