Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

zwar amtlicher Untersuchung; keineswegs soll damit ein voll abgeschlossenes
Gemälde von Zuständen in der Bäckerei gegeben worden sein,"

Wenn man aber den typischen Charakter der eingegangenen Antworten
selbst bemängeln wollte, indem man vermutete, die 745 Berichterstatter wären
wahrscheinlich die Vertreter der 745 schlechtesten Betriebe, jedenfalls aber
Sozialdemokraten, die nur grau in grau zu malen verstünden, so zeigen die
wörtlich mitgeteilten Berichte in ihrer großen Mannichfaltigkeit der gefällten
Urteile das Gegenteil. Den Verfasser aber etwa der Fälschung des Materials
zu zeihen, dafür liegt weder Veranlassung noch Berechtigung vor, ganz abge¬
sehen davon, daß überall da, wo eine Kontrole möglich ist, so z. B. in Bezug
auf die Angaben über die Wohnungsverhältnisse der Arbeiter im Bäckerei-
gewcrbe, diese Kontrole die Wahrheit der gemachten Mitteilungen durchaus
bestätigt. Ja wir dürfen dem Verfasser sogar glauben, wenn er behauptet,
daß er nichts Günstiges verschwiegen, dagegen allzu schroffe Urteile über un¬
günstige Verhältnisse vielfach unterdrückt habe. Somit würde eigentlich den
Gegnern die Pflicht der Beweisführung obliegen, daß die Verhältnisse im
Väckereigewerbe im wesentlichen andre seien, als es die Enquete er¬
scheinen läßt.

Welcher Art sind nun diese Verhältnisse? Bebel kommt zu dein Schluß,
die Bäckerei sei eines der menschenverwüstendsten Gewerbe, die es überhaupt
gebe, sie wirke im höchsten Grade korruinpirend und degenerirend ans ihre
Arbeiter ein, und in wenigen Jahrzehnten würde in der Bäckerei kein Arbeiter¬
stamm mehr vorhanden sein, wenn ihr nicht beständig, und namentlich ans der
Landbevölkerung, eine Menge frischer Kräfte und frisches Blut zugeführt
würden.

Diese Behauptung ist in der That glaubhaft, wenn man an Vebels
Material sieht, wie, wenn anch durchaus nicht in allen, aber doch in vielen
Bäckereibetrieben die Arbeitszeit, insbesondre die Nachtarbeit, die Sonntags-
arbeit und die Lehrlingsarbeit unmäßig ausgedehnt wird, und unter welch un¬
günstigen Bedingungen die Bäcker leben, insbesondre wohnen und schlafen
müssen.

Die regelmäßige Arbeitszeit beträgt in 63,2 Prozent der beobachteten
Betriebe vierzehn Stunden und länger täglich, die Sonntagsarbeit fehlt nur
in 2,8 Prozent und beträgt in 20,6 Prozent der Betriebe sechzehn Stunden
und mehr. Abgesehen von den jüdischen Betrieben, die sich auch auf diesem
Gebiete in Bezug auf Sonn- und Festtagsfeier von den christlichen vorteilhaft
auszeichnen, giebt es nur in wenigen Betrieben eine nennenswerte Zahl
ganzer Ruhetage, in vielen überhaupt während des ganzen Jahres keinen
Ruhetag.

Die in Überzahl gezüchteten Lehrlinge müssen vielfach noch länger arbeiten
als die Gesellen, werden zu allen möglichen Nebenarbeiten verwendet und für


zwar amtlicher Untersuchung; keineswegs soll damit ein voll abgeschlossenes
Gemälde von Zuständen in der Bäckerei gegeben worden sein,"

Wenn man aber den typischen Charakter der eingegangenen Antworten
selbst bemängeln wollte, indem man vermutete, die 745 Berichterstatter wären
wahrscheinlich die Vertreter der 745 schlechtesten Betriebe, jedenfalls aber
Sozialdemokraten, die nur grau in grau zu malen verstünden, so zeigen die
wörtlich mitgeteilten Berichte in ihrer großen Mannichfaltigkeit der gefällten
Urteile das Gegenteil. Den Verfasser aber etwa der Fälschung des Materials
zu zeihen, dafür liegt weder Veranlassung noch Berechtigung vor, ganz abge¬
sehen davon, daß überall da, wo eine Kontrole möglich ist, so z. B. in Bezug
auf die Angaben über die Wohnungsverhältnisse der Arbeiter im Bäckerei-
gewcrbe, diese Kontrole die Wahrheit der gemachten Mitteilungen durchaus
bestätigt. Ja wir dürfen dem Verfasser sogar glauben, wenn er behauptet,
daß er nichts Günstiges verschwiegen, dagegen allzu schroffe Urteile über un¬
günstige Verhältnisse vielfach unterdrückt habe. Somit würde eigentlich den
Gegnern die Pflicht der Beweisführung obliegen, daß die Verhältnisse im
Väckereigewerbe im wesentlichen andre seien, als es die Enquete er¬
scheinen läßt.

