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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Das allgemeine Wahlrecht

Die Leser, die nunmehr einen schweren Ansturm gegen das bestehende
Wahlgesetz erwarten, werden sich vermutlich enttäuscht fühlen. Doch kann eS
sich nach den bisherigen Ausführungen für uns nur darum handeln, eine Ein¬
schränkung, nicht die Beseitigung des ungemeinen Wahlrechtes zu erstreben,
mit andern Worten: nnr die Elemente fern zu halten, die mau mit ziemlicher
Gewißheit als wahluntauglich bezeichnen kann. Von diesem Gesichtspunkte ans
empfehle ich folgende Sätze: 1. Im deutschen Reiche besteht die allgemeine
Wahlpflicht; von dieser Pflicht kann nur in besondern Fällen entbunden werden.
2. Wahlpflichtig ist jeder Deutsche, der das fünfundzwanzigste Lebensjahr voll¬
endet hat nud entweder in der Erfüllung seiner Militärpflicht mindestens ein
Jahr lang gedient hat oder ein Jahreseinkommen von tausend Mark besitzt
oder statt dessen sich als Eigentümer oder Pächter eines Grundstückes im Werte
von etwa dreihundert Mark ausweist. 3. Von der Ausübung der Wahlpflicht
sind ausgeschlossen: die Personen des Soldatenstandes, so lange sie sich bei
der Fahne befinden, b) diejenigen unter 2 bezeichneten Personen, die unter
Vormundschaft oder Kuratel stehen oder durch rechtskräftiges Erkenntnis die
staatsbürgerlichen Rechte verloren haben.

In diesen Sätzen verlangen besonders zwei Punkte eine Begründung, der
Zensus und die Wahlpflicht. Ich will mit dem Zensus beginnen. Der Leser
erinnert sich, daß als die erste Voraussetzung der Wahlfähigkeit eine gewisse
Einsicht und Charakterstärke bezeichnet worden ist. Daraus ergiebt sich die
Verkehrtheit einer Verfassung, die das Wahlrecht einer Anzahl von Bürgern
deshalb erteilt, weil sie eine" bestimmten Steuersatz entrichten. Etwas andres
bedeutet es, wenn man den steuerzahlenden Bürgern das Wahlrecht zuspricht,
weil man von der Voraussetzung ausgeht, daß sie aus Grund ihrer Vermögens¬
lage mit einiger Wahrscheinlichkeit die Bedingungen der Wahlfähigkeit besitzen.
Doch ist ein solcher Maßstab durchaus unzuverlässig und trüglich, und wenn
vollends mit seiner Hilfe, wie eS in Preußen geschieht, die Bevölkerung in
Bürger einer ersten, zweiten und dritten Klasse eingeteilt wird, wobei der
Zufall einen Mann, der in der dritten Abteilung stimmt, einige Straßen weiter
mit demselben Steuersatz in die erste versetzen kann, so erscheint das Verdikt
Bismarcks, der in der denkwürdige" Sitzung am 2". März 1867 das
preußische Wahlgesetz als "das widersinnigste und elendeste von allen" be¬
zeichnete, durchaus begründet.

Derartige Erwägungen stehen nnr scheinbar im Widerspruch mit dem vor¬
geschlagenen Zensus. Denn daß ich mit diesem nicht etwa die Dürftigkeit an
und für sich von den Wahlen fernzuhalten gedenke, ergiebt sich aus dem ander"
Vorschlage, der allen denen, die ihrer Dienstpflicht genügt haben, ohne weiteres
die Wahlfähigkeit beilegt. Natürlich nicht etwa aus dein Grnnde, weil sie für
den geleistete" Dienst einen gewisse" Gegenanspruch erheben könnte", solider"
nnr deshalb, weil sie in jener Hochschule des Gehorsams in der großen Mehr-


Das allgemeine Wahlrecht

Die Leser, die nunmehr einen schweren Ansturm gegen das bestehende
Wahlgesetz erwarten, werden sich vermutlich enttäuscht fühlen. Doch kann eS
sich nach den bisherigen Ausführungen für uns nur darum handeln, eine Ein¬
schränkung, nicht die Beseitigung des ungemeinen Wahlrechtes zu erstreben,
mit andern Worten: nnr die Elemente fern zu halten, die mau mit ziemlicher
Gewißheit als wahluntauglich bezeichnen kann. Von diesem Gesichtspunkte ans
empfehle ich folgende Sätze: 1. Im deutschen Reiche besteht die allgemeine
Wahlpflicht; von dieser Pflicht kann nur in besondern Fällen entbunden werden.
2. Wahlpflichtig ist jeder Deutsche, der das fünfundzwanzigste Lebensjahr voll¬
endet hat nud entweder in der Erfüllung seiner Militärpflicht mindestens ein
Jahr lang gedient hat oder ein Jahreseinkommen von tausend Mark besitzt
oder statt dessen sich als Eigentümer oder Pächter eines Grundstückes im Werte
von etwa dreihundert Mark ausweist. 3. Von der Ausübung der Wahlpflicht
sind ausgeschlossen: die Personen des Soldatenstandes, so lange sie sich bei
der Fahne befinden, b) diejenigen unter 2 bezeichneten Personen, die unter
Vormundschaft oder Kuratel stehen oder durch rechtskräftiges Erkenntnis die
staatsbürgerlichen Rechte verloren haben.

