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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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der Wirkungen begnügten. Es ist nicht widersinnig, wenn wir sagen, daß die
Kunst, je näher sie der Natur kommt, desto eher einsehen lernt, daß sie die
Natur niemals erreichen wird, weil die schöpferische Thätigkeit der einen mit
Mitteln arbeitet, die von der nachbildenden Thätigkeit der andern grund¬
verschieden sind. Albert Keller hat in der Darstellung seiner Mittagsmahl¬
zeit bei Abendbeleuchtung alle Mittel entfaltet, über die die Technik zur Zeit
verfügt, und er hat damit alle seine Vorgänger übertroffen. Aber much er
hat uns nicht überzeugen können, daß seine Kerzen wirklich brannten, und
damit ist, was wir wohl aufrecht erhalten dürfen, so lange man noch mit den
gegenwärtig bekannten Farben und Malmitteln arbeitet, der Wirklichkeitsdrang
der Gegenwart bis zu der Schranke gekommen, über die er nicht hinaus kaun.

Ein tieferes Verständnis sür die Grenzen der Malerei hat Joseph Block,
ein Schüler Piglheins, in seiner Charakterstudie "Der verlorene Sohn" ge¬
zeigt. Das Bild zeigt eine Unterredung zwischen Vater und Sohn in dem
vornehm ausgestatteten Arbeitszimmer des Vaters zur Abendzeit. Man sieht
die Lichtträger nicht; aber die beiden Köpfe der Figuren und ihre nächste
Umgebung spiegeln die Wirkung mit vollkommener Deutlichkeit wieder, ohne
daß der tiefe Eindruck der ernsten Szene dnrch eine technische Unzulänglichkeit
gestört wäre.

Mancher Leser, der gern erfahren möchte, von welchen Gedanken eigentlich
die moderne Kunst, soweit sie sich nach einer solchen internationalen Ausstellung
beurteilen läßt, vorzugsweise beherrscht wird, nimmt vielleicht Anstoß daran,
daß ich zu lauge bei der Charakteristik technischer Verfahren und Kunstgriffe
verweile. Aber die Fortschritte, oder richtiger gesagt die Bewegungen, die
in der Kunst unsrer Zeit wahrnehmbar sind, bestehen ausschließlich in der
Weiterentwicklung der Technik. Ungeduldige Sanguiniker, grundsätzliche Pessi¬
misten und philosophisch geschulte, besonnene Geister sind bisweilen in der
Meinung zusammengetroffen, ^daß jede Zeit und jedes Volk die Politik und
die Monarchen haben, die sie verdienen. Mag dieser Gedanke begründet sein
oder nicht -- man kann ihn mit gleichem Rechte anch auf die Kunst ausdehnen.
Die Kunst hat denselben Weg genommen, den alle übrigen Trüger, Förderungs¬
mittel und Erscheinungsformen der modernen Kultur eingeschlagen haben. Nach
der in der Geschichte beispiellosen Sammlung aller vaterländischen Kräfte, nach
der nationalen Erregung von 1870, die, wie wir längst eingesehen haben,
mehr in die Breite als in die Tiefe gegangen war, erwartete man besonders
von der Kunst und der Litteratur einen neuen Aufschwung, eine von der
schöpferischen Phantasie beflügelte Erhebung zu einem neuen Kunstideal. Aber
der naturwissenschaftliche, analytische Geist unsers Zeitalters war schon zu
sehr erstarkt, als daß ihn die Ereignisse von 1870 und 1871 in seiner weiteren
Entwicklung hätten aufhalten können. Dieser analytische Geist, der unablässig
sucht und versucht, der in atemloser Hast aufbaut und wieder zerstört, der die


der Wirkungen begnügten. Es ist nicht widersinnig, wenn wir sagen, daß die
Kunst, je näher sie der Natur kommt, desto eher einsehen lernt, daß sie die
Natur niemals erreichen wird, weil die schöpferische Thätigkeit der einen mit
Mitteln arbeitet, die von der nachbildenden Thätigkeit der andern grund¬
verschieden sind. Albert Keller hat in der Darstellung seiner Mittagsmahl¬
zeit bei Abendbeleuchtung alle Mittel entfaltet, über die die Technik zur Zeit
verfügt, und er hat damit alle seine Vorgänger übertroffen. Aber much er
hat uns nicht überzeugen können, daß seine Kerzen wirklich brannten, und
damit ist, was wir wohl aufrecht erhalten dürfen, so lange man noch mit den
gegenwärtig bekannten Farben und Malmitteln arbeitet, der Wirklichkeitsdrang
der Gegenwart bis zu der Schranke gekommen, über die er nicht hinaus kaun.

Ein tieferes Verständnis sür die Grenzen der Malerei hat Joseph Block,
ein Schüler Piglheins, in seiner Charakterstudie „Der verlorene Sohn" ge¬
zeigt. Das Bild zeigt eine Unterredung zwischen Vater und Sohn in dem
vornehm ausgestatteten Arbeitszimmer des Vaters zur Abendzeit. Man sieht
die Lichtträger nicht; aber die beiden Köpfe der Figuren und ihre nächste
Umgebung spiegeln die Wirkung mit vollkommener Deutlichkeit wieder, ohne
daß der tiefe Eindruck der ernsten Szene dnrch eine technische Unzulänglichkeit
gestört wäre.