Welcher Art sind nun diese Verhältnisse? Bebel kommt zu dein Schluß,
die Bäckerei sei eines der menschenverwüstendsten Gewerbe, die es überhaupt
gebe, sie wirke im höchsten Grade korruinpirend und degenerirend ans ihre
Arbeiter ein, und in wenigen Jahrzehnten würde in der Bäckerei kein Arbeiter¬
stamm mehr vorhanden sein, wenn ihr nicht beständig, und namentlich ans der
Landbevölkerung, eine Menge frischer Kräfte und frisches Blut zugeführt
würden.

Diese Behauptung ist in der That glaubhaft, wenn man an Vebels
Material sieht, wie, wenn anch durchaus nicht in allen, aber doch in vielen
Bäckereibetrieben die Arbeitszeit, insbesondre die Nachtarbeit, die Sonntags-
arbeit und die Lehrlingsarbeit unmäßig ausgedehnt wird, und unter welch un¬
günstigen Bedingungen die Bäcker leben, insbesondre wohnen und schlafen
müssen.

Die regelmäßige Arbeitszeit beträgt in 63,2 Prozent der beobachteten
Betriebe vierzehn Stunden und länger täglich, die Sonntagsarbeit fehlt nur
in 2,8 Prozent und beträgt in 20,6 Prozent der Betriebe sechzehn Stunden
und mehr. Abgesehen von den jüdischen Betrieben, die sich auch auf diesem
Gebiete in Bezug auf Sonn- und Festtagsfeier von den christlichen vorteilhaft
auszeichnen, giebt es nur in wenigen Betrieben eine nennenswerte Zahl
ganzer Ruhetage, in vielen überhaupt während des ganzen Jahres keinen
Ruhetag.

Die in Überzahl gezüchteten Lehrlinge müssen vielfach noch länger arbeiten
als die Gesellen, werden zu allen möglichen Nebenarbeiten verwendet und für