In diesen Sätzen verlangen besonders zwei Punkte eine Begründung, der
Zensus und die Wahlpflicht. Ich will mit dem Zensus beginnen. Der Leser
erinnert sich, daß als die erste Voraussetzung der Wahlfähigkeit eine gewisse
Einsicht und Charakterstärke bezeichnet worden ist. Daraus ergiebt sich die
Verkehrtheit einer Verfassung, die das Wahlrecht einer Anzahl von Bürgern
deshalb erteilt, weil sie eine» bestimmten Steuersatz entrichten. Etwas andres
bedeutet es, wenn man den steuerzahlenden Bürgern das Wahlrecht zuspricht,
weil man von der Voraussetzung ausgeht, daß sie aus Grund ihrer Vermögens¬
lage mit einiger Wahrscheinlichkeit die Bedingungen der Wahlfähigkeit besitzen.
Doch ist ein solcher Maßstab durchaus unzuverlässig und trüglich, und wenn
vollends mit seiner Hilfe, wie eS in Preußen geschieht, die Bevölkerung in
Bürger einer ersten, zweiten und dritten Klasse eingeteilt wird, wobei der
Zufall einen Mann, der in der dritten Abteilung stimmt, einige Straßen weiter
mit demselben Steuersatz in die erste versetzen kann, so erscheint das Verdikt
Bismarcks, der in der denkwürdige« Sitzung am 2». März 1867 das
preußische Wahlgesetz als „das widersinnigste und elendeste von allen" be¬
zeichnete, durchaus begründet.

Derartige Erwägungen stehen nnr scheinbar im Widerspruch mit dem vor¬
geschlagenen Zensus. Denn daß ich mit diesem nicht etwa die Dürftigkeit an
und für sich von den Wahlen fernzuhalten gedenke, ergiebt sich aus dem ander«
Vorschlage, der allen denen, die ihrer Dienstpflicht genügt haben, ohne weiteres
die Wahlfähigkeit beilegt. Natürlich nicht etwa aus dein Grnnde, weil sie für
den geleistete« Dienst einen gewisse« Gegenanspruch erheben könnte«, solider«
nnr deshalb, weil sie in jener Hochschule des Gehorsams in der großen Mehr-


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[0222] Das allgemeine Wahlrecht Die Leser, die nunmehr einen schweren Ansturm gegen das bestehende Wahlgesetz erwarten, werden sich vermutlich enttäuscht fühlen. Doch kann eS sich nach den bisherigen Ausführungen für uns nur darum handeln, eine Ein¬ schränkung, nicht die Beseitigung des ungemeinen Wahlrechtes zu erstreben, mit andern Worten: nnr die Elemente fern zu halten, die mau mit ziemlicher Gewißheit als wahluntauglich bezeichnen kann. Von diesem Gesichtspunkte ans empfehle ich folgende Sätze: 1. Im deutschen Reiche besteht die allgemeine Wahlpflicht; von dieser Pflicht kann nur in besondern Fällen entbunden werden. 2. Wahlpflichtig ist jeder Deutsche, der das fünfundzwanzigste Lebensjahr voll¬ endet hat nud entweder in der Erfüllung seiner Militärpflicht mindestens ein Jahr lang gedient hat oder ein Jahreseinkommen von tausend Mark besitzt oder statt dessen sich als Eigentümer oder Pächter eines Grundstückes im Werte von etwa dreihundert Mark ausweist. 3. Von der Ausübung der Wahlpflicht sind ausgeschlossen: die Personen des Soldatenstandes, so lange sie sich bei der Fahne befinden, b) diejenigen unter 2 bezeichneten Personen, die unter Vormundschaft oder Kuratel stehen oder durch rechtskräftiges Erkenntnis die staatsbürgerlichen Rechte verloren haben. In diesen Sätzen verlangen besonders zwei Punkte eine Begründung, der Zensus und die Wahlpflicht. Ich will mit dem Zensus beginnen. Der Leser erinnert sich, daß als die erste Voraussetzung der Wahlfähigkeit eine gewisse Einsicht und Charakterstärke bezeichnet worden ist. Daraus ergiebt sich die Verkehrtheit einer Verfassung, die das Wahlrecht einer Anzahl von Bürgern deshalb erteilt, weil sie eine» bestimmten Steuersatz entrichten. Etwas andres bedeutet es, wenn man den steuerzahlenden Bürgern das Wahlrecht zuspricht, weil man von der Voraussetzung ausgeht, daß sie aus Grund ihrer Vermögens¬ lage mit einiger Wahrscheinlichkeit die Bedingungen der Wahlfähigkeit besitzen. Doch ist ein solcher Maßstab durchaus unzuverlässig und trüglich, und wenn vollends mit seiner Hilfe, wie eS in Preußen geschieht, die Bevölkerung in Bürger einer ersten, zweiten und dritten Klasse eingeteilt wird, wobei der Zufall einen Mann, der in der dritten Abteilung stimmt, einige Straßen weiter mit demselben Steuersatz in die erste versetzen kann, so erscheint das Verdikt Bismarcks, der in der denkwürdige« Sitzung am 2». März 1867 das preußische Wahlgesetz als „das widersinnigste und elendeste von allen" be¬ zeichnete, durchaus begründet. Derartige Erwägungen stehen nnr scheinbar im Widerspruch mit dem vor¬ geschlagenen Zensus. Denn daß ich mit diesem nicht etwa die Dürftigkeit an und für sich von den Wahlen fernzuhalten gedenke, ergiebt sich aus dem ander« Vorschlage, der allen denen, die ihrer Dienstpflicht genügt haben, ohne weiteres die Wahlfähigkeit beilegt. Natürlich nicht etwa aus dein Grnnde, weil sie für den geleistete« Dienst einen gewisse« Gegenanspruch erheben könnte«, solider« nnr deshalb, weil sie in jener Hochschule des Gehorsams in der großen Mehr-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/222>, abgerufen am 23.07.2024.