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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Das allgemeine Wahlrecht

Zu den unveräußerlichen Rechten, die alle Bürger ohne Unterschied
gegenüber dein Staate haben, gehört an erster Stelle dieses, durch gute Ge¬
setze regiert zu werdeu. Wer das zugiebt, und wer möchte das nicht? muß
notwendig den Grundsatz des allgemeinen und unbeschränkten Wahlrechtes als
irrig verwerfen. Denn weil gute Gesetze nur dann zustande kommen, wenn
die Wahl der Gesetzgeber durch die dazu befähigten vorgenommen wird, und
weil diese Fähigkeit auf Einsicht und Gewissenhaftigkeit beruht, so wäre der
Satz von dem allgemeinen und unbeschränkten Wahlrecht offenbar gleich¬
bedeutend mit einem zweiten, der allen Menschen einen ausgiebigen, der Größe
der Nnfgabe angemessenen Besitz von Einsicht und Gewissenhaftigkeit beilegt,
eine Behauptung, zu der sich in dieser Fassung schwerlich ein Gleichheitsapvstel
versteigen möchte.

Schon das Wort "Wahlrecht" erscheint mir insofern übel gewählt, als
es die Gefahr nahelegt, die Dinge in einer falschen Beleuchtung zu betrachten.
Ich bin weit davon entfernt, als Sprachverbesserer auftreten zu wollen; aber
daß es ein Wort giebt, das den hier obwaltenden Verhältnissen ein schärferes
und ehrlicheres Gepräge aufdrücken würde, mag der Leser aus folgender Er¬
wägung entnehmen. Die Verteidiger des allgemeinen Wahlrechts lieben es,
ans die allgemeine Wehrpflicht hinzuweisen und diese als einen Hauptbeweis¬
grund für jeues zu bezeichnen. Wie aber steht es damit in Wirklichkeit?
Wohl hat jeder Deutsche nach dem Gesetz die Pflicht, zu dienen, jedoch die
Militärbehörde würde sich bestens bedanken, wenn jemand auf deu Einfall
käme, aus dieser Pflicht ein Recht herzuleiten. Es gilt vielmehr als selbst¬
verständlich, daß eine Musterung stattfindet, und daß man die jungen Männer,
die als untauglich befunden werden, zurückweist. Ist nun etwa die Aufgabe,
den Volksvertreter zu ernennen, der dazu beitragen soll, das Vaterland durch
gute Gesetze im Innern zu stärken, weniger verantwortlich als die, es nach
außen zu schützen? Mir wenigstens will es scheinen, als ob beide Aufgaben
in so hohem Grade bedeutungsvoll wäre", daß es schwer sein dürste, zu ent¬
scheiden, welche die größere Verantwortung in sich trägt. In Betreff der
Fähigkeiten aber verhält es sich so: zu beiden Aufgaben gehört, um sie gut
zu lösen, ein großes Maß von Vaterlandsliebe, Selbstverleugnung und
Charakterstärke; während aber die Diensttauglichkeit an erster Stelle von einem
gesunden und kräftigen Körper abhängt, setzt die Wahlfähigkeit vor allem andern
einen gesunden und gereiften Verstand voraus.

Die Militärbehörde ist in der glücklichen Lage, daß sie wegen der ver¬
hältnismäßig geringen Zahl der Dienstpflichtigen und wegen der Beschaffenheit
der an dem Körper haftende" Tauglichkeitsmerkmale bei jedem Einzelnen eine
Prüfung vornehmen kann. Dagegen läßt sich die Auslese der Wahlfähigen
schon deshalb nicht im einzelnen vornehmen, weil deren Musterung sich ans
solche Eigenschaften erstrecken müßte, für die sich eine "allgemeine Prüflings-


Das allgemeine Wahlrecht

Zu den unveräußerlichen Rechten, die alle Bürger ohne Unterschied
gegenüber dein Staate haben, gehört an erster Stelle dieses, durch gute Ge¬
setze regiert zu werdeu. Wer das zugiebt, und wer möchte das nicht? muß
notwendig den Grundsatz des allgemeinen und unbeschränkten Wahlrechtes als
irrig verwerfen. Denn weil gute Gesetze nur dann zustande kommen, wenn
die Wahl der Gesetzgeber durch die dazu befähigten vorgenommen wird, und
weil diese Fähigkeit auf Einsicht und Gewissenhaftigkeit beruht, so wäre der
Satz von dem allgemeinen und unbeschränkten Wahlrecht offenbar gleich¬
bedeutend mit einem zweiten, der allen Menschen einen ausgiebigen, der Größe
der Nnfgabe angemessenen Besitz von Einsicht und Gewissenhaftigkeit beilegt,
eine Behauptung, zu der sich in dieser Fassung schwerlich ein Gleichheitsapvstel
versteigen möchte.

