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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Das allgemeine Wahlrecht

Bestrebungen Österreichs entgegengesetzt. Es hat ja gewiß eine große Anzahl
von Mängeln, die machen, daß auch dieses Wahlgesetz die besonnene und
berechtigte Meinung eines Volkes nicht vollständig photographier und cui
Mirmtriro wiedergiebt, und die verbündeten Regierungen hängen an diesem
Wahlgesetze nicht in dein Maße, daß sie uicht jedes andre acceptiren sollten,
dessen Vorzüge vor diesen: ihnen nachgewiesen werden." Gegen die Empfeh¬
lung, die dem Grundsatz des unbeschränkten Wahlrechtes aus diesem Munde
zuteil wurde, vermochten die Befürchtungen seiner Gegner nicht durchzudringen,
und zuletzt wurde der betreffende Artikel in folgender Fassung angenommen:
"Der Reichstag geht aus allgemeinen und direkten Wahlen mit geheimer Ab¬
stimmung hervor, welche bis zum Erlaß eines Neichswahlgesetzes nach Ma߬
gabe des Gesetzes zu erfolgen haben, auf Grund dessen der erste Reichstag des
Norddeutschen Bundes gewählt worden ist."

Das hier in Aussicht gestellte Wahlgesetz wurde am ^1. Mai 1L6" ver¬
kündigt; es hat den Grundsatz des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes
bestehen lassen und ist später auf Grund der mit Baiern, Württemberg,
Baden und Hessen getroffenen Vereinbarungen als Reichsgesetz in Kraft
getreten. Als solches bildet es die notwendige Ergänzung des Artikels 20
der Reichsverfassung, der seitdem, mit iichaltschwerer Kürze also lautet:
Der Reichstag geht aus allgemeinen und direkten Wahlen mit geheimer Ab¬
stimmung hervor.

Die bisherige Untersuchung hat die Thatsache ergeben, daß die preußische
Regierung vorwiegend aus Erwägungen der auswärtigen Politik das Reichs¬
wahlgesetz des Jahres 184!" aufgenommen hat. Da wir uns aber des selt¬
samen Zufalles erinnern, der in Frankfurt dem Grundsatze des unbeschränkten
Wahlrechts zum Siege VerHals, so vermag uns die geschichtliche Berech¬
tigung des Artikels 20 der Reichsverfassung nur wenig Vertrauen ein¬
zuflößen. Umso mehr erscheint es am Platze, ihn auf seinen innern Wert
zu prüfen.

Eine der höchsten Aufgaben, die der in vernünftiger Weise eingerichtete
Staat zu lösen hat, ist die Wohlfahrt seiner Bürger, insofern diese durch
staatliche Einrichtungen und Gesetze gefördert werden kann. Weil sich aber in
den entwickelten Staaten der Gegenwart das Volk durch gewählte Vertreter
an der Gesetzgebung beteiligt, so hängt die Güte der Gesetze zum großen Teil
davon ab, ob sich die Wahl der Gesetzgeber auf die Tüchtigen und Weisen
lenkt, ein Satz, den mau ebenso selbstverständlich finden wird, wie den, daß
die Auswahl nur dann gut sein kann, wenn sie von denen vollzogen wird,
die dazu befähigt sind. Diese Fähigkeit beruht aber offenbar ans zwei Vor¬
aussetzungen: ans dem Verständnis der vom Staate zu lösenden Aufgaben und
auf der Charakterstärke, durch selbstsüchtige Beweggründe unbeirrt einen ge¬
eigneten Vertreter auszuwählen.


Das allgemeine Wahlrecht

Bestrebungen Österreichs entgegengesetzt. Es hat ja gewiß eine große Anzahl
von Mängeln, die machen, daß auch dieses Wahlgesetz die besonnene und
berechtigte Meinung eines Volkes nicht vollständig photographier und cui
Mirmtriro wiedergiebt, und die verbündeten Regierungen hängen an diesem
Wahlgesetze nicht in dein Maße, daß sie uicht jedes andre acceptiren sollten,
dessen Vorzüge vor diesen: ihnen nachgewiesen werden." Gegen die Empfeh¬
lung, die dem Grundsatz des unbeschränkten Wahlrechtes aus diesem Munde
zuteil wurde, vermochten die Befürchtungen seiner Gegner nicht durchzudringen,
und zuletzt wurde der betreffende Artikel in folgender Fassung angenommen:
„Der Reichstag geht aus allgemeinen und direkten Wahlen mit geheimer Ab¬
stimmung hervor, welche bis zum Erlaß eines Neichswahlgesetzes nach Ma߬
gabe des Gesetzes zu erfolgen haben, auf Grund dessen der erste Reichstag des
Norddeutschen Bundes gewählt worden ist."

Das hier in Aussicht gestellte Wahlgesetz wurde am ^1. Mai 1L6» ver¬
kündigt; es hat den Grundsatz des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes
bestehen lassen und ist später auf Grund der mit Baiern, Württemberg,
Baden und Hessen getroffenen Vereinbarungen als Reichsgesetz in Kraft
getreten. Als solches bildet es die notwendige Ergänzung des Artikels 20
der Reichsverfassung, der seitdem, mit iichaltschwerer Kürze also lautet:
Der Reichstag geht aus allgemeinen und direkten Wahlen mit geheimer Ab¬
stimmung hervor.

Die bisherige Untersuchung hat die Thatsache ergeben, daß die preußische
Regierung vorwiegend aus Erwägungen der auswärtigen Politik das Reichs¬
wahlgesetz des Jahres 184!» aufgenommen hat. Da wir uns aber des selt¬
samen Zufalles erinnern, der in Frankfurt dem Grundsatze des unbeschränkten
Wahlrechts zum Siege VerHals, so vermag uns die geschichtliche Berech¬
tigung des Artikels 20 der Reichsverfassung nur wenig Vertrauen ein¬
zuflößen. Umso mehr erscheint es am Platze, ihn auf seinen innern Wert
zu prüfen.

Eine der höchsten Aufgaben, die der in vernünftiger Weise eingerichtete
Staat zu lösen hat, ist die Wohlfahrt seiner Bürger, insofern diese durch
staatliche Einrichtungen und Gesetze gefördert werden kann. Weil sich aber in
den entwickelten Staaten der Gegenwart das Volk durch gewählte Vertreter
an der Gesetzgebung beteiligt, so hängt die Güte der Gesetze zum großen Teil
davon ab, ob sich die Wahl der Gesetzgeber auf die Tüchtigen und Weisen
lenkt, ein Satz, den mau ebenso selbstverständlich finden wird, wie den, daß
die Auswahl nur dann gut sein kann, wenn sie von denen vollzogen wird,
die dazu befähigt sind. Diese Fähigkeit beruht aber offenbar ans zwei Vor¬
aussetzungen: ans dem Verständnis der vom Staate zu lösenden Aufgaben und
auf der Charakterstärke, durch selbstsüchtige Beweggründe unbeirrt einen ge¬
eigneten Vertreter auszuwählen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/218>, abgerufen am 25.08.2024.