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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Das allgemeine Ivahlrecht
1871 waren unter 4126000 Stimmender 124000 Sozialdemokratin
1874 " " 5190000 ., 352000
18775401000493000
18785 760000437000
18815097000312000
18845 663000550000
18877540000763000
1890 " ,, 7228000 " 1427000

Diese Zahlen bekunden das unaufhaltsame Vordringen einer unheilbringenden
Bewegung; sie bezeugen die Thatsache, daß von der Gesamtheit der Wähler
nahezu ein Fünftel bereit sind, an ihrem Teile ans den Umsturz der staatlichen
und gesellschaftlichen Ordnung hinzuarbeiten! Die Irrlehre von dein unbe¬
schränkten Wahlrecht hat es verschuldet, das; Deutschland mehr als andre
Staaten von dieser Bewegung bedroht wird, denn dnrch dieses Wahlrecht
wurde, wie Ludwig Bamberger einmal treffend gesagt hat, für den eine Prämie
ausgesetzt, der durch die größten Verheißungen und gröbsten Verführungen die
nrteilslosen Massen für sich gewinnen würde. Das allgemeine und unbe¬
schränkte Wahlrecht hat die Führer gleichsam von selbst in die Agitation
hineingetrieben und sie ihnen auf jede Weise erleichtert; es hat ihnen ermöglicht,
die verstreuten Truppe" zu einer Armee zu sammeln, die heute die furchtbare
Zahl von anderthalb Millionen beinahe erreicht hat. Und diese Armee folgt
willenlos dem Zeichen ihrer Führer, die von Zeit zu Zeit, bei den wieder¬
kehrenden Reichstagswahlen, eine Heerschau halten und mit steigender Zuversicht
die Stunde des Kampfes erwägen.

Wer gegenüber solchen Wahrnehmungen an seinem Optimismus festhält,
dem ist nicht zu helfen. Aber er verdient nicht mehr die Entschuldigung, die
jene Männer beanspruchen dürsen, die vor einigen Jahrzehnten des Glaubens
waren, daß mau ohne allzugroße Nachteile allen Bürgern ohne weiteres die
Wahlfühigkeit zusprechen dürfe. Schlimme Zeichen verkünden, daß unserm
Staatsschiff eine verderbenschwangere Wolke entgegenzieht; und dennoch sehen
wir Steuerleute und Passagiere, die sich gebärden, als ob jene Wolke sich
verziehen oder statt Feuer und Vernichtung einen leichten Regen herabsenden
würde.

Männer aller Parteien sollten sich vereinigen, nur den falschen Wegweiser
zu beseitigen, der den Staat einem gefährlichen Abgrund entgegenführt. Wohl
wird mancher den Vorwurf scheuen, einen Angriff auf die Freiheit zu begehen,
aber dieser Vorwarf ist unbegründet, weil das Recht, das hier bedroht sein
soll, doch nur ein Scheinrecht ist. Wir halten es für unsre Pflicht, dem Kinde
und dem Rasenden eine gefährliche Waffe zu entziehen: fort also anch mit dem
Bedenken, einer leidenschaftlichen, nrteilslosen Masse ein falsches Recht zu
nehmen, dessen Besitz sie selbst und die ganze Nation mit Verderben bedroht!


Das allgemeine Ivahlrecht
1871 waren unter 4126000 Stimmender 124000 Sozialdemokratin
1874 „ „ 5190000 ., 352000
18775401000493000
18785 760000437000
18815097000312000
18845 663000550000
18877540000763000
1890 „ ,, 7228000 „ 1427000

Diese Zahlen bekunden das unaufhaltsame Vordringen einer unheilbringenden
Bewegung; sie bezeugen die Thatsache, daß von der Gesamtheit der Wähler
nahezu ein Fünftel bereit sind, an ihrem Teile ans den Umsturz der staatlichen
und gesellschaftlichen Ordnung hinzuarbeiten! Die Irrlehre von dein unbe¬
schränkten Wahlrecht hat es verschuldet, das; Deutschland mehr als andre
Staaten von dieser Bewegung bedroht wird, denn dnrch dieses Wahlrecht
wurde, wie Ludwig Bamberger einmal treffend gesagt hat, für den eine Prämie
ausgesetzt, der durch die größten Verheißungen und gröbsten Verführungen die
nrteilslosen Massen für sich gewinnen würde. Das allgemeine und unbe¬
schränkte Wahlrecht hat die Führer gleichsam von selbst in die Agitation
hineingetrieben und sie ihnen auf jede Weise erleichtert; es hat ihnen ermöglicht,
die verstreuten Truppe» zu einer Armee zu sammeln, die heute die furchtbare
Zahl von anderthalb Millionen beinahe erreicht hat. Und diese Armee folgt
willenlos dem Zeichen ihrer Führer, die von Zeit zu Zeit, bei den wieder¬
kehrenden Reichstagswahlen, eine Heerschau halten und mit steigender Zuversicht
die Stunde des Kampfes erwägen.

Wer gegenüber solchen Wahrnehmungen an seinem Optimismus festhält,
dem ist nicht zu helfen. Aber er verdient nicht mehr die Entschuldigung, die
jene Männer beanspruchen dürsen, die vor einigen Jahrzehnten des Glaubens
waren, daß mau ohne allzugroße Nachteile allen Bürgern ohne weiteres die
Wahlfühigkeit zusprechen dürfe. Schlimme Zeichen verkünden, daß unserm
Staatsschiff eine verderbenschwangere Wolke entgegenzieht; und dennoch sehen
wir Steuerleute und Passagiere, die sich gebärden, als ob jene Wolke sich
verziehen oder statt Feuer und Vernichtung einen leichten Regen herabsenden
würde.

Männer aller Parteien sollten sich vereinigen, nur den falschen Wegweiser
zu beseitigen, der den Staat einem gefährlichen Abgrund entgegenführt. Wohl
wird mancher den Vorwurf scheuen, einen Angriff auf die Freiheit zu begehen,
aber dieser Vorwarf ist unbegründet, weil das Recht, das hier bedroht sein
soll, doch nur ein Scheinrecht ist. Wir halten es für unsre Pflicht, dem Kinde
und dem Rasenden eine gefährliche Waffe zu entziehen: fort also anch mit dem
Bedenken, einer leidenschaftlichen, nrteilslosen Masse ein falsches Recht zu
nehmen, dessen Besitz sie selbst und die ganze Nation mit Verderben bedroht!


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/221>, abgerufen am 23.07.2024.