Schon das Wort „Wahlrecht" erscheint mir insofern übel gewählt, als
es die Gefahr nahelegt, die Dinge in einer falschen Beleuchtung zu betrachten.
Ich bin weit davon entfernt, als Sprachverbesserer auftreten zu wollen; aber
daß es ein Wort giebt, das den hier obwaltenden Verhältnissen ein schärferes
und ehrlicheres Gepräge aufdrücken würde, mag der Leser aus folgender Er¬
wägung entnehmen. Die Verteidiger des allgemeinen Wahlrechts lieben es,
ans die allgemeine Wehrpflicht hinzuweisen und diese als einen Hauptbeweis¬
grund für jeues zu bezeichnen. Wie aber steht es damit in Wirklichkeit?
Wohl hat jeder Deutsche nach dem Gesetz die Pflicht, zu dienen, jedoch die
Militärbehörde würde sich bestens bedanken, wenn jemand auf deu Einfall
käme, aus dieser Pflicht ein Recht herzuleiten. Es gilt vielmehr als selbst¬
verständlich, daß eine Musterung stattfindet, und daß man die jungen Männer,
die als untauglich befunden werden, zurückweist. Ist nun etwa die Aufgabe,
den Volksvertreter zu ernennen, der dazu beitragen soll, das Vaterland durch
gute Gesetze im Innern zu stärken, weniger verantwortlich als die, es nach
außen zu schützen? Mir wenigstens will es scheinen, als ob beide Aufgaben
in so hohem Grade bedeutungsvoll wäre», daß es schwer sein dürste, zu ent¬
scheiden, welche die größere Verantwortung in sich trägt. In Betreff der
Fähigkeiten aber verhält es sich so: zu beiden Aufgaben gehört, um sie gut
zu lösen, ein großes Maß von Vaterlandsliebe, Selbstverleugnung und
Charakterstärke; während aber die Diensttauglichkeit an erster Stelle von einem
gesunden und kräftigen Körper abhängt, setzt die Wahlfähigkeit vor allem andern
einen gesunden und gereiften Verstand voraus.

Die Militärbehörde ist in der glücklichen Lage, daß sie wegen der ver¬
hältnismäßig geringen Zahl der Dienstpflichtigen und wegen der Beschaffenheit
der an dem Körper haftende» Tauglichkeitsmerkmale bei jedem Einzelnen eine
Prüfung vornehmen kann. Dagegen läßt sich die Auslese der Wahlfähigen
schon deshalb nicht im einzelnen vornehmen, weil deren Musterung sich ans
solche Eigenschaften erstrecken müßte, für die sich eine „allgemeine Prüflings-


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[0219] Das allgemeine Wahlrecht Zu den unveräußerlichen Rechten, die alle Bürger ohne Unterschied gegenüber dein Staate haben, gehört an erster Stelle dieses, durch gute Ge¬ setze regiert zu werdeu. Wer das zugiebt, und wer möchte das nicht? muß notwendig den Grundsatz des allgemeinen und unbeschränkten Wahlrechtes als irrig verwerfen. Denn weil gute Gesetze nur dann zustande kommen, wenn die Wahl der Gesetzgeber durch die dazu befähigten vorgenommen wird, und weil diese Fähigkeit auf Einsicht und Gewissenhaftigkeit beruht, so wäre der Satz von dem allgemeinen und unbeschränkten Wahlrecht offenbar gleich¬ bedeutend mit einem zweiten, der allen Menschen einen ausgiebigen, der Größe der Nnfgabe angemessenen Besitz von Einsicht und Gewissenhaftigkeit beilegt, eine Behauptung, zu der sich in dieser Fassung schwerlich ein Gleichheitsapvstel versteigen möchte. Schon das Wort „Wahlrecht" erscheint mir insofern übel gewählt, als es die Gefahr nahelegt, die Dinge in einer falschen Beleuchtung zu betrachten. Ich bin weit davon entfernt, als Sprachverbesserer auftreten zu wollen; aber daß es ein Wort giebt, das den hier obwaltenden Verhältnissen ein schärferes und ehrlicheres Gepräge aufdrücken würde, mag der Leser aus folgender Er¬ wägung entnehmen. Die Verteidiger des allgemeinen Wahlrechts lieben es, ans die allgemeine Wehrpflicht hinzuweisen und diese als einen Hauptbeweis¬ grund für jeues zu bezeichnen. Wie aber steht es damit in Wirklichkeit? Wohl hat jeder Deutsche nach dem Gesetz die Pflicht, zu dienen, jedoch die Militärbehörde würde sich bestens bedanken, wenn jemand auf deu Einfall käme, aus dieser Pflicht ein Recht herzuleiten. Es gilt vielmehr als selbst¬ verständlich, daß eine Musterung stattfindet, und daß man die jungen Männer, die als untauglich befunden werden, zurückweist. Ist nun etwa die Aufgabe, den Volksvertreter zu ernennen, der dazu beitragen soll, das Vaterland durch gute Gesetze im Innern zu stärken, weniger verantwortlich als die, es nach außen zu schützen? Mir wenigstens will es scheinen, als ob beide Aufgaben in so hohem Grade bedeutungsvoll wäre», daß es schwer sein dürste, zu ent¬ scheiden, welche die größere Verantwortung in sich trägt. In Betreff der Fähigkeiten aber verhält es sich so: zu beiden Aufgaben gehört, um sie gut zu lösen, ein großes Maß von Vaterlandsliebe, Selbstverleugnung und Charakterstärke; während aber die Diensttauglichkeit an erster Stelle von einem gesunden und kräftigen Körper abhängt, setzt die Wahlfähigkeit vor allem andern einen gesunden und gereiften Verstand voraus. Die Militärbehörde ist in der glücklichen Lage, daß sie wegen der ver¬ hältnismäßig geringen Zahl der Dienstpflichtigen und wegen der Beschaffenheit der an dem Körper haftende» Tauglichkeitsmerkmale bei jedem Einzelnen eine Prüfung vornehmen kann. Dagegen läßt sich die Auslese der Wahlfähigen schon deshalb nicht im einzelnen vornehmen, weil deren Musterung sich ans solche Eigenschaften erstrecken müßte, für die sich eine „allgemeine Prüflings-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/219>, abgerufen am 23.07.2024.