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0232" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208811"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_648" prev="#ID_647"> zwar amtlicher Untersuchung; keineswegs soll damit ein voll abgeschlossenes<lb/>
Gemälde von Zuständen in der Bäckerei gegeben worden sein,"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_649"> Wenn man aber den typischen Charakter der eingegangenen Antworten<lb/>
selbst bemängeln wollte, indem man vermutete, die 745 Berichterstatter wären<lb/>
wahrscheinlich die Vertreter der 745 schlechtesten Betriebe, jedenfalls aber<lb/>
Sozialdemokraten, die nur grau in grau zu malen verstünden, so zeigen die<lb/>
wörtlich mitgeteilten Berichte in ihrer großen Mannichfaltigkeit der gefällten<lb/>
Urteile das Gegenteil. Den Verfasser aber etwa der Fälschung des Materials<lb/>
zu zeihen, dafür liegt weder Veranlassung noch Berechtigung vor, ganz abge¬<lb/>
sehen davon, daß überall da, wo eine Kontrole möglich ist, so z. B. in Bezug<lb/>
auf die Angaben über die Wohnungsverhältnisse der Arbeiter im Bäckerei-<lb/>
gewcrbe, diese Kontrole die Wahrheit der gemachten Mitteilungen durchaus<lb/>
bestätigt. Ja wir dürfen dem Verfasser sogar glauben, wenn er behauptet,<lb/>
daß er nichts Günstiges verschwiegen, dagegen allzu schroffe Urteile über un¬<lb/>
günstige Verhältnisse vielfach unterdrückt habe. Somit würde eigentlich den<lb/>
Gegnern die Pflicht der Beweisführung obliegen, daß die Verhältnisse im<lb/>
Väckereigewerbe im wesentlichen andre seien, als es die Enquete er¬<lb/>
scheinen läßt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_650"> Welcher Art sind nun diese Verhältnisse? Bebel kommt zu dein Schluß,<lb/>
die Bäckerei sei eines der menschenverwüstendsten Gewerbe, die es überhaupt<lb/>
gebe, sie wirke im höchsten Grade korruinpirend und degenerirend ans ihre<lb/>
Arbeiter ein, und in wenigen Jahrzehnten würde in der Bäckerei kein Arbeiter¬<lb/>
stamm mehr vorhanden sein, wenn ihr nicht beständig, und namentlich ans der<lb/>
Landbevölkerung, eine Menge frischer Kräfte und frisches Blut zugeführt<lb/>
würden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_651"> Diese Behauptung ist in der That glaubhaft, wenn man an Vebels<lb/>
Material sieht, wie, wenn anch durchaus nicht in allen, aber doch in vielen<lb/>
Bäckereibetrieben die Arbeitszeit, insbesondre die Nachtarbeit, die Sonntags-<lb/>
arbeit und die Lehrlingsarbeit unmäßig ausgedehnt wird, und unter welch un¬<lb/>
günstigen Bedingungen die Bäcker leben, insbesondre wohnen und schlafen<lb/>
müssen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_652"> Die regelmäßige Arbeitszeit beträgt in 63,2 Prozent der beobachteten<lb/>
Betriebe vierzehn Stunden und länger täglich, die Sonntagsarbeit fehlt nur<lb/>
in 2,8 Prozent und beträgt in 20,6 Prozent der Betriebe sechzehn Stunden<lb/>
und mehr. Abgesehen von den jüdischen Betrieben, die sich auch auf diesem<lb/>
Gebiete in Bezug auf Sonn- und Festtagsfeier von den christlichen vorteilhaft<lb/>
auszeichnen, giebt es nur in wenigen Betrieben eine nennenswerte Zahl<lb/>
ganzer Ruhetage, in vielen überhaupt während des ganzen Jahres keinen<lb/>
Ruhetag.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_653" next="#ID_654"> Die in Überzahl gezüchteten Lehrlinge müssen vielfach noch länger arbeiten<lb/>
als die Gesellen, werden zu allen möglichen Nebenarbeiten verwendet und für</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0232] zwar amtlicher Untersuchung; keineswegs soll damit ein voll abgeschlossenes Gemälde von Zuständen in der Bäckerei gegeben worden sein," Wenn man aber den typischen Charakter der eingegangenen Antworten selbst bemängeln wollte, indem man vermutete, die 745 Berichterstatter wären wahrscheinlich die Vertreter der 745 schlechtesten Betriebe, jedenfalls aber Sozialdemokraten, die nur grau in grau zu malen verstünden, so zeigen die wörtlich mitgeteilten Berichte in ihrer großen Mannichfaltigkeit der gefällten Urteile das Gegenteil. Den Verfasser aber etwa der Fälschung des Materials zu zeihen, dafür liegt weder Veranlassung noch Berechtigung vor, ganz abge¬ sehen davon, daß überall da, wo eine Kontrole möglich ist, so z. B. in Bezug auf die Angaben über die Wohnungsverhältnisse der Arbeiter im Bäckerei- gewcrbe, diese Kontrole die Wahrheit der gemachten Mitteilungen durchaus bestätigt. Ja wir dürfen dem Verfasser sogar glauben, wenn er behauptet, daß er nichts Günstiges verschwiegen, dagegen allzu schroffe Urteile über un¬ günstige Verhältnisse vielfach unterdrückt habe. Somit würde eigentlich den Gegnern die Pflicht der Beweisführung obliegen, daß die Verhältnisse im Väckereigewerbe im wesentlichen andre seien, als es die Enquete er¬ scheinen läßt. Welcher Art sind nun diese Verhältnisse? Bebel kommt zu dein Schluß, die Bäckerei sei eines der menschenverwüstendsten Gewerbe, die es überhaupt gebe, sie wirke im höchsten Grade korruinpirend und degenerirend ans ihre Arbeiter ein, und in wenigen Jahrzehnten würde in der Bäckerei kein Arbeiter¬ stamm mehr vorhanden sein, wenn ihr nicht beständig, und namentlich ans der Landbevölkerung, eine Menge frischer Kräfte und frisches Blut zugeführt würden. Diese Behauptung ist in der That glaubhaft, wenn man an Vebels Material sieht, wie, wenn anch durchaus nicht in allen, aber doch in vielen Bäckereibetrieben die Arbeitszeit, insbesondre die Nachtarbeit, die Sonntags- arbeit und die Lehrlingsarbeit unmäßig ausgedehnt wird, und unter welch un¬ günstigen Bedingungen die Bäcker leben, insbesondre wohnen und schlafen müssen. Die regelmäßige Arbeitszeit beträgt in 63,2 Prozent der beobachteten Betriebe vierzehn Stunden und länger täglich, die Sonntagsarbeit fehlt nur in 2,8 Prozent und beträgt in 20,6 Prozent der Betriebe sechzehn Stunden und mehr. Abgesehen von den jüdischen Betrieben, die sich auch auf diesem Gebiete in Bezug auf Sonn- und Festtagsfeier von den christlichen vorteilhaft auszeichnen, giebt es nur in wenigen Betrieben eine nennenswerte Zahl ganzer Ruhetage, in vielen überhaupt während des ganzen Jahres keinen Ruhetag. Die in Überzahl gezüchteten Lehrlinge müssen vielfach noch länger arbeiten als die Gesellen, werden zu allen möglichen Nebenarbeiten verwendet und für

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/232
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/232>, abgerufen am 23.07.2024.