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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Das allgemeine Wahlrecht

heit nur 16 Stimmen fehlten. Nun zeigt aber die Durchmusterung des Ab-
stnumungsverzeichnisses, daß sich unter den 239 Gegnern des Antrages mehr
als 16 befanden, von denen es gleichsam urkundlich feststeht, daß sie die Aus¬
dehnung des Wahlrechtes in der Form der endgiltigen Beschlüsse entschieden
mißbilligten. Die Abgeordneten von Keller, Schreiber, Dciters, Eisenmann,
Fischer, Kvhlparzer, Höslen, Wiese, Frisch, Renger, Prinzinger, Qnesar, Weiß,
Kagenbauer, Biedermann, Goder, Schreiner, Pfeiffer u. a. haben während der
Verhandlung Anträge gestellt oder unterstützt, die auf eine Einschränkung des
Wahlrechtes durch Zensus oder Grundbesitz hinzielten; trotzdem stimmten sie
mit der Mehrheit, welche den Antrag Hofmanns zu Falle brachte! Übrigens
scheint mir das Ergebnis der Abstimmung, das die Meinung der Mehrheit
nicht zum Ausdruck gelangen ließ, zum großen Teil durch eine ungeschickte
und verkehrte Fragestellung verschuldet worden zu sein. Aber wie dem auch
sein mag, jedenfalls läßt sich nicht an der Thatsache rütteln, daß die Frank¬
furter Nationalversammlung in ihrer Mehrheit den Grundsatz des unbe¬
schränkten Wahlrechtes uicht anerkannt hat, eine Thatsache, die deshalb umso
schwerer wiegt, weil jene Versammlung mit der Verwerfung dieses Grund¬
satzes zugleich die Grundlage, auf der sie selbst entstanden war, erschüttern
mußte.

Mit der Veröffentlichung der Reichsverfassung schien das allgemeine
Wahlrecht glücklich unter Dach gebracht. Aber das deutsche Staatsgebäude
stand nach wie vor in trümmerhafter Zerklüftung. Freilich war es ein großes
Glück, daß unzählige Männer die nationale Einheit im Traume als nahe
vollendet geschaut hatten; aber die Erinnerung daran hat später denen, die den
Bau nach einem neuen Plane zu vollenden kamen, das Werk nicht wenig er¬
schwert. Wohl uns, daß sie festen Sinnes den eignen Weg gegange" sind,
ohne ans die vielen zu hören, die von der Ausführung der Frankfurter Pläne
allein ein gutes Ende hofften!

In einem Punkte dagegen, wo man es nicht erwartet hätte, entschloß sich
der große Baumeister der Jahre 186V, 1870 und 1871, den Entwurf des
Frankfurter Parlaments, wenn auch nicht unbesehen, zu benutzen: das all¬
gemeine Wahlrecht, das in Preußen längst ohne Sang und Klang in die
Grube gefahren war, wurde von den Toten auferweckt. Um diese Thatsache
zu verstehen, müssen wir uns einige Ereignisse vergegenwärtigen.

Nachdem Friedrich Wilhelm IV. die ihm von der Frankfurter Ver¬
sammlung angebotene Kaiserkrone ausgeschlagen hatte, ließ er durch seinen
Minister von Ncidowitz die am 19. März 1848 verheißene Vundcsrcform auf
einem andern Wege, durch Verhandlungen mit den Fürsten, versuchen. In
dem Verfassungsentwnrfe, den der Minister aufstellte, war zwar ein Parlament
vorgesehen, aber das Wahlrecht dazu nahm die in Preußen "oktrvhirten" Be¬
stimmungen zum Vorbild und hatte demgemäß mit den in Frankfurt gefaßten


Das allgemeine Wahlrecht

heit nur 16 Stimmen fehlten. Nun zeigt aber die Durchmusterung des Ab-
stnumungsverzeichnisses, daß sich unter den 239 Gegnern des Antrages mehr
als 16 befanden, von denen es gleichsam urkundlich feststeht, daß sie die Aus¬
dehnung des Wahlrechtes in der Form der endgiltigen Beschlüsse entschieden
mißbilligten. Die Abgeordneten von Keller, Schreiber, Dciters, Eisenmann,
Fischer, Kvhlparzer, Höslen, Wiese, Frisch, Renger, Prinzinger, Qnesar, Weiß,
Kagenbauer, Biedermann, Goder, Schreiner, Pfeiffer u. a. haben während der
Verhandlung Anträge gestellt oder unterstützt, die auf eine Einschränkung des
Wahlrechtes durch Zensus oder Grundbesitz hinzielten; trotzdem stimmten sie
mit der Mehrheit, welche den Antrag Hofmanns zu Falle brachte! Übrigens
scheint mir das Ergebnis der Abstimmung, das die Meinung der Mehrheit
nicht zum Ausdruck gelangen ließ, zum großen Teil durch eine ungeschickte
und verkehrte Fragestellung verschuldet worden zu sein. Aber wie dem auch
sein mag, jedenfalls läßt sich nicht an der Thatsache rütteln, daß die Frank¬
furter Nationalversammlung in ihrer Mehrheit den Grundsatz des unbe¬
schränkten Wahlrechtes uicht anerkannt hat, eine Thatsache, die deshalb umso
schwerer wiegt, weil jene Versammlung mit der Verwerfung dieses Grund¬
satzes zugleich die Grundlage, auf der sie selbst entstanden war, erschüttern
mußte.

Mit der Veröffentlichung der Reichsverfassung schien das allgemeine
Wahlrecht glücklich unter Dach gebracht. Aber das deutsche Staatsgebäude
stand nach wie vor in trümmerhafter Zerklüftung. Freilich war es ein großes
Glück, daß unzählige Männer die nationale Einheit im Traume als nahe
vollendet geschaut hatten; aber die Erinnerung daran hat später denen, die den
Bau nach einem neuen Plane zu vollenden kamen, das Werk nicht wenig er¬
schwert. Wohl uns, daß sie festen Sinnes den eignen Weg gegange» sind,
ohne ans die vielen zu hören, die von der Ausführung der Frankfurter Pläne
allein ein gutes Ende hofften!

In einem Punkte dagegen, wo man es nicht erwartet hätte, entschloß sich
der große Baumeister der Jahre 186V, 1870 und 1871, den Entwurf des
Frankfurter Parlaments, wenn auch nicht unbesehen, zu benutzen: das all¬
gemeine Wahlrecht, das in Preußen längst ohne Sang und Klang in die
Grube gefahren war, wurde von den Toten auferweckt. Um diese Thatsache
zu verstehen, müssen wir uns einige Ereignisse vergegenwärtigen.

Nachdem Friedrich Wilhelm IV. die ihm von der Frankfurter Ver¬
sammlung angebotene Kaiserkrone ausgeschlagen hatte, ließ er durch seinen
Minister von Ncidowitz die am 19. März 1848 verheißene Vundcsrcform auf
einem andern Wege, durch Verhandlungen mit den Fürsten, versuchen. In
dem Verfassungsentwnrfe, den der Minister aufstellte, war zwar ein Parlament
vorgesehen, aber das Wahlrecht dazu nahm die in Preußen „oktrvhirten" Be¬
stimmungen zum Vorbild und hatte demgemäß mit den in Frankfurt gefaßten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/215>, abgerufen am 25.08.2024.