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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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ordnung" schlechterdings nicht erfinden läßt. Es bleibt also nur die Mög¬
lichkeit, die Ailslese der Wahlfähigen nach Klassen vorzunehmen, ein Verfahren,
das natürlich hinsichtlich des Ergebnisses die Genauigkeit einer Einzelmnsternng
niemals erreichen wird. Mau hat es aber auch bei der gegenwärtigen Ein¬
richtung schon zur Anwendung gebracht. So siud z. B. im 8 2 des NeichS-
wahlgesetzes alle Personen des Soldatenstandes, so lange sie sich bei der Fahne
befinden, als zeitlich wahluntauglich erklärt, und eine dauernde Untauglichkeit
ist bekanntlich über die ganze bessere Hälfte der Menschheit, über die Frauen
ausgesprochen. Und das doch offenbar aus keinem andern Gründe, als weil
ihr besondrer Beruf es mit sich bringt, daß sie sich in der Mehrzahl um
politische Dinge nicht kümmern und im eignen Urteil nur einen schwachen
Widerstand gegen fremde Einwirkungen finden würden. Auch die unter Kuratel
stehenden, die falliten und die dnrch öffentliche Armenpflege unterstützten Per¬
sonen bilden Klassen, die als wahluutauglich bezeichnet werden; im übrigen
aber hat sich das Gesetz aus eine Musterung uicht eingelassen und ist so zu
dem Schlüsse gelaugt, daß es jedem fünfundzwanzigjährigen Bürger ohne
weiteres die Fähigkeit zuerkannte, sich durch die Wahlen an der Gesetzgebung
zu beteiligen.

Ein Staatsmann, der sich zu dem Grundsätze des allgemeinen lind unbe¬
schränkten Wahlrechtes bekennt, befindet sich, wie mir scheint, in einem der
folgenden Fälle. Entweder irrt er hinsichtlich der zu Gründe liegenden Be¬
griffe, indem er Recht und Pflicht nicht unterscheidet, oder er giebt sich über
die Folgen jenes Grundsatzes einer optimistischen Auffassung hin. oder endlich
er glaubt durch ihn Vorteile erreichen zu können, die seiue Nachteile überwiegen.
Es liegt klar am Tage, daß der Artikel 20 der Reichsverfassung einem Zu¬
sammentreffen des zweiten lind dritten Falles seinen Ursprung zu danken hat.
Bismarck glaubte durch die Annahme des Reichswahlgesetzes vom Jahre
die widerstrebende Gesinnung der deutschen Bevölkerung außerhalb Preußens
zu versöhnen und zugleich dem Einheitsbau eine feste Grundlage gegenüber
den Souderiuteresfeu der Fürsten zu schaffen. Das erste dieser Ziele liegt
heute hinter uns, und das zweite jedenfalls nicht mehr in der alten Weise vor
uns. Denn Bismarck hat selbst einmal vor mehreren Jahren die Äußerung
gethan, daß die nationale Einheit ihre festeste Stütze, anders als früher, in
der buiidestreueu Gesinnung der Fürsten habe. Dieses Geständnis ist
deshalb von besonderen Gewicht, weil es erkennen läßt, daß dem leitenden
Staatsmanne, der an erster Stelle die Einführung des allgemeinen Wahl¬
rechtes durchgesetzt hatte, ein Zweifel an seinem frühern Optimismus auf¬
gestiegen war.

Welcher Art aber sind die Erfahrungen, die das deutsche Reich
in eiuer fast zwanzigjährigen Entwicklung mit seinem Wahlgesetz ge¬
macht hat?


ordnung" schlechterdings nicht erfinden läßt. Es bleibt also nur die Mög¬
lichkeit, die Ailslese der Wahlfähigen nach Klassen vorzunehmen, ein Verfahren,
das natürlich hinsichtlich des Ergebnisses die Genauigkeit einer Einzelmnsternng
niemals erreichen wird. Mau hat es aber auch bei der gegenwärtigen Ein¬
richtung schon zur Anwendung gebracht. So siud z. B. im 8 2 des NeichS-
wahlgesetzes alle Personen des Soldatenstandes, so lange sie sich bei der Fahne
befinden, als zeitlich wahluntauglich erklärt, und eine dauernde Untauglichkeit
ist bekanntlich über die ganze bessere Hälfte der Menschheit, über die Frauen
ausgesprochen. Und das doch offenbar aus keinem andern Gründe, als weil
ihr besondrer Beruf es mit sich bringt, daß sie sich in der Mehrzahl um
politische Dinge nicht kümmern und im eignen Urteil nur einen schwachen
Widerstand gegen fremde Einwirkungen finden würden. Auch die unter Kuratel
stehenden, die falliten und die dnrch öffentliche Armenpflege unterstützten Per¬
sonen bilden Klassen, die als wahluutauglich bezeichnet werden; im übrigen
aber hat sich das Gesetz aus eine Musterung uicht eingelassen und ist so zu
dem Schlüsse gelaugt, daß es jedem fünfundzwanzigjährigen Bürger ohne
weiteres die Fähigkeit zuerkannte, sich durch die Wahlen an der Gesetzgebung
zu beteiligen.

Ein Staatsmann, der sich zu dem Grundsätze des allgemeinen lind unbe¬
schränkten Wahlrechtes bekennt, befindet sich, wie mir scheint, in einem der
folgenden Fälle. Entweder irrt er hinsichtlich der zu Gründe liegenden Be¬
griffe, indem er Recht und Pflicht nicht unterscheidet, oder er giebt sich über
die Folgen jenes Grundsatzes einer optimistischen Auffassung hin. oder endlich
er glaubt durch ihn Vorteile erreichen zu können, die seiue Nachteile überwiegen.
Es liegt klar am Tage, daß der Artikel 20 der Reichsverfassung einem Zu¬
sammentreffen des zweiten lind dritten Falles seinen Ursprung zu danken hat.
Bismarck glaubte durch die Annahme des Reichswahlgesetzes vom Jahre
die widerstrebende Gesinnung der deutschen Bevölkerung außerhalb Preußens
zu versöhnen und zugleich dem Einheitsbau eine feste Grundlage gegenüber
den Souderiuteresfeu der Fürsten zu schaffen. Das erste dieser Ziele liegt
heute hinter uns, und das zweite jedenfalls nicht mehr in der alten Weise vor
uns. Denn Bismarck hat selbst einmal vor mehreren Jahren die Äußerung
gethan, daß die nationale Einheit ihre festeste Stütze, anders als früher, in
der buiidestreueu Gesinnung der Fürsten habe. Dieses Geständnis ist
deshalb von besonderen Gewicht, weil es erkennen läßt, daß dem leitenden
Staatsmanne, der an erster Stelle die Einführung des allgemeinen Wahl¬
rechtes durchgesetzt hatte, ein Zweifel an seinem frühern Optimismus auf¬
gestiegen war.

Welcher Art aber sind die Erfahrungen, die das deutsche Reich
in eiuer fast zwanzigjährigen Entwicklung mit seinem Wahlgesetz ge¬
macht hat?


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/220>, abgerufen am 23.07.2024.