Mancher Leser, der gern erfahren möchte, von welchen Gedanken eigentlich
die moderne Kunst, soweit sie sich nach einer solchen internationalen Ausstellung
beurteilen läßt, vorzugsweise beherrscht wird, nimmt vielleicht Anstoß daran,
daß ich zu lauge bei der Charakteristik technischer Verfahren und Kunstgriffe
verweile. Aber die Fortschritte, oder richtiger gesagt die Bewegungen, die
in der Kunst unsrer Zeit wahrnehmbar sind, bestehen ausschließlich in der
Weiterentwicklung der Technik. Ungeduldige Sanguiniker, grundsätzliche Pessi¬
misten und philosophisch geschulte, besonnene Geister sind bisweilen in der
Meinung zusammengetroffen, ^daß jede Zeit und jedes Volk die Politik und
die Monarchen haben, die sie verdienen. Mag dieser Gedanke begründet sein
oder nicht — man kann ihn mit gleichem Rechte anch auf die Kunst ausdehnen.
Die Kunst hat denselben Weg genommen, den alle übrigen Trüger, Förderungs¬
mittel und Erscheinungsformen der modernen Kultur eingeschlagen haben. Nach
der in der Geschichte beispiellosen Sammlung aller vaterländischen Kräfte, nach
der nationalen Erregung von 1870, die, wie wir längst eingesehen haben,
mehr in die Breite als in die Tiefe gegangen war, erwartete man besonders
von der Kunst und der Litteratur einen neuen Aufschwung, eine von der
schöpferischen Phantasie beflügelte Erhebung zu einem neuen Kunstideal. Aber
der naturwissenschaftliche, analytische Geist unsers Zeitalters war schon zu
sehr erstarkt, als daß ihn die Ereignisse von 1870 und 1871 in seiner weiteren
Entwicklung hätten aufhalten können. Dieser analytische Geist, der unablässig
sucht und versucht, der in atemloser Hast aufbaut und wieder zerstört, der die


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[0196] der Wirkungen begnügten. Es ist nicht widersinnig, wenn wir sagen, daß die Kunst, je näher sie der Natur kommt, desto eher einsehen lernt, daß sie die Natur niemals erreichen wird, weil die schöpferische Thätigkeit der einen mit Mitteln arbeitet, die von der nachbildenden Thätigkeit der andern grund¬ verschieden sind. Albert Keller hat in der Darstellung seiner Mittagsmahl¬ zeit bei Abendbeleuchtung alle Mittel entfaltet, über die die Technik zur Zeit verfügt, und er hat damit alle seine Vorgänger übertroffen. Aber much er hat uns nicht überzeugen können, daß seine Kerzen wirklich brannten, und damit ist, was wir wohl aufrecht erhalten dürfen, so lange man noch mit den gegenwärtig bekannten Farben und Malmitteln arbeitet, der Wirklichkeitsdrang der Gegenwart bis zu der Schranke gekommen, über die er nicht hinaus kaun. Ein tieferes Verständnis sür die Grenzen der Malerei hat Joseph Block, ein Schüler Piglheins, in seiner Charakterstudie „Der verlorene Sohn" ge¬ zeigt. Das Bild zeigt eine Unterredung zwischen Vater und Sohn in dem vornehm ausgestatteten Arbeitszimmer des Vaters zur Abendzeit. Man sieht die Lichtträger nicht; aber die beiden Köpfe der Figuren und ihre nächste Umgebung spiegeln die Wirkung mit vollkommener Deutlichkeit wieder, ohne daß der tiefe Eindruck der ernsten Szene dnrch eine technische Unzulänglichkeit gestört wäre. Mancher Leser, der gern erfahren möchte, von welchen Gedanken eigentlich die moderne Kunst, soweit sie sich nach einer solchen internationalen Ausstellung beurteilen läßt, vorzugsweise beherrscht wird, nimmt vielleicht Anstoß daran, daß ich zu lauge bei der Charakteristik technischer Verfahren und Kunstgriffe verweile. Aber die Fortschritte, oder richtiger gesagt die Bewegungen, die in der Kunst unsrer Zeit wahrnehmbar sind, bestehen ausschließlich in der Weiterentwicklung der Technik. Ungeduldige Sanguiniker, grundsätzliche Pessi¬ misten und philosophisch geschulte, besonnene Geister sind bisweilen in der Meinung zusammengetroffen, ^daß jede Zeit und jedes Volk die Politik und die Monarchen haben, die sie verdienen. Mag dieser Gedanke begründet sein oder nicht — man kann ihn mit gleichem Rechte anch auf die Kunst ausdehnen. Die Kunst hat denselben Weg genommen, den alle übrigen Trüger, Förderungs¬ mittel und Erscheinungsformen der modernen Kultur eingeschlagen haben. Nach der in der Geschichte beispiellosen Sammlung aller vaterländischen Kräfte, nach der nationalen Erregung von 1870, die, wie wir längst eingesehen haben, mehr in die Breite als in die Tiefe gegangen war, erwartete man besonders von der Kunst und der Litteratur einen neuen Aufschwung, eine von der schöpferischen Phantasie beflügelte Erhebung zu einem neuen Kunstideal. Aber der naturwissenschaftliche, analytische Geist unsers Zeitalters war schon zu sehr erstarkt, als daß ihn die Ereignisse von 1870 und 1871 in seiner weiteren Entwicklung hätten aufhalten können. Dieser analytische Geist, der unablässig sucht und versucht, der in atemloser Hast aufbaut und wieder zerstört, der die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/196>, abgerufen am 23.07.2024.